Dienstag, Mai 15, 2018

Wo 100 sind, können 200 werden

Kaum hat sich die internationale Öffentlichkeit daran gewöhnt, dass Estland im Jahr 2018 seine 100 Jahre Unabhängigkeit feiert - also Estland 100 - da kommt schon ein neues Schlagwort auf. Was sollen wir bei den 100 stehen bleiben? Lasst uns über Estland 200 nachdenken! Diese Suche nach neuen Zielen hat wohl auch damit zu tun, dass in 10 Monaten in Estland Parlamentswahlen anstehen.

Es ist ein sogenanntes "Manifest", was da veröffentlicht wurde: unterschrieben und veröffentlicht haben es fünf Autorinnen und Autoren: Priit Alamäe, ein Geschäftsmann aus dem IT-Business, Kristiina Kallas, Direktorin des Narva Colleges der Universität Tartu, Indrek Nuume, ein Bankdirektor, Küllike Saar, Direktorin der Kinderstiftung an der Uniklinik Tartu, und Kristiina Tõnisson, Direktorin des Johan-Skytte-Instituts für Politikwissenschaften in Tartu.

Dunstkreis Tartu also? Politische Erfahrung aus der Arbeit in Parteien hat von den fünf Initiator/innen nur einer: Priit Alamäe war 20 Jahre lang Mitglied der "Pro Patria and Res Publica Union". Kristiina Kallas ließ sich mal für die Liste der Sozialdemokraten für Regionalwahlen aufstellen, wurde aber nicht gewählt. Über die Namen der Initiator/innen hinaus soll es weitere etwa 40 Unterstützer/innen geben. Eingeladen sei jede/r mitzumachen - allerdings solle die Motivation nicht sein "einen Job im Parlament zu wollen." Aber eine Parteigündung wird ebenfalls nicht ausgeschlossen.  "Wir sind fokussiert auf Ideen - eine Weltsicht war bisher nicht notwendig für uns", so lässt sich Kristiina Kallas in der Presse zitieren.

ganz sicher nichts mit dem politischen Manifest
"Eesti 200" zu tun hatte dieser Post der finnischen
Botschaft auf Twitter: hier wurden einfach mal
die Geburtstage der beiden Länder zusammengezählt
Was also sind die Ziele? Sicher nicht nur eine Twitter-Diskussion. Man wolle eher Probleme ansprechen, als Ideologien pflegen, sagen die Manifest-Verfasser/innen. Also so ähnlich wie "durch Estland soll ein Ruck gehen"? Geboten wird zunächst eine Analyse: Estland werde in den kommenden Jahrzehnten weniger Einwohner/innen im arbeitsfähigen Alter haben, auch weniger Bevölkerung insgesamt, bei weiter ansteigenden Ansprüchen an den Lebensstandard - in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Verkehr und staatliche Verwaltung seien schwierige Entscheidungen zu treffen. Es bedürfe Chancengleichheit in allen Landesteilen, und die Regierung müsse Reformen schnell und effizient umsetzen. Interessant auch die Idee des Manifests, statt russische und estnische Schulen parallel solle es zukünftig ein einheitliches estnisches Schulmodell in Estland geben (siehe: "Postimees").

Es gibt aber auch kritische Stimmen. "Solche scheinbaren Patentrezepte nach diesem Muster sind in Estland bereits zu genüge bekannt," kommentiert Politikwissenschaftlerin Oudekki Loone, Parlamentsmitglied der Zentrumspartei. "Weg mit den roten Linien, setzt den Staat auf Schlankheitsdiät, lasst die Menschen sich selbst um ihre Gesundheit kümmern, und lasst uns mit neuen Technologien das Leben einfacher machen - das ist nicht mehr als eine neue Reformpartei, genauso war "Res Publica" oder die Freiheitspartei." (ERR) Es reiche nicht, einfach zu sagen: alle guten Leute sind Freunde, und bitte dem Unternehmer keine Bürokraten in de Weg stellen, meint Loone. "Zu viele von uns haben seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit nichts als Kartoffelschalen gegessen. Und wer bei uns früher von Freiheit träumte, dachte auch dies sei mehr als nur die Freiheit ein Unternehmer sein zu dürfen." Loone sprach sich dafür aus, Estland in Richtung eines Sozialstaats zu entwickeln, sowie eine eigene estnische Investmentbank zu gründen, um kleinere und mittlere Unternehmen außerhalb Tallinns besser unterstützen zu können.

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