Dienstag, Februar 20, 2018

Die Legende vom falschen "Realisten"

Am 24. Februar 2018 jährt sich zum 100.sten Mal der Tag, an dem die unabhängige Republik Estland ausgerufen wurde. Wenn sich jedoch Estland in diesen Tagen zurückerinnert, dann wird auch klar, dass am Tag dieser Verkündung die staatliche Unabhängigkeit noch nicht erreicht war - zumindest noch nicht gesichert. Nur einen Tag vorher hatten sich die Truppen der Bolschewiki zurückgezogen, die hofften, Estland würde sich der Russischen Revolution anschließen, und die ehemaligen Rittergüter könnten zu Kolchosen umwandelt werden. Und bereits einen Tag später wurde Estland durch die 8.deutsche Armee besetzt. Es dauerte noch bis 1920, zwei lange Jahre, bis der unabhängige Staat Estland als gesichert betrachtet werden konnte, und bis auch der wichtige Friedensvertrag mit Russland abgeschlossen wurde.

Bildquelle: Nekropole.lv
Wie es in den ersten Tagen der estnischen Unabhängigkeit zuging, symbolisiert das Schicksal eines Menschen, der in Estland Johann Muischneek genannt wird. Der 25. Februar 1918 war ein Montag. Die deutsche Armee rückte aus Richtung der estnischen Inseln auf Tallinn vor. Von estnischer Seite war ein "Estnisches Rettungskomitee" (Eestimaa Päästekomitee) gegründet worden, mit dabei waren u.a. Konstantin Päts (später Regierungschef und Staatsoberhaupt), und die Sozialdemokraten Jüri Vilms und Konstantin Konik.

Ein inzwischen aus Schülern, Pfadfindern und Studierenden gebildeter "Heimatschutztrupp" ("Omakaitse") war die einzige militärische Einheit, die zu dieser Zeit die estnischen Interessen am Ort des Geschehens schützen konnten - darunter auch Schüler der "Tallinna reaalkool", die sogenannten "Realisti". Sie patroullierten durch Tallinn, und wurden auch am 24. Februar 1918 eingesetzt, als mit den Bolschewiki sympathisierende Marosen die Besetzung einer Elektrostation ankündigten. Gegen vier Uhr nachmittags entwickelte sich eine Schießerei in der Altstadt, die "Roten" zogen sich in die Nähe der "dicken Margarethe" (Turm an der Altstadtmauer) zurück. Hier zog sich dann Johann Muischneek tödliche Schußverletzungen zu. Da erst wenige Stunden zuvor die Unabhängigkeit Estlands verkündet worden war (schon am 23.2.18 in Pärnu, am 24.2. in Tallinn), galt er als der erste Este, der für die Unabhängigkeit des Landes starb.

Die "Tallina reaalkool" feiert 100 Jahre
estnische Unabhängigkeit
Lange wurde angenommen, Muischneek sei ein estnischer Schüler gewesen - eben ein "Realisti". 1936 wurde eine Erinnerungsplakette an seinen Tod am Turm angebracht. Als 1991 sich das Bestehen der Realschule Tallinn zum 110.mal jährte, wurde eine neue Tafel angebracht - sie ist heute nicht mehr draußen zu finden, sondern im Museum der estnischen Seefahrt (das heute auch den Kanonenturm Dicke Margarethe umfasst). Tatsächlich aber zeigen neuere Forschungen, dass der Betroffene in Wahrheit Jānis Muižnieks war, ein Lette. Ursache der Unklarheiten waren exil-estnische Publikationen, besonders eine Publikation die 1972 in Schweden erschien, die den jungen Freiwilligen noch als estnischen Helden herausstellte - obwohl auch an dieser Schilderung eigentlich Zweifel aufkommen mussten, da die Schießerei erst am Abend des 24.2. - im Dunklen - stattfand. Dieser Fehler wurde von estnischen Historikern erst 1989 offen angespochen (Looming, Nr.2 1989), aber der Irrtum, Muižnieks sei ein junger Este gewesen, wurde noch bis ins Jahr 2005 wiederholt.

Heute ist sich die Wissenschaft einig, dass  Muižnieks der 1883 erstgeborene Sohn von Pēteris Muižnieks und seiner Frau Liene (geborene Bebris) aus der nordlettischen (damals livländischen) Gemeinde Rauna (dt. Ronneburg) war. Obwohl über seinen Lebensweg wenig bekannt ist, kann doch gesagt werden, dass er eine Ausbildung im russischen Militär absolvierte. Als 1917 die Deutschen den Norden Lettlands besetzten, konnte er nicht nach Hause zurückkehren; estnische Quellen weisen aus, dass er sich ab Dezember 1917 in Tallinn aufhielt - schon seines Alters wegen aber sicher selbst kein Schüler mehr. Als sich dann die Schüler- und Studenteneinheiten bildeten, war er einer der Anführer.

Inzwischen hat man auch im Stadtarchiv von Tallinn weitere Informationen gefunden: dort ist ein "Jahn Muischneek" verzeichnet, der am 25. Februar um 9.30 Uhr starb und dessen Beerdigung am 3.März in der Niguliste Kirche abgehalten wurde. Sogar die Todesursache wird dort erwähnt: eine tödliche Schußverletzung im Rahmen der Kämpfe vom Vortag. Sein Grab befindet sich heute in Tallinn, und die lettischen Nachbarn (siehe TVnet) wie auch die Esten (siehe ERR) sind heute gemeinsam so stolz auf diese Tatsache, dass sie für mögliche Besucher den genauen Ort angeben: auf dem Friedhof Rahumäe, nahe am Haupttor, Kvartal C, 6. Reihe, Platz 3.

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