Donnerstag, Juni 20, 2019

Start der Citybienen

Nicht nur die Verkehrsplaner in Deutschland erwarten gegenwärtig den großen Boom der E-Scooter - auch in Estland sind die Verleiher startbereit. Schon zur angelaufenen Touristensaison werden die Gäste in Tallinn E-Scooter ausleihen können.

"Bzzzz is coming", wirbt eine der neuen Scooter-Verleiher, die Firma CITYBEE, ein Start-up aus Litauen, der auch in Estland bisher mit Carsharing-Angeboten bekannt wurde. Doch wird die "Bzzz-Freude" wirklich so groß sein? Der Domberg ist steil und führt über Pflasterstein-Straßen, der Weg zum Museum wie das "Kumu" oder zum Flughafen wird von Gästegruppen meist mit dem Bus zurückgelegt. Vom Hafen ins Stadtzentrum - eine zu kurze Strecke. Wo also sollen E-Scooter überhaupt fahren? Quer durch Kalamaja, oder rund um die Altstadt? Bisher ist es wohl nur der Reiz des Neuen.

So ist es vielleicht auch typisch,dass es E-Scooter in Tallinn nur als ergänzendes Angebot zum Autoverleih / Carsharing geben wird. Oder vielleicht werden wir auch Leihwagen-Fahrer/innen sehen, die am See Peipsi wieder aussteigen und dort dann ihren E-Scooter auspacken, als Anreiz für die ganze Familie? Allerdings wird in Estland die E-Scooternutzung auf Personen ab 18 Jahren beschränkt werden.

Mit etwa 15 Euro pro Tag liegt die Ausleihgebühr leicht über der für ein Fahrrad. Die Nutzer/innen sollen allerdings verpflichtet werden, die Scooter nur an festgelegten Orten wieder zurückzulassen, so der zweite Tallinner Anbieter "Bolt" (bisher "Taxify"). "Tallinn ist die Heimatstadt von Bolt", so wirbt das Unternehmen für seine Dienste. Grundlage ist immer die Nutzung per Smartphone und App. "Bolt" sei in Estland auch der große Konkurrent des Verkehrsdienstleisters "Uber", so berichtete bereits die "New York Times". Es ist vor allem eine schöne Story über Markus Villig, der mit 19 Jahren "Bolt" gründete, auf Saaremaa aufwuchs und die Skype-Gründer seine Vorbilder nennt. Wie die deutsche AHK weiß, wird diese Firma auch von der deutschen Daimler unterstützt.

Sind E-Scooter also nur scheinbar eine umweltfreundliche, weil abgasfreie Alternative im Verkehr? Auch bei massenhaftem Einsatz von E-Autos - sofern das so kommen wird - ist ja noch nicht bewiesen, dass so die Umwelt tatsächlich besser wegkommt. Erste Richtlinie scheint vor allem zu sein: "alles easy"! Easy nutzen, easy bezahlen. Vielleicht sollten wir also die E-Scooter vorerst als das nehmen, was sie sind: ein weiteres Spielzeug für die Spaßgesellschaft. Und natürlich eine Option für diejenigen, die sich in Estland sowieso an den digitalen Angeboten orientieren.
Oder, weitere Option: die Angebote werden genutzt, weil sie von anderswo her bereits bekannt sind. "Bolt" zum Beispiel ist auch in Helsinki, London, Paris, Riga und Vilnius aktiv, ja sogar in Melbourne und Moskau. Da dürfte doch der Ausflug nach Estland für den Kunden/ die Kundin eine der leichteren Übungen sein - und andere Firmen ziehen sicherlich nach.

Freitag, Juni 14, 2019

Saufende Populisten?

Es heißt, das Ende von Zar Nikolai II. habe sich bereits abgezeichnet, als er 1914 ein Alhoholverbot aussprach. Damals kam es zu Plünderungen von Gaststätten und Weinlagern. Als Alkoholersatz mussten Spiritus, Politurmittel oder sogar Lacke herhalten, und für einen Selbstgebrannten nahm man Rüben oder sogar Holzspäne.
Auch Gorbatschow schränkte 1986 den Alkoholverkauf ein, und es war wieder die Rede davon, dass eine alkoholfreie Hochzeitsfeier ja eigentlich gar keine Feier sei.

Auch in Estland ist die Steuer auf Alkoholisches wie immer eine Fragen entweder des Schutzes vor zuviel Alkoholismus, oder der staatlichen Einnahmen.Nach Einführung des erhöhten Steuersatzes sollen die Staatseinnahmen um 80 Mio. € zurückgegangen sein (NZZ). Die geringeren Einnahmen bedeuteten allerdings nicht automatisch auch geringeren Konsum: nun wurde es populär, kurz über die lettische Grenze einkaufen zu fahren (Blogbeitrag). Dagegen ging der Strom der Alkoholtouristen aus Richtung Helsinki stark zurück - noch im Jahr 2014 "stammte 1/3 des Alkohols in Finnland aus Estland", behauptete "Nordisch.info". Und auch die Finnen fuhren nun einfach ein paar km weiter bis über die Grenze nach Lettland, wenn sie auf der Suche nach billigem Alkohol waren.

Nun also wird der Alkohol in Estland wieder billiger. Ein Schritt, den auch die oppositonelle Reformpartei mit unterstützt. Der Gesetzesvorschlag, ab dem 1. Juli 2019 den Steuersatz auf Bier, Schnaps und Cidre um 25% zu senken, wurde am 15. Juni vom estnischen Parlament (Riigikogu) mit großer Mehrheit verabschiedet (err).

Kritik kommt u.a. von kirchlicher Seite. "Aus christlicher Perspektive sollte eher das Prinzip liebe deinen Nächsten Priorität haben," meint Urmas Viilma, Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK),"beim Umgang mit Alkohol sollten eher das Leben der Menschen, die Gesundheit und Sicherheit Vorrag haben, nicht die Steuerbilanzen." (err/ Eesti Kirik) "Es wird mir ein wenig zu viel nur darüber gesprochen, ob nun estnisches Steuergeld nach Lettland, oder finnisches in Estland bleibt," meint er. "12 EuroCent auf einen halben Liter Bier sparen zu können, sollte für einen Christen nicht die entscheidende Frage sein." Eher solle man schauen, wie die Zahl der Unfälle unter Alkoholeinfluß, die Verbrechen und die Fälle häuslicher Gewalt reduziert werden könnten.Auch sei es immer noch erlaubt, selbst für Kinder alkoholhaltige Mixgetränke zu verkaufen (sogenannter "Kinder-Sekt"). Und auch bei Sportveranstaltungen sei der extensive Alkoholkonsum noch immer nicht in Frage gestellt. "In einer Zeit, wo so viel Wert gelegt wird auf Umweltschutz, gesunde Ernährung, ökologisch erzeugte Produkte, vegane Lebensmittel, körperliche Fitness und einen gesunden Lebensstil müsse teilweise oder völliger Verzicht auf Alkohol zumindest als Option möglich sein," meint der Kirchenmann.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des estnischen Instituts für Wirtschaftsforschung (KI) hatte einen 10-Jahres-Tiefststand des Alkoholkonsums in Estland ergeben - gegenwärtig 10,1 Liter (pro Erwachsene Person im Jahr 2018). In einer Studie der Welt-Gesundheitsorganisation wird die These vertreten, ein Angeben des Preises auf Alkohol um 1% würde den Alkoholkonsum um 0,5% senken. Ob eine solche Rechnung auch beim 25fachen in die gegensätzliche Richtung aufgeht, wird die Zukunft zeigen müssen.
In derselben Studie ist ein Rückblick auf die finnische Steuersenkung auf Alkohol um 33% nachzulesen - das geschah 2004 weil Estland der EU beigetreten war.Daraufhin lag der Alkoholkonsum in Finnland 2005 um 12% höher - und der private Import von alkoholischen Getränken verdoppelte sich trotzdem (machte 17% des gesamten Alkoholverbrauchs aus). Die Steuereinnahmen auf Alkohol gingen 2005 in Finnland im Vergleich zu 2003 dennoch um 29% zurück. 2008 und 2009 wurde hob die finnische Regierung dann den Steuersatz sogar mehrfach wieder an - mit dem Ergebnis, dass die Steuereinnahmen um 27% anstiegen (2010, verglichen mit 2007), der Konsum aber nur um 7% zurückging. Die WHO nennt das "die Asymetrie der Elastizität". 

Zuletzt noch eine Stellungnahme der AHK (Auslands-Handelskammer) zum Thema. "Die Bewohner der baltischen Staaten geben europaweit den größten Anteil des Haushaltseinkommens für alkoholische Getränke aus", heißt es hier in einer Pressemeldung unter Berufung auf Zahlen von "Eurostat": "in Estland sind es 5,2 Prozent, in Lettland 4,9 Prozent und in Litauen 4,0 Prozent." In Deutschland liegt der Anteil nur bei 1,4% - na, mal gut, dass die Deutschen nicht direkt neben den Est/innen wohnen., oder?