Montag, April 18, 2022

Lieber flüssig

Kalt muss es sein: bei Temperaturen um –162 °C wird Ergas "verflüssigt", und dieses "Flüssiggas" ("Liquified Natural Gas" LNG) hat dann im Verhältnis zum gasförmigen Zustand ein Expansionsverhältnis von 1:600, daher können große Mengen an Energie effizient gelagert und transportiert werden.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Diskussion um die Energieversorgung völlig verändert. Auch Estland plant nun mit einem Flüssiggasgterminal. Angeblich kann schon das LNG-Terminal im litauischen Klaipeda die Hälfte des Gasbedarfs der baltischen Staaten decken - die entstandene Lücke, bei Wegfall des Bezugs aus Russland, soll nun ein estnisch-finnisches Projekt in Paldiski schließen.

Vorteil: die Pläne für den Standort in Paldiski lagen schon fertig in der Schublade.Schon seit einigen Jahren wird über ein Flüssiggas-Terminal an diesem Standort nachgedacht - aber bisher schien es zu teuer (siehe "Baltic Course"). Bauen soll es nun die estnische "Alexela"-Gruppe, bei der die Brüder Heiti und Marti Hääl eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Unternehmer Heiti Hääl ließ sich gleich mal zu der Aussage hinreißen: "Das sieht unglücklich aus, wenn erst ein Krieg die Notwendigkeit eines LNG-Terminals nachweisen muss." Und er behauptet gleichzeitig: "Das neue Terminal wird noch in diesem Herbst fertig sein." (err

Diese Planungen bestätigte auch der estnische Wirtschaftsminister Taavi Aas. Estland wolle bezüglich des erforderlichen LNG-Spezialschiffes auch mit Finnland und Lettland zusammenarbeiten. (err / IR). Auch Litauen hatte sich vor Jahren zunächst gemeinsamen Planungen angeschlossen, dann aber, als es kaum konkrete Fortschritte gab, sich für ein eigenes LNG-Terminal entschieden (das 2014 fertiggestellt wurde). 2020 wurde auch das Projekt "Balticconnector" abgeschlossen - eine Gaspipeline zwischen Paldiski in Estland und Inkoo (Ingå) in Finnland.

Estland verbraucht gegenwärtig etwa 5 Terrawattstunden Gas, zwei Drittel davon für Energieversorgung und Industrie. Am 7. April hatte die estnische Regierung beschlossen, bis Ende 2022 völlig auf den Bezug russischen Gases zu verzichten (valitsus.ee). Partner für den Bau des LNG-Terminals in Paldiski werden auch die Investmentgesellschaft "Infotar" und "Eesti Gaas" sein. In einem ersten Bauabschnitt soll zunächst eine Verbindung zwischen dem Schiffsliegplatz und der "Balticconnector"-Pipeline geschaffen werden. Die Pipeline-Infrastruktur wird vom staatlichen estnischen Gasbetreiber Elering bereitgestellt.

Zunächst soll - als finnisch-estnisches Gemeinschaftsprojekt - ein schwimmendes Terminal angemietet werden, bevor in der zweiten Phase eine dauerhafte Lösung für das Terminal gebaut wird (mkm). Die Kosten für die Terminal-Infrastruktur, die im Herbst fertig gestellt werden soll, werden auf 40 Millionen Euro geschätzt. Ain Hanschmidt (Infotar) forderte aber auch eine staatliche Garantie zur Absicherung der Preisdifferenz zu russischem Gas, um das Projekt gegen eine (politisch mögliche) Rückkehr zur Versorgung mit russischem Gas abzusichern. (err) Die estnische Finanzministerin hatte bereits Pläne zu einem Ergänzungshaushalt in Höhe von 170-230 Millionen Euro vorgestellt (err)

Schon im November 2021 hatte das LNG-Bunkerschiff «Optimus» der estnischen Energiegesellschaft Elenger seinen Betrieb aufgenommen - es dient der Betankung von LNG-getriebenen Fähren zwischen Tallinn und Helsinki und ist Teil einer wachsenden LNG-Infrastruktur. (Schiffundhafen / elenger)

Sorgen um die Umwelt jedenfalls scheinen bei dieser Diskussion keine Rolle zu spielen. In Deutschland wird ja viel über das umstrittene "Fracking"-Verfahren diskutiert (BUND / Umwelthilfe), wobei davon ausgegangen wird, dass ein LNG-Gas-Import eben auch das durch Fracking-Verfahren in den USA gewonnene Gas einbeziehen würde. Kritisiert wird unter anderem, dass schon die Verflüssigung von Gas 10-25% des Energiegehalts verbrauchen würde. Von dieser Seite wird auch bestritten, dass Deutschland einen LNG-Importbedarf habe - es wird darauf verwiesen, dass Deutschland die viertgrößte Gasspeicherkapazität der Welt habe. Allerdings ging diese Einschätzung noch von einem Bau der Nordstream-2-Pipeline aus. In der deutschen Diskussion wird "LNG-Gas" oft mit "Fracking-Gas" gleichgesetzt - so wie die Deutsche Welle am 29. März titelte: "Freiheit oder Klima-Selbstmord?"

Aber Estland muss sich wohl kaum Sorgen um mögliche größere Proteste in Paldiski machen. "In Estland bestimmen immer noch weitgehend die Industrie und die großen Unternehmen die Tagesordnung", meinte Züleyxa Izmailova, die bis vor wenigen Wochen noch Vorsitzende der Grünen Partei Estlands ("Erakond Eestimaa Rohelised", die in Umfragen aktuell bei 1,7% liegen) war. "Und manche Leute glauben, wärmere Winter würden eben einfach ihre Heizungsrechnung verringern. ... Radikale Umweltschützer wie in Westeuropa gibt es in Estland so gut wie nicht." (err)

Donnerstag, April 07, 2022

Brückendiskussion

Die "Võidu sild" ist eine in den Jahren 1952 bis 1957 gebaute Stahlbetonbrücke über den Fluss Emajõgi, im Zentrum von Estlands zweitgrößter Stadt Tartu gelegen. Ihren Namen erhielt die Brücke im Jahr 1965, auf Beschluss des Stadtrats, zum 20. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Denn "Võidu sild" heißt übersetzt "Brücke des Sieges". 

Die Diskussion im Stadtrat von Tartu, die Brücke anders zu benennen, geht schon einige Jahre. Aber als Tourist/in könnten wir uns zunächst fragen: Was für eine Brücke ist das? Reiseinfoseiten wie "Estland-com" erwähnen eine Reihe von Brücken: Bogenbrücke (Kaarsild), Steinbrücke (Kilvisild), Marktbrücke (Turusild), Engelsbrücke (Ingisild), Teufelsbrücke (Kuradisild). Aber "Siegesbrücke"? "Visittartu" beschreibt ausführlich die Bogenbrücke. Aus touristischer Sicht wird die Brücke der Durchfahrtsstraße, die einfach die Riga-Straße mit der Narva-Straße verbindet, am wenigsten hervorgehoben.

Seit 1926 gab es auch schon eine "Freiheitsbrücke" in Tartu: nach der sowjetischen Besetzung 1940 schon einmal kurzzeitig in "Siegesbrücke" umbenannt, überstand sie den Krieg nicht (von den abziehenden Deutschen zerstört). Am Ende des 2.Weltkriegs waren in Tartu alle Brücken zerstört. Die heutige "Freiheitsbrücke" wurde 2009 eröffnet.

Nun sucht Tartu einen neuen Namen für die bisherige "Siegesbrücke" (tartu.ee / err) "Wir können einen solche Sieg nicht weiter feiern", heißt es (tartu.ee). Bis zum 10. April sollen nun Namensvorschläge gesammelt werden. Ein witziger (wohl nicht ernst gemeinter) Vorschlag war auf dem Portal "Lugejakiri" (Eigenwerbung: "die seriöseste Nachrichtenquelle in Estland") zu lesen: um Geld und Mühe zu sparen, solle nur der erste Buchstabe ausgetauscht werden - statt "Võidu sild" (Siegesstraße) nun "Sõidu sild" (Fahrstraße). 

Ein Thema, dass vielleicht aber nur symbolisch die andauernde Diskussion um die russische Haltung zu Putins Angriffskrieg wiederspiegelt. Nikolai Põdramägi, Arzt und Mitglied der Zentrumspartei in Tartu, sprach sich nicht nur gegen die Umbenennung der Brücke aus, sondern bezeichnete auch die gegenwärtigen Vorgänge in der Ukraine als "Bürgerkrieg" (err). Als Reaktion distanzierte sich nicht nur die Zentrumspartei von ihm, sondern auch die Ärztekammer (Postimees / delfi)