Sonntag, Dezember 31, 2023

Estland, wohin?

In Estland werden "Zeitenwenden" offenbar anders interpretiert. Zugegeben, die Umstellung aufs Digitale begann schon Mitte der 1990iger Jahre, die deutsche Öffentlichkeit, deutsche Politik und deutsche Medien entdeckten die estnischen Fähigkeiten und Modelle erst vor wenigen Jahren. Also kann es ja sein, dass sich in Estland auch auf anderen Handlungsfeldern schon etwas getan hat, wovon wir in Deutschland noch nichts gemerkt haben. 

Auf manch anderem Gebiet scheint es aber auch in Estland verschiedene Ideen für die Zukunft zu geben, und Entscheidungen stehen noch aus. 164 Seiten stark ist ein Bericht einer 39-köpfigen Arbeitsgruppe, die Argumente sammelte für den Einsatz von Atomkraft in Estland. Daraus machen einige die Schlagzeile: Atomkraft würde sich innerhalb von sechs Jahren amortisieren (siehe auch: Blog). Dem zufolge müssten irgendwann Paldiski, Toila, Kunda, Varbla oder Loksa mit atomarer Beglückung rechnen. Vorteil für Atomkraft-Fans hier: zur Frage der Entsorgung atomarer Abfälle genügen allgemeine Formulierungen wie diese: "Estland sollte eine Strategie zur Entsorgung radioaktiver Abfälle entwickeln und den Bau einer Endlagerstätte für abgebrannte Kernbrennstoffe in Betracht ziehen.“(err)

Eine andere Frage schien in den vergangenen Monaten zu sein, wie lange sich Estlands Regierungschefin Kaja Kallas noch halten kann. Jetzt heißt es: Kaja Kallas (Reformpartei) soll Estlands nächste EU-Kommissarin werden (err) - mit dieser Aussage wird Kajas politischer Konkurrent Jüri Ratas (Zentrum) zitiert, verbunden mit dem Ausspruch, eine ehemalige Ministerpräsidentin können wohl auch auf einen stellvertretenden Chefposten in der EU-Kommission Anspruch erheben. Die Reformpartei steht gemäß Umfragen in der Wählergust bei ihrem schlechtesten Wert seit fünf Jahren (err). Regierungschefin Kallas war wegen dubioser Geschäftspraktiken ihres Mannes Arvo Hallik in die Kritik geraten, bei denen Komponenten aus estnischer Produktion auch nach Russland geliefert worden waren - trotz aller öffentlich verkündigten Boykott-Beschwörungen der Regierung.  - Aus der Zentrumspartei stammt die gegenwärtige estnische EU-Kommissarin Kadri Simson, zuständig für den Energiebereich. 

Wie lange wird die Zentrumspartei noch eine führende Rolle in Tallinn behalten? Ende 2022 war der langjährige Parteichef Edgar Savisaar verstorben, Bürgermeister in Tallinn 2001-2004 und nochmals 2007-2015. Seit den Kommunalwahlen 2021 braucht die Zentrumspartei einen Koalitionspartner. 79 Sitze hat der Stadtrat, durch einige Austritte und Parteiübertritte hat die gegenwärtig regierende Koalition aus Sozialdemokraten und Zentrum nur noch eine knappe Mehrheit. Schon seit 2019 ist Zentrumspolitiker Mihhail Kõlvart Bürgermeister. Wofür ist Tallinn schon seit einigen Jahren auch in Deutschland bekannt? Alle Einwohnerinnen und Einwohner bekommen die Nutzung des ÖPNV kostenfrei.  Bei der Einführung dieser Regelung 2013 sollen sich 30.000 Menschen zusätzlich bei der Stadt registriert haben. Nun präsentiert Kõlvart stolz Gäste aus Montpellier in Frankreich: auch für die dortigen Stadtbewohner/innen soll bald der ÖPNV kostenlos sein. Aber in Tallinn? Kõlvart konnte nicht umhin zugeben zu müssen, dass ja die gegenwärtige estnische Regierung diese Regelung eher abschaffen möchte (err). 

Drei Themen also, bei denen die Richtung für 2024 und die kommenden Jahre noch nicht klar scheint. Mal sehen, wo die Reise hingeht.

Mittwoch, Dezember 27, 2023

zu neuen Ufern

Bisher schweift der Blick von Tallinns Altstadt
ziemlich frei Richtung Ostsee: war da noch was?
Wie nahe die estnische Hauptstadt Tallinn am Wasser gelegen ist, erleben zum Beispiel die Kreuzfahrttouristen jedes Mal bei Einfahrt in den Hafen: eigentlich können auch schon vom Schiff aus gute Erinnerungsfotos gemacht werden. Nur wenig mehr als 10 Minuten Spaziergang, die Altstadt Tallinns in fußläufiger Reichweite. Aber: Tallinn kann mehr, so denken offenbar die örtlichen Stadtplaner, und veröffentlichten jetzt Ideen einer völligen Umgestaltung des Ostseeufers nahe des Stadtzentrums. 

Vor allem geht es um "das Meeresufer rund um die "Linnahall", also das, was heute schlicht "Stadthalle" genannt wird. Erbaut 1980 als "Wladimir-Iljitsch.-Lenin-Palast für Kultur und Sport", pünktlich zu den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau (die Segelwettbewerbe fanden in Tallinn statt). Bis zur Einweihung der "Saku Suurhall" im November 2001 war die Linnahall die größte Mehrzweckhalle Estlands, entworfen von Riina Altmae und Raine Karp (architektuul)

Seit 2010 steht sie leer, die Türen sind geschlossen. Investoren wurden gesucht, ein Einblick ins Innere der leer stehenden "Linnahall" wurde vorübergehend als "einzigartiges Erlebnis für Architekturliebhaber" verkauft (visittallinn). Auch Christopher Nolans Film „Tenet“ wurde hier gedreht,

Vor einigen Wochen wurden nun die Pläne vorgestellt, wie dieser ganze Bereich in Zukunft aussehen könnte. Eine neu gestaltete Linnahall, daneben eine Bibliothek, Parks, Wasserspiele und Springbrunnen. Aber offenbar sind noch nicht alle wichtigen Entscheidungen getroffen worden. Zwar heißt es, die bisherige "Linnahall" solle "Konzertsaal und Konferenzzentrum" werden. Aber die Entscheidung über "Abriss oder Neukonstruierung" ist wohl noch nicht gefallen. (err)

 Die Zielsetzung bestehe in der "Nutzung neuer städtischer Räume, Grünflächen und öffentlicher Verkehrsmittel", so wird Tallinns Bürgermeister Mihhail Kõlvart zitiert. (err) Ein Radiobeitrag aus Österreich bezeichnete die "Linnahall" mal als "heißen Sowjet-Dinosaurier" und bilanzierte demzufolge: "Für Immobilieninvestoren ist der Bau potthässlich, gehört abgerissen, weil in Prime-Lage am Meer, und durch schicke Appartmentkondos ersetzt." (FM4/ORF) Aber die Autorin zitiert, wie so viele andere auch, Architekturhistoriker Andres Kurg. Er hat die Linnahall wohl am intensivsten untersucht, auch in Form von mehreren Veröffentlichungen. Kurg erzählt zum Beispiel, dass an der "Linnahall" auch Studierende und Rentner mitbauen mussten, weil sie sonst nicht rechtzeitig zu den Olympischen Spieln 1980 fertig gerworden wäre. Und er weiß auch, dass der heutige kathastrophale Zustand mitverursacht wurde durch schlechte Baumaterialien zu Sowjetzeiten. 

Die aktuellen Entwicklungspläne der Stadt Tallinn sehen 10 Jahre bis zur Realisierung vor. Ob das machbar ist? 330 Millionen Euro soll es kosten. Da ist zu vermuten, dass es nicht die letzte, und schon gar keine endgültige Aussage zu diesem Thema ist.