Samstag, Januar 31, 2009

Das digitale Estland

Allmählich verliere ich den Überblick, inwieweit die computerisierte Vernetzung Estlands voranschreitet, und was dies in der Zukunft für die Gesellschaft bedeutet. Sascha Lobo hat da auf seiner Blogseite einige Aspekte gesammelt. Zum Beispiel Schule:
Wie tief die gesellschaftlichen Auswirkungen einer guten digitalen Infrastruktur reichen kann, lässt sich an den estnischen Schulwebsites erahnen. Hausaufgaben erledigen estnische Kinder gemeinsam im Netz. Die Eltern sind angehalten, die Hausaufgaben online zu kontrollieren. Lehrer wiederum können einsehen, ob die Eltern die Hausaufgaben tatsächlich kontrolliert haben. Perfekt - so führt man nicht nur die ältere Generation ans Netz heran, sondern hat auch einen guten Anhaltspunkt, ob sich Eltern überhaupt um ihre Kinder kümmern - eine Art über Bande gespieltes sozialstaatliches Kinderschutzprogramm.

Für alle Skeptiker auch der Hinweis, dass der estnische Bürger ein Recht auf Einsicht aller gesammelten Daten seitens des Staates hat. Ob der die auch freigibt, kann ich nicht überprüfen.
Hier der lange Post von Sascha Lobo: Administration ohne Admin - Auf dem Weg in die Websiety

Montag, Januar 26, 2009

Als Sportmanager nach Estland

Aus dem Zeitungsbericht im "Gießener Anzeiger" läßt sich noch etwas fassungslose Verständnislosigkeit herauslesen: André Cornus, bisher als Basketballspieler des Regionalligisten VfB 1900 Gießen bekannt, zuletzt auch als Vereinsmanager und Sponsorenbetreuer tätig, geht nach Estland. Dort soll der 27-Jährige helfen, die "Baltic League" aufzubauen, also eine gemeinsame Sportliche Liga der drei baltischen Staaten.

Und wieder ein Anlaß, an der "virtuellen Legende" Estlands zu stricken: wenn man diesem Zeitungsbericht glauben kann, kam das estnische Angebot zustande, als Cornus im Internet "chattete" (sich an einem "sozialen Netzwerk" beteiligte, drückt es der Gießener Anzeiger zurückhaltend aus). Nun ja, Cornus ist noch Student, und mit den Fächern "Sportmanagement / Betriebswirtschaft" liegt er hier ja zumindest richtig. Erstaunlicherweise geht es nicht nur um Basketball: dort klappt es ja mit der "Baltic League" schon ganz gut, wird Cornus von seiner Heimatzeitung zitiert, und nach Eishockey soll nun wohl auch im Fußball Ähnliches aufzubauen versucht werden. Bisher ist dort nur eine englische Wettfirma als Sponsor eingestiegen, und das entspricht offenbar noch lange nicht dem, was an finanzieller Unterstützung erforderlich wäre.

Vielleicht also kein leichter Job für André Cornus, wo doch alle von Finanzkrise reden. Aber ist das nicht auch typisch für die estnische Herangehensweise? Machen, was woanders für unmöglich gehalten wird. Seiner Heimatzeitung wird André Cornus schon bald zumindest erzählen können, dass in Tallinn nicht "Estisch" gesprochen wird. Und wer da am Ende "Entwicklungshelfer" für wen gespielt haben wird, ist wohl auch noch nicht raus.

Kontaktadressen "Baltic League" Fußball-Liga

"Baltic League Hymne"

"Baltic League" Basketball

Wikia Baltic Eishockey Portal

Beitrag in "Eesti Päevaleht" zum Aufbau der "Baltic League"

Samstag, Januar 17, 2009

Marktwirtschaft nur besoffen zu ertragen?

Kunst provoziert
Das mediale Aufsehen der vergangenen Woche um das in Brüssel präsentierte Kunstwerk des Tschechen David Černý könnte auch f
ür die verschiedenen Eindrücke im schnellen Wandel der Zeiten stehen: hier sind immer noch Hammer und Sichel die Symbolik. Eine hämische Replik auf das sich so bewußt modernisierend gebende Estland? (nicht weniger ironisch kommt der südliche Nachbar Lettland scheinbar besser weg, indem der Länderumriss als bloßes Gebirgsrelief dargestellt wird). Eine "Humorprobe", schreibt das ART-MAGAZIN zurecht.

Auch andere Schlagzeilen dieser Woche spiegeln Themen des schnellen gesellschaftlichem Umbruchs. Was es doch ausmacht, wenn eigentlich bereits seit Jahren bekannte Fakten mal im Internet an bevorzugter Stelle neu gepostet werden, zeigt die Untersuchung von David Stuckler und Lawrence P. King von den Universitäten Yale und Cambridge. Die Studie wurde bereits 2007 veröffentlicht, erschien im "Social Science Research Network" im Januar 2008. Aber erst jetzt, als das Thema der Studie - "soziale Kosten der Massenprivatisierung" - in Zeiten der weltweiten Finanzkrise ausschlachtbar erscheint, greifen die Medien zu: Spiegel online, der österreichische Rundfunk ORF, der Bayrische Rundfunk, die WELT - um nur einige zu nennen. Auffällig: alle genau mit demselben Veröffentlichungsdatum, dem 15.Januar 2009. Alle genannten Beiträge berufen sich auf das englischsprachige Online-Fachblatt "The Lancenet", und siehe da: hier steht es tatsächlich mit dem gleichen Datum (15.1.09) als Veröffentlichung verzeichnet. Dazu eine weitere Veröffentlichung der Universität Oxford: oh Wunder, ebenfalls gleiches Datum!

Sch
nelle Arbeit
Arbeiten Journalisten wirklich so schnell? Innerhalb weniger Stunden aus dem "Netz" gefischt, überarbeitet, recherchiert und Quellen ge
prüft, eventuell die Studie möglichst noch in Langfassung gelesen und auf wissenschaftliche Qualität getestet?
Kein Wunder, die zentralen Aussagen sind hervorragend zu illustrieren. "Massenprivatisierung löst Sterbewelle aus" - so noch die harmlosesten Schlagzeilen. Die schlimmeren: "Marktwirtschaft brachte Männern den Tod" (angeblicher Grund: massiver Alkoholkonsum - so z.B. der Bayrische Rundfunk). In der im Intenet zugänglichen Zusammenfassung der Studie steht aber nur, dass die Untersuchung die Sterblichkeitsraten auf eine nationale Ebene hochgerechnet und als sozialer Indikator verwendet haben. In den Presseveröffentlichungen werden teilweise die Länder Russland, Estland, Lettland, Litauen und Kasachstan über einen Kamm geschoren, und dazu noch die drei Jahre 1991 bis 94 zusammengefasst (Spon).


Spätestens an dieser Stelle müssten doch eigentlich denjenigen, die sich einigermaßen mit den baltischen Staaten auskennen, die Ohren klingeln (oder die Augen beim Lesen brennen?). Fakt ist wohl, dass erstens ja die baltischen Staaten einen völlig anderen Weg gingen als Russland oder Kasachstan, dass aber 1994 die Erfolge der radikalen Hinwendung zur Marktwirtschaft ja gerade erst losgingen. Nicht umsonst verwenden Studien zur Wirtschaftsentwicklung gern 1994 als Referenzjahr - die neoliberalen Optimisten lassen die Zahlen davor einfach gerne völlig weg. Schlußfolgerung: eigentlich ist 1991 bis 1994 in den baltischen Staaten der Umbruch zu beobachten, die Schwierigkeit, sich von Mangel- und Mißwirtschaft wieder zu erholen, und Staatsbetriebe nicht nur zur Privatisierung freizugeben, sondern entweder lieber ganz zu schließen (wenn sie absolut unwirtschaftlich arbeiten), oder daraus zukunftfähige, effektive und moderne Betriebe zu machen. Dies alles war 1994 erst im Umbruch, aber noch längst nicht geschafft. Die eigenen Währungen wurden in dieser Zeit erst gerade wieder eingeführt, die stabilisierenden Wirkungen griffen aber erst nach einiger Zeit. Wer 1994 mit seiner Untersuchung einfach aufhört, der macht denselben Fehler wie die Wirtschaftsoptimisten, die von der Zeit vor 1994 nichts mehr wissen wollen.

Sind Sie auch betroffen?
Was lernen wir daraus, wenn wir noch nicht am Alkohol-Saufen gestorben sind? (Alkoholismus IST ein Problem, das mal ganz nebenbei bemerkt). Aber plötzliche Schlagzeilen mit überraschend drastischen Inhalten garantieren noch keine Seriosität. Etwas variiert wird das Thema tatsächlich von der englischen BBC. Der dortige Beitrag - zum gleichen Thema, vom selben Tag natürlich - differenziert überraschend die baltischen Staaten, und zählt Estland in eine Gruppe zusammen mit Albanien, Azerbaidschan, Turkmenistan, Polen, Belarus, Kroatien, Ungarn, Macedonien, Slowakei, Slowenien, Tajikistan, Bulgarien und Uzbekistan: denjenigen, die es angeblich besser gemacht haben. Also, vergleichen Sie selbst: in diesen Ländern müsste dann also auch weniger Alkohol getrunken werden, oder?

Im BBC-Beitrag ist dann plötzlich auch von einem Untersuchungszeitraum zwischen 1989 und 2002 die Rede, allerdings weitgehend bezogen auf Russland. Sollte dieses stimmen, dann wäre aber stark zu bezweifeln, dass hier wirklich "Privatisierung" untersucht worden ist - oder wer wollte etwa behaupten, Russland sei heute marktwirtschaftlich umgestaltet?
Interessant ist hier das interaktive Element von BBC-online: in einem Fragebogen an die Leser kann der Beitrag kommentiert werden. "Leben Sie selbst in einem früher kommunistisch geprägten Land?" fragt die BBC die vorbeizappenden Leser. "Dann schreiben Sie uns Ihre Kommentare. Waren Sie oder Ihre Familie betroffen vom Zusammenbruch der Sowjetunion oder schneller Firmen-Privatisierung?"

Also, nur zu, liebe Sowjet-Romantiker und Stammtisch-Wissenschaftler, hier ist die Chance, vom Alkohol loszukommen!

Nachtrag:
Es gibt auch Beiträge, die sich mit den Studien von David Stuckler auch unabhängig vom 15.Januar 2009 beschäftigt haben.
Beispiele: der Beitrag bei Homosoziologicus vom August 2008 (Dort werden auch Zweifel an den Ergebnissen der Studie erwähnt: "
wurde von den Autoren die Tatsache ausser Acht gelassen, dass die Implementierung von Krediten mit ökonomisch schwierigen Zeiten zusammenfiel und diese selbst der Grund für den Rückgang der Ausgaben gewesen sein könnten"), oder
Pressetext Austria vom Februar 2008, welche eine andere Studie von Stuckler vorstellt ("Bankenkrisen gefährden die Gesundheit"). Wichtige Schlußfolgerung, die sicherlich allgemeine Gültigkeit hat - auch für das nachträgliche Instrumentalisieren von wissenschaftlichen Studien: "
Verhindern von Hysterie und Panik!"

Freitag, Januar 16, 2009

Ein Blick nach Lettland


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Originally uploaded by Pēteris Nukša
Es gab jüngstens ähnliche Bilder in Riga wie in Tallinn im April 2007 nach den Ausschreitungen. Einige Zyniker meinten, Lettland folge in allem 2 Jahre dem nördlichen Nachbarland hinterher.
Über die Ursachen der Demonstrationen mehr auf dem Lettland-Blog.

Montag, Januar 12, 2009

Tallinn - nach den Bronzenen Nächten

Anderthalb Jahre sind vergangen und ein Gerichtsverfahren. Am Ende ging es um den Abschluss eines Verfahrens: Vier Angeklagte, die der Organisierung der Unruhen im April 2007 beschuldigt wurden:
Dmitri Klenski, Mark Sirõk, Maksim Reva, Dmitri Linter.

Zwei englischsprachige Stellungnahmen greife ich aus der Berichterstattung heraus. Wieder einmal die Blogger Flasher_T und Giustino:

Flasher: Der Freispruch bedeutet, es wird keine Märtyrer geben.

Giustino:
"I am also pleased that this event/circumstance/situation, barring any appeals, has run its course. Sirõk can go back to school; Klenski can go back on ETV to crow in his overdone Estonian; and Linter and Reva can go back to doing whatever it is they did before. Your 15 minutes are up for now fellas, but don't worry, if Deep Purple can still get gigs in Tallinn, so can you!"


Die Kommentare zu seinem Post zeigen weitere Perspektiven auf.

Eine andere Sichtweise bei Gedanken über Estland, ein Blog auf unserer Blogroll.