Mittwoch, Januar 30, 2008

Ein Foto aus dem Jahr 1918

Im Ersten Weltkrieg stießen in Osteuropa die Armeen Russlands mit denen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns aufeinander. Bis 1917. Die Revolution in Russland folgte. Bis dahin hatten die Deutschen schon Lettland erreicht, im Kriegsjahr 1918 Estland und Finnland.
In unserer Blogroll sind zwei Links auf WWI-Fotos, die wir online zugänglich gemacht haben. Im zweiten Teil dieser WWI Fotoserie ist eine Szene Nahe Helsinki festgehalten. Das Foto hat einige bemerkenswerte Kommentare hervorgerufen, die den Ort der Aufnahme betreffen. Nur auf das Bild klicken und man landet bei der neuesten Entdeckung von Timonoko.

Montag, Januar 28, 2008

Estnisches

Nicht mehr nur als Land des E-Voting und der verbreiteten Internetnutzung findet Estland in der deutschen Presse Erwähnung. Hier einige Beispiele der vergangenen Woche.

"Anna-Lena kommt von Estland nicht mehr los", schrieb das "Wiesbadener Tagblatt" am vergangenen Samstag. 11 Monate lang leistete eine 21-jährige Chemiestudentin aus dem Rheingau in einer estnischen Einrichtung für geistig Behinderte Freiwilligendienst, und die heimische Presse berichtet darüber. "Wie herzlich die Menschen zu mir waren, auch wenn ich mich nicht verständigen konnte, wie selbstverständlich ich in ihre Gemeinschaft aufgenommen wurde, das werde ich nie vergessen," so zitiert sie die Presse. Jedenfalls wurden in den vergangenen Monaten über Erfahrungen in Estland viele Berichte geschrieben - von den Printmedien bis zu persönlichen Blogs.

In Estland verdienen Frauen wenig - eine erstaunliche Feststellung? Mehrere Medien berichteten über entsprechende Studien und einen Bericht der EU-Kommission. Danach soll der Arbeitslohn in Estland für Frauen um 25% niedriger ausfallen als für Männer. Der EU-weite Schnitt liegt bei 15%, für Deutschland werden 22% ausgewiesen. Ebenfalls interessant: EU-weit sind 32,6% aller Managerstellen mit Frauen besetzt, in Deutschland sind es 27,4%. Hier liegen Estlands südliche Nachbarn Lettland und Litauen vorn: 40% weibliche Manager!

Allergieresistenz ist der Gegenstand von Forschungen schwedischer Wissenschaftler. Menschen in Estland haben sie, bei Menschen in Schweden steigen die Allergien jedoch immer weiter. Warum? Über entsprechenden Fragestellungen berichtet der "Technology Review" bei HEISE.DE. Vorläufige Hypothese: Allergien steigen bei einem weitgehend sterilen Lebensstil an. Um eines braucht man sich also offenbar in Estland keine Sorgen zu machen: um ein funktionierendes Immunsystem.

Was sonst noch? Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen. Estland hat eine Botschaft in der virtuellen Welt "Second Life" eröffnet. Das entspricht dann doch wieder dem Klischee - oder dem virtuellen Wunschbild, wo doch auch schon manches andere garstige Filmchen im Internet zu bewundern ist, wo Estland nicht so gut wegkommt. Das können die amtlichen estnischen Stellen nicht so stehen lassen. Und nicht nur das: der reale Botschafter Margus Laidre hielt in der virtuellen Botschaft eine reale Vorlesung. Und teilte sie danach per Presseerklärung der realen Jounalistenwelt mit - falls jemand im "zweiten Leben" keine Aktien drin hat. Thema des Vortrags: "Erinnerung an die Zukunft". An Erich von Däniken und seine landenden Marsmännchen dachte er dabei wohl nicht - aber vielleicht fühlen sich die Esten außerhalb Estland schon manchmal ein wenig zu (virtuell) abgedreht. Ein Satz aus Laidres Vortrag:
"For small countries it is crucial to be visible in the everchanging world." Nur virtuell nicht mit real sichtbar verwechseln, das könnte vielleicht helfen - so "everchangable" die Welt in diesem klimagewärmten Januar 2008 auch ist.

Infos:
Bericht zu berufstätigen Frauen bei AFP

Bericht zu berufstätigen Frauen bei FOCUS-online

Bericht Wiesbadener Tagblatt

Bericht über Allergieforschung in Schweden

Margus Laidres Vortrag bei "Second Life" (offizieller Text)

Donnerstag, Januar 24, 2008

Winter



Originally uploaded by E v a
Eva ist eine der vielen Mitglieder bei Flickr aus Estland. Einige fordern die Kritik an ihren Werken heraus. Dazu gibt es verschiedene Gruppen in diesem Foto-Programm. Ihr jüngstes Werk:

Sonntag, Januar 20, 2008

Nachspiel "Cyberwar"

Es gibt Neues: Die "Angriffe" auf estnische Webseiten haben ein Nachspiel. Diesmal war das Webportal Delfi dran. Irgendwer versuchte diesen Informationsdienst in die Knie zu zwingen.

Der Grund, siehe vorletzter Post. Der Beginn der Gerichtsverhandlungen über die Unruhen und deren (von der Staatsanwaltschaft vermuteten) Planung im April letzten Jahres in Tallinn.

With trials beginning, another Estonia cyberattack

The attack, which ended Tuesday, was minimally disruptive, according to Hillar Aarelaid, manager of Estonia's Computer Emergency Response Team (CERT). He described it as an "ordinary DDoS" attack in which the news agency's servers were flooded with Internet traffic, in an attempt to crash them.


BBC News zu den Gerichtsverhandlungen:
Estonia trial of Estonia activists

Und wie gewohnt, es wird nicht sauber recherchiert bei den Zahlen, diesmal BBC:

More than a quarter of Estonia's 1.3 million people are ethnically Russian and speak Russian. However, half of them do not have Estonian citizenship.


Bitte dann auch erwähnen, dass ein großer Anteil die russische Staatsbürgerschaft besitzt.

Arbeitsmigration

Der Blog IVAN vs. JAAN hat ein paar Zahlen zu Wanderungsbewegungen aus und nach Estland zusammen gestellt.

Estonia is turning the tide in workforce battle

Auszug: Ein Analyst der Hansapank hatte die Höhe der lokalen Einkommen angegeben, mit der Estland wieder ein Rückwandererland werden könnte.
11-12 000 Euro sollte das Einkommen demnach jährlich betragen. Was im Durchschnitt 2007 erreicht wurde.
Neu für mich ist die geschätzte Zahl der EU- Bürger, die sich in Estland niedergelassen haben. Etwa 10 000, so die genannte Zahl, bei 1,4 Millionen Einwohnern. Das liegt bei einem Anteil von 0,7% an der Gesamtbevölkerung.

Im Post wird das russische Förderungsprogramm zur "Rückwanderung" erwähnt. Ich halte mich an die Zahlen:
Despite continuous streams of accusations and allegations of bad treatment of local Russians, Estonia managed to produce just 19 expected returnees by middle of 2007 (Lenta.ru) with other 21 persons expressing some interest in the move.

Daraus ist abzulesen, dass zumindest die ökonomische Anziehungskraft Estlands so groß ist, dass eine Auswanderung für diesen Bevölkerungsteil nicht erstrebenswert ist. Der Begriff Rückwanderung (returnee) würde auch nicht für alle zutreffen, besonders nicht für die Jungen.

Dienstag, Januar 15, 2008

Zwei Nachrichten



Estland wird wahrgenommen, selbst im Fernen Osten. Heute erschien in einer nationalen koreanischen Tageszeitung, der Dong-a Ilbo, ein ausführlicher Bericht zu Estland, Lettland und Litauen. Das Ganze innerhalb einer Reihe über die Veränderungen in Westeuropa seit 20 Jahren. Die Auftakt-Reportage galt Polen. Dreimal kann man raten, was im Vordergrund steht: Die Wirtschaft. Estland wird hervorgehoben wegen der Vorreiterolle bei der Niedrigbesteuerung (flat tax) und als Land mit den geringsten Beschränkungen fürs Unternehmertum.
Die Begründung der Flat Tax vertrat einmal der ehemalige Ministerpräsident Mart Laar in Osnabrück. Die hohen Einkommen würden genauso besteuert wie die niedrigen. Ungerecht? Er stellte fest, dass dadurch dem Staat mehr Gelder zufließen als durch eine andere Besteuerung. Denn die Großen fänden Wege die Abgaben zu umgehen. Am Ende sei mehr Geld in die Staatskasse geflossen bei geringen Steuern und der Steuerbetrug verringere sich ebenfalls.

Eine andere Nachricht wiegt dagegen mehr in Osteuropa. Zumindest in Russland. Es geht um die Nachwehen der "Bronzenächte" im April 2007. Vier Beschuldigte stehen unter Anklage, die Unruhen angestiftet zu haben.
In einer Kurzmitteilung der österreichische ORF:
In der estnischen Hauptstadt Tallinn beginnt heute der Prozess gegen die mutmaßlichen Organisatoren der schweren Unruhen in Estland vom vergangenen Frühjahr.
Die Staatsanwaltschaft wirft vier ethnischen Russen vor, die Unruhen rund um die Demontage eines Kriegerdenkmals aus der Sowjetzeit bereits ein Jahr davor geplant zu haben.
Kritische Beobachter befürchten einen politischen Prozess, der über die Grenzen Estlands hinausreichende Folgen haben könnte.


Details und Hintergründe finden sich in Wikipedia: Echoes of the Bronze Night. Informationen über die Folgen, z.B. die Verhafteten. Und die Seite wird ständig umgeschrieben, da die Kontroversen über die Unruhen und ihrer Deutung noch nicht beendet sind. Jedenfalls nicht in Wikipedia.

Donnerstag, Januar 10, 2008

Wohnen im Baltikum - ein kurzer Einblick

Was zeichnet das Wohnen in Deutschland aus? Vielleicht in der Mehrheit die Wohnzimmer-Schrankwand mit der gegenüberliegenden Sofa-Garnitur und Tisch. Aber sagt das schon alles aus? Es gibt so viele individuelle Varianten.
In welche Richtung geht die Wohnkultur in Estland und Lettland, Richtung Skandinavien oder eher mitteleuropäisch? Oder bildet sich vielleicht sogar ein eigener Stil aus?
Vom Holzangebot her liegt skandinavisch näher durch die helle Kiefer. Viele wohnen allerdings in Apartmentbauten, generell eine Wohnform, die ebenso die eigensinnigen Isländer in Reykjavik kennen oder die Norweger in Trondheim. Hier ein Beispiel aus den 80ern. Obwohl anzunehmen ist, dass der damalige Mieter inzwischen der Besitzer eines großen Einfamilienhauses ist. Als Ingenieur in der Ölbranche ist das mit Sicherheit anzunehmen.
Apartment in Trondheim
Zurück ins Baltikum, Städte wie Narva sind von solchen Apartment-Vorstädten geprägt, oder sie stehen vereinzelt wie hier in Valka/Valga:
Apartment building in Valka
In vielen Fällen teilen sich Familien mit zwei Kindern das Schlafzimmer, das gleichzeitig als Kinderzimmer dient und wo die Schul-Hausaufgaben erledigt werden. Kein Wunder, dass die Kleinen lieber draußen spielen oder zu den Nachbarn gehen. Die Familie ist nicht arm, aber sie wollen noch kein Geld in eine größere Wohnung stecken. Vielleicht klug, da einige von einer Immobilienblase sprechen, überteuerten Preisen auf dem Häusermarkt.
Kaspar's apartment
Das Wohnzimmer ist multifunktional wegen der Enge. Eine Arbeitsecke eingerichtet neben dem Fernseher. Gegenüber ,nicht sichtbar, die Sitzgarnitur, die in ein Bett verwandelt werden kann.
Man at work
In Tallinn kommen noch Altbauviertel hinzu, nicht gemeint ist der Mittelalterkern, sondern die rund hundert Jahre alten Holzhäuser. Vor einigen Tagen sind wieder etliche abgebrannt in der estnischen Hauptstadt. Andere werden aufwendig renoviert. Die Eigentümlichkeit dieser Häuser sind oft die Brandschutzmauern aus Stein an den Seiten.
Tallinn Brandmauern
Lässt man die Steine unverputzt, so hat meinen einen schönen Gestaltungseffekt für die Innenräume wie hier in Tartu:
Tartu
Viele Esten renovieren in Eigenleistung und das Ergebnis sind häufig neue Holzböden, oder freigelegte Mauern.
In einem Haus mit vielleicht mittelalterlichen Aussenmauern, auch in Tartu, hat der Eigentümer ebenfalls die Wände unverputzt gelassen:
Tartu Steinmauer Andere hatten das Haus vorher schon als Abrisskandidat gesehen und fürchteten ein Investitionsgrab.
Diese Bedenken brauchen Hausbauer nicht, sie können sich mit den Plänen der Architekten beschäftigen. Der neue Mittelstand lebt dann in etwa so (siehe unten) in den neuen Vorstadtsiedlungen:
Estonian house
Und äußerlich können sie sehr individuell gestaltet sein, wie hier ausserhalb Rigas. Der Eigentümer hatte schon in den 90ern eine Vorahnung und erstand das Bauland günstig. Heute wäre es selbst für einen leitenden Angestellten wie ihn unbezahlbar.
Out of Riga
Gemeinsamkeit des estnischen wie lettischen Einfamilienhauses, eine Sauna ist inklusiver Bestandteil.

Sonntag, Januar 06, 2008

Ein Zeitungs-Archiv

Zugegeben, ich bin ein Zeitungsnarr oder englischsprachig genannt ein Geek. Schon als Teenager hat mich die Wochenzeitung DIE ZEIT magisch angezogen. Vielleicht wegen des Formats oder der Länge der Artikel. Das Lesen wurde mit rituellen Handlungen vollzogen. Zum Beispiel das Benutzen eines Atlanten nebenbei, wenn es um andere Länder ging. Die ersten Jahre habe ich auch nicht alles verstanden,was geschrieben wurde. Aber man lernt dazu.
1988 hatte ich zwar eine Ahnung, was Estland bedeutet, aber über die aktuellen Lebensverhältnisse, das Leben dort, hatte ich keinen blassen Schimmer. Im Oktober 1988 erschien dann : "Drei verratene Völker" von Karl-Heinz Janßen. Eigentlich hatte ich die drei Staaten abgeschrieben, die Sowjetisierung schien unaufhaltsam voranzuschreiten. Seit diesem Artikel am 7. Oktober 1988 war alles anders. Ab da stand fest, dass ich möglichst bald dorthin muss,was ich aber erst drei Jahre später tatsächlich geschafft habe.

Warum das Thema DIE ZEIT? Ganz einfach, sie haben das Archiv bis zu den Anfängen 1946 zur Internetrecherche freigegeben. Die frühen Artikel über Estland sind noch nicht richtig eingegeben, sie haben viele Wortfehler. Aber die Artikel lassen manche Dinge wieder deutlicher hervortreten. Zum Beispiel die Konsequenzen der Nichtanerkennung der sowjetischen Einverleibung der drei baltischen Staaten. Denn die Konsulate im UK und USA arbeiteten weiter. Wer Este war und Flüchtling, ließ sich dort gültige Papiere ausstellen, die weiterhin als Reisedokumente anerkannt waren. Im Westen.

Diplomaten von denen niemand mehr spricht 1968
Aber obwohl die baltischen Exzellenzen keine Steuern zahlen, müssen sie jeden Penny mehrmals umdrehen, ehe sie ihn ausgeben. In der Bank von England hegen wohl mehrere Millionen Pfund, die seinerzeit von Litauen, Lettland und Estland hier deponiert wurden; aber da die Rechtslage ungeklärt ist, können diese Fonds nicht angerührt werden. Ein neuer Plan, die Gelder zur Entschädigung britischer Staatsangehöriger heranzuziehen, die Vermögenswerte in der baltischen Staaten verloren haben, stößt auf heftigen Widerstand. Die drei Missionen werden,abgesehen von gewissen privaten Geldzuwendungen, von den ihnen entsprechenden Gesandtschaften in Washington finanziert, die sich solch« Großzügigkeit leisten können. Die amerikanische Regierung hält nämlich, zum Unterschied von der britischen, an der Fiktion fest, daß die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens nicht nur de 'jure sondern auch de facto weiterbesteht, und zeigt sich daher in der Behandlung der baltischen Fonds weitaus entgegenkommender als die Engländer.



Oder noch früher 1949:
Es begann vor zehn Jahren: Nachruf auf Estland, Lettland und Litauen
Ende September 1939 wurde der estnische Außenminister Selter mit seiner Frau nach Moskau eingeladen, den Vertrag zu unterzeichnen. Wenige Stunden nach seiner Ankunft im Kreml schickte er jedoch ein Telegramm nach Reval, die Regierung solle bis zu seiner Rückkehr nichts unternehmen. Der geheimnisvolle Inhalt des Telegramms erklärte sich bald. Radio Moskau meldete noch am gleichen Abend, der russische Dampfer -Metallist" sei in der Ostsee von U-Booten torpediert worden, die von Basen an der estnischen Küste operierten. (Der „Metallist" besuchte einige Monate später wohlbehalten den Revaler Hafen.) Als Selter am 25. September zurückkam, mußte er seiner Regierung mitteilen, daß Molotow und Mikojan vom Handelsvertrag gar nicht gesprochen hatten, sondern nur auf die Unhaltbarkeit der politischen Verhältnisse hingewiesen hätten. Die Sowjetunion sähe sich genötigt, ihren Schutz in der Ostsee selbst zu übernehmen.


In diesem archivierten Artikel wimmelt es von Übertragungsfehlern, aber zitiert sei diese Passage:
Was diese Völker jedoch erwarten können — und dank der veränderten politischen Konstellation vielleicht erwarten dürfen — ist ein gerechter Nachruf, eine Revision jener aus bedenklichem Opportunismus geborenen These, daß die Existenz dieser Länder als unabhängige Staaten ein „historischer Irrtum" gewesen sei.

Kurz bevor der letzte estnische Staatspräsident, Päts, in die Verbannung geschickt wurde, aus der er nicht mehr zurückkehren sollte, äußerte er zu Freunden: „Unser Unglück ist. daß wir zu wenige sind." Bis ein besserer geschrieben wird, soll dies als Nachruf gelten.
1947

Donnerstag, Januar 03, 2008

Ein Schriftstellerkollege - eine Außenansicht Estlands

Wie Jens Olaf schon richtig bemerkte, führten die historischen Themen in den Büchern von Jaan Kross vor allem auch Menschen mit deutschbaltischen Bezügen zu einer Auseinandersetzung mit dem Autor. Einige der Bücher von Kross erschienen gerade Anfang der 90er Jahre, als auch Begegnung und Austausch mit Estland einfacher wurden, nach Jahrzehnten der Abschottung.

Nicht zu vernachlässigen sind jedoch auch die immer wiederkehrenden Fragen nach der gesellschaftlichen Gegenwart in Estland. Wer heute ein ins Deutsche übersetztes Buch aus Estland lesen möchte, könnte ja Kross als Grundlage nehmen ("Der Verrückte des Zaren" und "Professor Martens Abreise" sind gegenwärtig im Handel lieferbar, teilweise als Taschenbuch, oder auch "Die Frauen von Wesenberg"). Ich möchte mal auf ein anderes Buch aufmerksam machen, und würde gerne mal andere Meinungen hören, wie hier Estland in der Literatur gespiegelt wird. Ich meine das kürzlich auf Deutsch erschienene Buch des Engländers Adam Thorpe mit dem Titel "Taktverschiebung" (Original: "Between each breath"). Foto: Adam Thorpe (Quelle: Lucky Luck Associates)

"Essen Sie lieber ihren Kuchen bevor mich," sagt die sportliche Estin Kaja ihrem englisch sprechenden Kunden in einem Café in Tallinn.
Später wird Jack (der in Ich-Form erzählt, solange die Handlung in Estland spielt) behaupten, um seine estnischen erotischen Heimlichkeiten zu verbergen, dass "diese Mädchen aus den ehemaligen kommmunistischen Staaten oder Thailand oder so" es ja immer so machen: sie "werfen ihre Netze aus, schlafen mit jedem", angeln sich "irgendeinen armen Schlucker" ihm sie dann hinterher zu erpressen. Die "Kaja-Bedrohung" für sein gut bürgerliches, aber kaum ereignisreiches Leben im englischen Wohlstandsghetto. "Die Sex-Metropole der Welt" lässt Thorpe die englischen Bekannten des forschen Tallinn-Abenteurers sagen, oder auch "der Polterabend in Tallinn" (war im englischen Original wohl dasselbe gemeint, was es im Deutschen bedeutet?).

Jack ist Komponist moderner Musik, und ein Fan von Arvo Pärt. Um eine Auftragsarbeit zu estnischen Themen vorzubereiten, fährt er wie zur Recherche nach Tallinn. Das Estnische in Thorpes Buch erscheint nahezu unverändert, fast Original, real beschrieben (für diejenigen, die Estland kennen). Der "Held" des Buches, Jack, wie ein Kurzzeit-Besuch eines "Wessis" eben (und "Wessis" wollen sich vergnügen, oder?). Dieser Wessi hat seltsamerweise Kenntnisse über Estland, die nicht nur aus einem Reiseführer stammen können. Kaja, die Kellnerin, ist aus "Haaremaa" - unverkennbar, dass hier die größte estnische Insel (Saaremaa) gemeint ist.
Im Buch wird aber "Haaremaa" noch näher erklärt: "haare wie estnisch greifen", erklärt Kaja, oder "Insel des Entfaltens", gepaart mit holprigen sprachlichen Unzulänglichkeiten Kajas im Englischen. Kaja: "Wahrscheinlich ist es die Insel der Espen, 'haa', aus dänischen Zeiten, und wir haben es nur vergessen. Gibt es Espen bei euch in England?" fragt Kaja, und erklärt dazu: "Ihre Blätter zittern, und sie leben nicht allzu lang" (hallo ihr Baumexperten! Ist das in Estland biologisches Allgemeingut?). Ihr männliches Gegenüber aber erwidert doch glatt: "Meine Espe, du," denkt aber offensichtlich in erster Linie an kurzfristige Freuden mit seiner heimlichen Geliebten. Jacks eigene Versuche ein paar Brocken Estnisch zu lernen - wieder ganz Tourist der anbändeln will - enden kläglich und zu Lasten seiner angeblich verehrten estnischen Kurzzeitgeliebten.

Jack's Frau (Milly) verliert zu Hause das gemeinsame Kind durch einen leichten Autounfall, Jack fühlt sich schuldig und taucht lange Kapitel nicht mehr aus diesem englischen Kleinstadtmilieu wieder auf. Gut, das "England unter Blair" soll er beschreiben, das sagen die Kritiken. Andere finden es wieder interessant, dass Milly ausgerechnet mit Öko Business macht, und davon ganz erfüllt scheint. Oder die anderen englischen Männer, deren kümmerliche Existenzen angeblich mit Ironie beschrieben sind (das könnte ja in der englischen Fassung durchaus anders wirken als in der deutschen, für Deutsche veröffentlicht). Ich habe mich durchgekämpft bis zu dem Abschnitt, als Jack plötzlich doch wieder in Estland ist. Allerdings ebenfalls kümmerlich, unehrlich, bestenfalls verwirrt. Milly hat sich von ihm getrennt (und was machen Männer, wenn ihnen die Frauen weglaufen?).

Es gibt einige andere Symboliken in diesem Buch, die auch vielleicht nicht "Estnisch" sind, sondern Thorpe's Vorlieben entsprechen. Zum Beispiel der Vergleich des Gesichts der geliebten Kaja mit einer "Kaurimuschel". Diese Art ist ja wohl nicht typisch für Estland. Oder, wer weiß mehr? - Über die Kaurimuschels ist zu finden, dass sie aus Afrika, Ostindien und der Südsee bekannt war, "auch als Zahlungsmittel im Sklavenhandel". Welche Assoziation hat Thorpe nun hier? Eine ästhetisch aufgemachte Anspielung auf die ökonomischen Ungleichheiten zwischen West- und Osteuropa?

Es gibt aber auch gute Beobachtungen. Entweder hat sich Thorpe hier den Stoff "angelesen" (gibt also tendenziell doch nur oft beschriebene Estland-Phänomene" wieder), oder er war zur Recherche selbst da - denn untypisch sind solche Beschreibungen nicht. Ein Beispiel: "Der Barmann mit dem rasierten Schädel war mit Gläserputzen beschäftigt; als er mich sah, lächelte er auf diese leise, ernste Art der Esten - wenn sie überhaupt lächelten."
Oder auch, aus der Beschreibung eines Konzerterlebnisses in Estland: "Ein Mann in einem blauen Anzug, mit blauer Krawatte und einer Beethoven-Mähne kam von hinten auf die Bühne. Die einzigen Worte, die ich in seiner Rede erkannte, waren Namen: Händel, Acis, Polyphemus,Galathea, Ovid und KP-Erdnussbutter - obwohl Letzteres wohl eher ein phonetischer Zufall gewesen sein muss. Der Mann verbeugte sich zum diskreten Applaus, der länger anhielt, als es in England der Fall gewesen wäre, aber nicht so lange wie in Deutschland. Als die Künstler hervorkamen, belebte sich der schon beinahe erstorbene Beifall zu einem übertriebenen Crescendo, was auf die Anwesenheit von Freunden und Verwandten schließen ließ."

Außerhalb Estlands wird Thorpe's Story auffällig ungenau - wenn es sich nicht um England handelt. Den tatsächliche Vorfall eines Mordes an einer französischen Schauspielerin verlegt er von Litauen nach Lettland (S.275 - zu den tatsächlichen Hintergründen siehe z.B. diesen Bericht aus dem STERN), oder es heißt auch schon mal "Belorus oder so." Die typischen Verwechslungen, wie es auch aus deutscher Perspektive der Fall wäre.

Das Erholsamste am ganzen Buch zum Schluß: die schallende und schmerzhafte Ohrfeige, die Kaja ihrem "englischen Freund" zu Anfang des Buches austeilt. Es reicht für das ganze Buch. Denn ein wenig wünscht man Estland, es möge doch bitte mit einem Buch über die Engländer zurückschlagen.

Infos zum Buch:

Rezensionen
"Eindrucksvoll, klug und komplex" - so Literaturnetz

"Ausflug nach Estland" - in der Kölnische Rundschau

"Kitsch, Krampf und Klischees" - meint die Neue Züricher Zeitung

zur englischen Ausgabe Platz 47 bei "Eric Forbes Best Reads 2007"

"Down and out in Hampstead" im Guardian / Observer ("Reeaders expect a virtual EasyJet-Tour", kommentiert hier der Kritiker zur Story)

Kritik an der Buchkritik: Blog bei "First drafts"

Kommentar bei "Fantastic & Fiction"

David Horspool in der Sunday Times

"How a trying time became a tragic time" - beim Telegraph: "a melodrama of the highest order"

Info des Britsh Council zu Adam Thorpe

zu Adam Thorpe bei Lucky Luck Associates

Dienstag, Januar 01, 2008

Der bekannte Unbekannte: Jaan Kross

Grundlage dieses Beitrages ist ein Gespräch, das ich mit Jaan Kross Ende der 90 Jahre in seiner Wohnung in der Altstadt von Tallinn führte. Kross sprach zwar fließend deutsch, trotzdem führten wir das Gespräch vorwiegend auf Estnisch. Den Text habe ich erst jetzt überarbeitet, da Kross mir damals wohl angesichts häufiger Journalistenanfragen eher gelangweilt antwortete.
Nun ist der estnische Schriftsteller Jaan Kross nach den Weihnachtsfeiertagen gestorben. Sein Name stand seit Jahren auf der „Liste“ des Nobelkomitees. Den Preis hat der lebendige Erzähler historischer Werke jedoch nie erhalten. Dafür ist er der meistübersetzte Schriftsteller Estlands von dem auch zahlreiche Werke in deutscher Sprache erschienen sind.
Der Weg zum meistgelesenen Erzähler der estnischen Historie war verschlungen. Jaan Kross hatte noch vor dem Kriege begonnen, Jura zu studieren. Das Völkerrecht war sein Schwerpunkt, worüber er sich zu promovieren anschickte, als zunächst die Sowjets 1940, dann die Deutschen 1941 und schließlich wieder die Sowjets 1944 sein Vaterland besetzten. Die Deutschen schon warfen den Esten ins Gefängnis, nur weil er Freunde hatte, die so etwas wie eine „Estnische Résistance“ waren. „Ich war für eine estnische Zukunft ohne Deutsche und ohne Russen“.
Doch die Inhaftierung dauerte nicht lange. „Die Gefängnisoffiziellen hatten das Gefühl, für sich selbst etwas gutes zu tun. So wurden wir ohne Papiere entlassen“. Doch das Glück der wiedergewonnenen Freiheit währte nicht lange. Die Sowjets waren weniger zimperlich. So wurde Kross 1946 nach Sibirien deportiert, wo er mehr als acht Jahre blieb.
Schon vorher hatte Kross mit Übersetzungen begonnen. Marie-Antoinette von Stefan Zweig, erinnert er sich, sei das erste gewesen, das in den Kriegswirren jedoch verloren ging. Kross hat schon von Kindesbeinen an Deutsch gelernt an einem vielsprachigen Ort wie Estland. Französisch und Englisch kamen in der Schule hinzu, Schwedisch dank Privatstunden und Russisch im Lager.
Als Kross aus dem Lager zurückkehrte, war ihm klar: „Ich mußte etwas anderes machen, es war eindeutig, daß zumindest in Osteuropa das Völkerrecht eine Kunst für den Mülleimer war.“ Dann kam ein alter Freund auf ihn zu und bot ihm die Mitwirkung an einer Übersetzung Heinrich Heines an, die kurz darauf erscheinen sollte.
Anschließend verstarb 1956 Bertold Brecht und auch da half er einem Bekannten aus, der einen Artikel zu schreiben hatte und zeitlich überfordert war, auch die Gedichte zu übersetzen. Später kamen noch weitere Auftragsarbeiten hinzu, aber Kross nahm sich auch anderen Texten an, die er sich selbst aussuchte, „was mir gefällt, was ich gerade gelesen habe“. In den letzten Jahren hat Kross allerdings nicht mehr übersetzt
In den 50er Jahren hatte Jaan Kross mit Gedichten begonnen, die vor allem wegen ihres innovativen Charakters für Aufmerksamkeit und einen gewissen Erfolg sorgten. „Viele fangen mit Versen an und wechseln dann zur Prosa“, sagt Kross als Erklärung, warum er die Sparte gewechselt habe. Man müsse den Menschen etwas sagen, doch er habe den Kern, um den sich alles dreht, nicht gefunden. Auch die Menschen veränderten sich. Schließlich habe es in den 50er Jahren unter Chrutschschows „Tauwetter“ etwas mehr Freiheit gegeben. Anschließend herrschte jedoch wieder „Eiszeit“. Zeit, das Feld zu wechseln.
Nach der Abwendung von Übersetzungen und Lyrik arbeitete Kross vorwiegend an historischen Romanen. Für ein kleines Volk wie die Esten hat die Geschichte große Bedeutung, zumal in der Sowjetzeit nur bedingt an die Wahrheit zu gelangen war. Kross setzte sich ins Archiv, redete mit vielen Menschen und schrieb schließlich über Dinge, die 200 oder noch mehr Jahre zurücklagen. „Das hat die Zensur nicht so interessiert.“ Andererseits ist man sich auch in Estland einig, daß vielfach auf diesem Wege Dinge auszusprechen waren, die ansonsten in einem in der Gegenwart spielenden Roman nicht hätten gesagt werden könne. Kross: „Sicher habe ich auch Glück mit Zensoren gehabt, die ein Auge zugedrückt haben.“ Schließlich sind die Bücher auf Deutsch bereits in der DDR erschienen.
1992 folgte Kross dem Ruf in die Politik als Parteiloser Abgeordneter der Wahlunion „Moderate“ (der Vorgänger der heutigen Sozialdemokraten des Präsidenten Toomas Hendrik Ilves, die bei ihren Beteiligungen an konservativ-liberalen Regierungen ihrem Namen nur bedingt entsprechen). Als aktiver Bürger an der Politik teilzunehmen hatte damals eine große Bedeutung. Viele Künstler und Intellektuelle wechselten in den postsozialistischen Staaten wenigstens zeitweilig das Geschäft. Kross zitiert die Worte eines Musikerkollegen, der sich der Presse gegenüber zu rechtfertigen hatte, daß es „das erste Mal sei, daß man in die Politik gehen könne, ohne sich dabei schmutzig zumachen.“ Einen Umstand, den die Mehrheit der Bevölkerung ganz gewiß anders sieht. Doch Kross war neugierig darauf, wie das funktioniert.
Nach einem Jahr hatte er genug und trat zurück. Das wiederum stellte sich als schwierig heraus, denn die Vorschriften des Parlamentes Riigikogu sahen einen solchen Fall nicht vor. Nur Krankheit zählte als Grund für einen vorzeitigen Rückzug. Kross als ältester Abgeordneter meinte: „Alter ist auch ein Krankheit“. In Wahrheit war der Drang zur Arbeit am Schreibtisch die treibende Feder. Schreiben war Kross doch wichtiger. Die Moderaten hätten gern gesehen, wenn Kross als Präsident kandidiert hätte, so wie es sein Schriftstellerkollege Lennart Meri tat. Doch Kross lehnte das Angebot dankend ab. Kross’ Urteil über die Politik: Ziemlich normal und nicht unmoralischer als die durchschnittliche Menschheit. Gewiß habe er diese Meinung an die Bevölkerung weitergeleitet, doch das hat offensichtlich keinen Einfluß auf die allgemeine Meinung gehabt.
Was die ständige Erwähnung seines Namens im Zusammenhang mit dem Nobelpreis betrifft, gibt sich der Schriftsteller gelassen. Er habe sich daran gewöhnt, betrachte die Frage nicht als das Wesentliche. Dennoch, für Estland meint er, sei das doch sehr wichtig. In jedem Fall hat er sich schon über die ganze Prozedur in einem Roman amüsiert. Darin geht es um einen gewissen Mertens, der zu Beginn des Jahrhunderts ebenfalls angeblich den Nobelpreis erhalten sollte, eine Falschmeldung die Runde machte, und sogar sehr viel später in einem amerikanischen Lexikon sein Name in der Liste der Preisträger auftauchte, obwohl sich das Komitee letztlich anders entschieden hatte.