Estland hat eine Nationalblume (die Kornblume), einen Nationalvogel (die Rauchschwalbe), einen Nationalfisch (der Strömling), einen Nationalstein (Kalkstein), und sogar einen
National-Schmetterling (nach
Abstimmungsergebnissen aus dem Jahr 2017 soll es der Schwalbenschwanz sein - estnisch "
Pääsusaba"). Und nun endlich, nach fast fünf Jahren andauernder Diskussion, wurde auch über ein estnisches National-TIER entschieden - es soll der Wolf sein.
Es soll eine hitzige Diskussion gewesen sein: Vertreter/innen von 20 Naturschutz- und Kulturorganisationen saßen jahrelang zusammen, um sich über ein estnisches Nationaltier zu einigen. Schließlich entschied eine Mehrheit für den Wolf, als Symbol für unberührte Natur, der seit Hunderten und vielleicht Tausenden von Jahren schon die Wiesen und wälder beherrscht. "Der Wolf ist ein Indikator intakter Natur und spiegelt das estnische Naturverständnis wieder", so die Befürworter. (
Postimees)
Welches Tier wäre denn als Alternative in Frage gekommen? Storch, Bär und Elch reklamiert auch Litauen für sich (Storch als
Nationaltier, der Bär im Wappen Žemaitijas, der Elch als Symbol der
Kurischen Nehrung). Elche wären ja auch durch Skandinavien schon genug strapaziert. Nun ja, der Bär - es soll in Estland immerhin etwa 800 geben - ist vielleicht auch zu sehr bekannt in seiner Version als "russischer Bär" - da haben alle schönen Geschichten von
durch Estland wandernde Bären wohl keine Chance. Nein, weder Biber, Fuchs, Dachs oder Luchs wäre der Gegenvorschlag gewesen - wohl aber der Igel! Denn wer das Nationalepos "Kalevipoeg" gelesen hat, der kennt den Igel als klugen Ratgeber des großen Helden - ein wichtiges Argument! Schließlich soll der Igel, der Sage zu Folge, sein "dornenbesetztes Röckchen" nur deshalb tragen, weil Kalevipoeg es ihm zum Dank schenkte.
Am Ende jedoch siegte der Wolf - zumindest bei dieser Abstimmung unter Naturfreunden; vielleicht ist er nicht im Kalevipoeg nicht so positiv erwähnt, aber doch in sehr vielen estnischen Volkssagen präsent. 200 Wölfe in 20-25 Rudeln soll es derzeit in Estland geben. Dem
Estnischen Jagdverband zufolge werden jedes Jahr auch 100-150 Wölfe geschossen - mit Jagderlaubnis. "Gut organisiert sind winterliche Lappjagden auf Isegrim", schwärmt die Zeitschrift "
Jagen weltweit". Angesichts des potentiell weit verbreiteten Kundenkreises deutscher Jäger in Estland ist naheliegend, dass der Wolf in Deutschland niemals Nationaltier werden kann: "Einen ehrlichen Interessenvertreter hat der Wolf hierzulande nicht," bilanziert
DIE ZEIT die Diskussion in Deutschland.
Es gibt auch andere Anlässe, Estland als "Wolfsland" zu identifizieren: dem estnisch-lettischen Film mit Autor und Sänger Jaan Tätte über Natur in Estland gab der
NDR (und auch der estnische Regisseur Urmas Eero Liiv) schon 2006 den Titel: "Estland - Wölfe, Biber, Bären." Wer will, kann es ja als Prioritätenliste sehen.
Es gibt auch Stimmen, die mit geschichtlichen Fakten die Angst der Menschen vor Wölfen bearbeiten wollen. "Vor 140 Jahren haben Wölfe noch Menschen gefressen", schrieb der Wissenschaftsjournalist
Villu Pärt in einem
Blog der Universität Tartu. "Im 18. und 19. Jahrhundert war das Nahrungsangebot in Estland sehr viel geringer," schreibt er, und beruft sich einerseits auf die historischen Schriften von
Jakob Benjamin Fischer, einem deutschbaltischen Naturforscher Ende des 18. Jahrhunderts. Andererseits hat mit
Ilmar Rootsi auch ein junger estnischer Wissenschaftler die Beziehungen zwischen Mensch und Wolf untersucht. In früheren Zeiten seien unter anderem auch deshalb manchmal Kinder zu Opfern von Wölfen geworden, weil eben auch schon Kinder als Hirten eingesetzt waren, die Schafs- oder Kuhherden bewachen mussten, oft ganz allein. Die beiden letzte Todesfälle in Verbindung mit einem Wolf sollen sich in Estland 1853 und 1873 zugetragen haben: das Opfer im ersten Fall war fünf Jahre alt, im zweiten neun.
Nun ja, den Wolf in Estland als weit verbreitet anzusehen, kann jedenfalls nicht falsch sein. Es kann ja den Estinnen und Esten nicht "verordnet" werden, ihr nun "demokratisch gewähltes" Nationaltier auch lieben zu müssen. - Warum ausgerechnet der Schwalbenschwanz zu Estlands Schmetterling gevotet wurde, versuchten es die initiatoren so zu begründen: "Ganz so wie die Esten sich gerne auf den Berghängen versammeln, um
zusammen zu singen, versammeln sich auch die Schwalbenschwänze auf ihren
Balzflügen oft auf Bergspitzen." (
Looduskalender) Nur das es in Estland eben keine "Bergspitzen" gibt.
Bliebe eigentlich nur noch, vor sprachlichen Falltüren in Estland zu warnen: der "koer" ist der estnische Name für Hund - "hunt" jedoch ist: der Wolf. Trickreich ist, dass es auch einen "Hundikoer" gibt: den Wolfshund.