Donnerstag, August 24, 2023

Gast und Freundschaft

Nein, das hat Estland nicht verdient. Sicher, es könnte noch ein paar mehr Touristen geben, noch immer ist das Niveau von 2019 nicht wieder erreicht, so meldete es auch zuletzt das Estnische Amt für Statistik. Aber zumindest die Hauptstadt Tallinn hat ja auch schon einiges von denjenigen touristischen Trends mitbekommen, die sich nicht unbedingt positiv auswirken auf die Menschen, die dort wohnen und leben, wo es passiert. 

Zuerst kam der Alkoholtourismus aus Finnland. Dann kamen die ausufernden "Stag-Parties" - man könnte es auch "Junggesellen-Sauftouren" nennen. Inzwischen offenbar ein festes Segment mit klarem Label bei viel Bier, Stripper-Yachten, Nachtclubs und eigener Webseite. Wem das nicht ausreicht, der kann auch eine "VIP-Party" (Very Important Party) machen mit Paintball, Crashcar-Rennen und Waffenübungen als "ultimate anger management" (so verspricht die Werbung). Aktivitäten für "echte Männer" eben.

Es soll ja Städte geben, wo Hotels und Restaurants eindeutige Hinweise (no stag!) bereits an der Eingangstür kleben haben. - Andere Aktivitäten, von dem, was sich so Tourismus nennt, beeinträchtigen eher die Natur. Vielleicht auch die Menschen, die auf dem Dorf oder in Gegenden mit wenig menschlicher Besiedlung leben. Da stellte doch neulich ein Beitrag in der österreichischen Zeitung "Der Standard" fest, dass ein Aufenthalt in Norwegen selbst für "Wildcamper" nicht mehr "einsam" genannt werden könne. Etwas ironisch heißt es dort, auch an "jungfräulichen Gletschern" und "unbeleckten Felskanzeln" würden täglich "nur wenige Tausende Menschen" ihre Selfies machen. Norwegen sei eben "Sehnsuchtsort der Wildcamper". Da sei doch "das Baltikum" eine Alternative, so die These im "Standard".

Gut, wir kennen, was Skandinavien angeht, das dortige "Allemansrätt" (Jedermannsrecht). Es erlaubt vor allem, fast überall für eine Nacht zu bleiben - unter der Maßgabe, keine Schäden anzurichten und nichts Übles zu hinterlassen. Gibt es in Estland eigentlich Ähnliches? Aber ja, meint "Nordisch-Info", in Estland werde es "igamehe õigus" genannt, und niemand dürfe der Zutritt zur Küste, zum Wald oder zu Seen und Flüssen verwehrt werden. Wer übernachten will, möge höflich den Besitzer fragen, heißt es hier. Abgesehen davon, dass es sicher nicht leicht wird, immer "Besitzer" zu finden, empfehlen aber Portale wie "Caravanya" Ähnliches; "Trekkingstrails" bietet sogar eine europaweite Übersichtskarte und verweist auf die "Guidelines for nature tourists". Viele Portale, so zum Beispiel "Camperstyle" informieren allerdings sehr ungenau und "deutschlandtypisch" einfach über "Baltikum", weisen also nicht einmal darauf hin, dass es sich hier um drei unterschiedliche Länder mit unterschiedlichen Gesetzgebungen geht. Hier bleibt es bei der schlichten Empfehlung "Dass du dich dabei an die üblichen Benimmregeln hältst und dich unauffällig und ruhig verhältst, sollte selbstverständlich sein". 

So entsteht dann manchmal eine Art "Heimlichtuerei" - wer sich eher "unauffällig" verhalten will, kommt in der Praxis sicher auch in wenig eindeutige Situationen. Angekommen auf einer schönen Waldwiese, einem einsamen Küstenstreifen einer estnischen Insel, oder an einem schönen Aussichtsplatz - wer möchte da schon laut nach einem "Besitzer" rufen? "Estland-typisch" steht dann da manchmal sogar ein Schild mit einer Telefonnummer, die man anrufen möge. Aber wie viele machen das? 

"Standard"-Autor Sascha Aumüller hat uns Leserinnen und Lesern eben auch nicht verraten, warum auch in Norwegen inzwischen "Wildcamper" aus Deutschland nicht mehr ganz so beliebt sind. Gut. Norwegerinnen und Norweger bemühen sich jeden Sommer aufs Neue, ausgesprochen freundlich mit allen Gästen umzugehen (Norweger im November oder März zu treffen, kann da manchmal sehr lehrreich sein!). Und manche Schlagzeilen stehen dann eben auch nur in der norwegischen Heimatpresse. Dass zum Beispiel über Zufahrtsbeschränkungen zu norwegischen Inseln diskutiert wird, da im Sommer regelmäßig die ganze Inselküste rundrum von Touristen zugeparkt wird. Gerne von Wohnmobilen. 

Und ebenso ist in Norwegen bekannt, dass eben Deutsche nicht nur gerne in Wohnmobilen anreisen, sondern dort auch vorzugsweise ein riesiger Kühlschrank enthalten ist. Da gibt es inzwischen offenbar nicht wenige "Spezialisten", die in Norwegen massenweise Lachs aufkaufen, diesen im eigenen Kühlschrank oder Gefriertruhe lagern, und ihn dann zu Hause in Deutschland weiterverkaufen. Motto: billig leben im Gastland, möglichst noch ein gutes Geschäft machen dabei (das funktioniert übrigens auch bei einigen anderen Fischarten noch). 

Für Estland gibt es da eher noch ein anderes Problem. Weiterhin beliebt ist ja die Etikettierung der Reiseziele als "Baltikum". Zusätzlich auch noch in enge Zeitrahmen gepresst, organisieren viele Veranstalter die Reisegruppen so, dass sie ein Bus von Ort zu Ort bringt. Manchmal wird dazwischen dann noch ein paar Kilometerchen Rad gefahren, gewandert oder eine Sehenswürdigkeit erkundet. Für die Busse müssen jedenfalls, manchmal auch spontan, Standorte gesucht werden, Parkplätze an möglichst attraktiven Orten, wo dann die Reisenden Anlaufstellen haben um entweder dort wieder in den Bus einzusteigen, oder wo oft auch noch eine ausgiebige Pause einer großen Gruppe stattfindet, manchmal mit Fleisch und Würstchen frisch vom Grill. Ich habe es selbst erlebt, dass dann ein kleines Schild "privat" solche zwar kurzen, aber in schöner Regelmäßigkeit immer wieder stattfindenen "Partys" nicht verhindert. Nein, Herr Aumüller, es wäre wirklich nicht schön, wenn sich solche Gewohnheiten noch weiter auf die schönsten Orte Estland ergießen würden. Nun ja, vielleicht bauen die Est/innen ja auch noch ein paar Lachsfarmen?

Samstag, August 05, 2023

Estnische Erdbeeren

Wachsen in Estland Erdbeeren? Die Frage ist zumindest gegenüber denjenigen verständlich, die glauben, in den einsamen Gegenden des Landes würden auch Rentiere herumlaufen. Nein, ganz so nördlich ist Estland dann doch nicht gelegen - auch wenn sich die Bewohnerinnen und Bewohner gerne selbst lieber als "nordisch" denn als "baltisch" bezeichnen. 

"Maasikas" ist zwar auch der Name eines estnischen Diplomaten, eines Nachtclubs in Tartu, eines Kindergartens in Tallinn und auch einer estnischen Glaskünstlerin - und in Viljandi gibt es Erdbeeren aus Beton. Aber zunächst einmal werden Kundinnen und Kunden daran denken, "Maasikas" entweder selbst im eigenen Garten anbauen oder auf den Wochenmärkten kaufen. Unter "Eesti Maasikas" finden wir dann auch entsprechende Angebote: "Polka", "Sonata" oder "Elianny" heißen hier zum Beispiel die angebotenen Sorten, so wusste es sicher auch der 2019 verstorbene Unternehmer Valdis Kaskema, bis dahin einer der größten Erdbeerbauern in Estland, dessen Firma „Kindel Käsi“ in der Gemeinde Nõo im Kreis Tartu auf 20 Hektar Erdbeeren anbaute. Nach seinem tragischen Unfalltod erzählte sein Bruder Varmo in der estnischen Presse: "Er hat so schöne Erdbeeren angebaut, dass die Esten manchmal gar nicht glaubten, dass so etwas auch im eigenen Landes wachsen kann." (Postimees)

Genau an diesem Punkt der Diskussion macht sich nun das estnische "Zentrum für landwirtschaftliche Forschung" (Maaelu Teadmuskeskus METK) weitere Gedanken, eine Einrichtung die am 1. Januar 2023 frisch ihre Arbeit aufgenommen hat und nun die Projekte des "Estnischen Pflanzenzüchtungsinstituts" und des "Agrarforschungszentrums" zusammenführen soll. Auch von um ein Vielfaches gestiegenen Preisen war in der estnischen Presse immer wieder zu lesen (ERR)

Aber obwohl es auch in Estland viele aus anderen Ländern importierte Erdbeeren gibt, bevorzugen doch estnische Verbraucherinnen und Verbraucher gerne die regionalen Produkte aus dem eigenen Land - wenn man sich nicht die Mühe machen will die schmackhaften Walderdbeeren zu suchen. Nun sei es aber schon vorgekommen, so berichtet Piret van der Sman, stellvertretende Laborleiterin bei METK, dass Händler polnische Erdbeeren als einheimische ausgegeben hätten, um dann höhere Preise verlangen zu können. Allerdings seien solche Betrügereien bisher nur schwer nachzuweisen gewesen. (ERR)

Nun aber gibt es eine Datenbank für estnische Erdbeeren. Vielleicht könnte man da in E-Estonia auch an digitalisierte Erdbeeren denken - nein, genauer gesagt ist es eine "Referenzdatenbank für Erdbeeren estnischen Ursprungs", so das Projekt des METK; realisiert wird es in Zusammenarbeit mit der deutschen "Agroisolab GmbH".aus Jülich, eine in der Branche offenbar erfahrene und anerkannte Firma. Dort wird das Verfahren dann "geografische Herkunftsüberprüfung" genannt. 

"Der Ursprung der estnischen Erdbeere kann nun bestätigt werden" verkündet das METK nun im Sommer 23 in einer Pressemeldung. Projektleiterin Liina Kruus sagt zu, jetzt estnische Erdbeeren eindeutig identifizieren zu können. Wir lassen unsere Phantasie wieder etwas schweifen und stellen uns vor, dass nun Estinnen und Esten mit einer "Erdbeeren-App" auf dem Handy zum Markt gehen. Das einzige, was in Estland NICHT ditigal erledigt werden kann, ist ja angeblich "heiraten, Scheidung und Immobilienkauf", so ein beliebter Spruch. Wir lernen dazu: auch zum Erdbeeren testen muss zunächst das zuständige Amt angefragt werden (ob sie auch spontan eingeschickte oder vorbei gebrachte Warenproben akzeptieren, ist der Pressemeldung nicht eindeutig zu entnehmen, auch über eine Kostenübernahme ist nichts gesagt).

Jedenfalls enthalte die estnsiche Referenzdatenbank bereits Daten von insgesamt 21 estnischen, 11 lettischen und sieben litauischen Produzenten, so heißt es. Ergänzt worden sei das von Erdbeerproben, die von Beamten der Landwirtschafts- und Lebensmittelbehörde aus Einzelhandelsverkäufen in verschiedenen Regionen Estlands entnommen wurden. Liebe Estinnen und Esten! Sollte also jemand auf die Idee kommen, Erdbeeren aus dem eigenen Garten auf dem Markt verkaufen zu wollen, da gilt wohl auch: please contact your Databank!