Dienstag, August 30, 2016

Wenn Esten merkeln

Merkel im (digitalen) Wunderland ...
Der kürzliche Staatsbesuch von Bundeskanzlerin Merkel hinterließ eine Menge schöner Bildchen, Händeschütteln und zur Schau gestellte Merkelsche Bewunderung für die Praxis der estnischen digitale Technologie. Er gab sogar dem im tiefsten Sommerloch von Rechtsradikalen aufgebrachten Gerücht Nahrung, Merkel würde bald aus dem Regierungsamt flüchten und im Ausland Exil suchen: Estland schenkt Merkel eine digitale Staatsbürgerschaft - die Urkunde weist die E-Staatsbürgerschaft Nr. 11867 aus.

Vorbei sind die Zeiten, als Estinnen und Esten froh waren, wenn ihnen nur kein Gazprom-Vertreter oder Putin-Verehrer als hoher Vertreter Deutschlands angeboten wurde (Schröder). Nun ist Estland offenbar schon so weit, tief in die Psyche der deutschen Bundeskanzlerin vorzudringen: gleich zwei Stellungsnahmen lassen sich in der estnischen Presse finden, die persönliche Hintergründe der Person Merkel aufdecken wollen (beide sind bei ERR nachzulesen).

Katrin Laur, estnisch-deutsche Regisseurin und Drehbuchautorin, emigrierte schon 1982 nach Deutschland, lebte in München und Berlin, hatte zeitweise eine Professur an der "Tallinn University, Baltic Film and Media School" und an der Kunsthochschule für Medien in Köln, arbeitet derzeit auch als freie Autorin. In einem Beitrag für "Eesti Päevaleht" schreibt Laur, Merkel sei immer noch beeinflußt von ihrer DDR-Persektive einer sozialistischen gegen eine westliche Gesellschaft. Diese "Westler" habe sie nie richtig verstanden, nie dort in die Schule gegangen, nie ihren Alltag geteilt - daher seien ihre Entscheidungen immer noch von Populismus und Opportunismus beeinflusst. Merkel könne nicht wirklich nachvollziehen wie es sei, wenn man einen Job verliert oder den Arbeitsplatz wechseln muss. Politische Ambitionen habe Merkel eigentlich nie gehabt - zumindest nicht bis zu dem Moment als sie die Chance bekam (durch Helmut Kohl), welche zu entwickeln. Seit 1990 habe sich Merkel mehr bemüht, den Wünschen der Deutschen zu entsprechen, als wirklich ein eigenes politisches Selbstverständnis zu entwickeln; vieles was sie initiiert und realisiert habe, passe mehr zur Politik der Grünen und der SPD als zu ihrer eigenen Partei CDU.

Angela Merkels Gesicht in der estnischen Presse:
Überaltert, müde, orientierungslos? (Eesti Express)
Damit nicht genug: auch Külli-Riin Tigasson, Journalistin bei "Eesti Express", macht sich offenbar Sorgen um die Phsyche der deutschen Kanzlerin. "kuus käsku" ("sechs Gebote") identifiziert dort die Autorin an Merkel fest (abgesehen davon, dass sich der Ausdruck „Kohli tüdrukuks“ - Kohls Mädchen - auch ganz lustig liest, estnisch).

Ethische Prinzipien seien das, die bei Merkel eben stärker seien als Loyalität zu Parteien. Aus Ehrenhaftigkeit, aus Respekt vor anderen habe sie es abgelehnt, Panik und Aufgeregtheit das Wort zu reden. Eine Pastorentochter eben. Und die Entscheidung, die Grenzen nicht vor dem Flüchtlingselend zu verschließen sei eben eine christlich begründete Entscheidung gewesen.

Estland denkt über Deutschland's Spitzenpersonal nach, letztendlich auch über Europa. Was wiedermal zeigt, dass sich Estinnen und Esten, obwohl wortkarg, doch oft in Perspektiven anderer (oder andere Perspektiven) hineinzuversetzen vermögen. Ob Deutschland genauso intensiv über Estland nachdenkt?

Freitag, August 26, 2016

Vorerst weiter mit Ilves

Nur noch wenige Tage sind es, bis in Estland ein neuer Präsident gewählt wird. Tatsächlich? So wird sich mancher fragen, der in den letzten Wochen immer wieder Präsident Ilves bei verschiedenen öffentlichen Anlässen zugeschaut hat. Ilves, seit dem 9. Oktober 2006 Präsident der Republik Estland, sorgt regelmäßig in der Presse für neue Geschichten, und im Internet für Selfies und Twittersprüche. Wer 75.000 Follower auf Twitter hat, und selbst auch schon mehr als 19.000 Twittersprüche abgesetzt hat, der kann sich wohl mit Recht "Twitterpräsident" nennen lassen.
Präsident Ilves bei seiner Vereidigung im Oktober 2011
Erst kürzlich machte eine Auseinandersetzung mit einem US-Amerikaner Schlagzeilen, der wohl nicht so recht wusste, mit wem er es zu tun hatte (Huffington Post). Oder auch mit Nobelpreisträgern legte sich Ilves bevorzugt (und öffentlichkeitswirksam) per Twitter an. Also, ob nun durch Scheidung und dritte Heirat, durch Selfies auf Musikfestivals, oder als eifrigen Nutzer von Technologien, die in Estland erfunden und entwickelt wurden - Toomas Hendrik Ilves war multimedial sehr präsent.

So gut wie nichts ist dagegen bisher über die erste Runde der Präsidentschaftswahlen außerhalb Estlands bekannt - die erste Runde wird bereits am 29. August stattfinden. Offiziell endet die zweite Amtsperiode von Ilves am 10.Oktober, daher bleibt noch Zeit auf weitere Wahlgänge zu warten. Die 101 Abgeordneten des estnischen Parlaments sind am 29. August aufgerufen, sich für eine oder einen der nominierten Kandidat/innen zu entscheiden. Erhält niemand die 2/3 Mehrheit (68 Stimmen oder mehr), wird es am 30. August eine zweite Wahlrunde geben. Ergibt sich auch dann noch keine Entscheidung, wird eine dritte Wahlrunde angesetzt mit nur noch den beiden stimmenstärksten Kandidat/innen der zweiten Runde, aber mit derselben Voraussetzung: 68 Stimmen (siehe Infos estnische Wahlkommission). Ergibt auch das noch keine Entscheidung, wird etwa ein Monat vergehen, bis ein erweitertes Wahlgremium zusammengerufen wird, zu dem zusätzlich 234 Vertreter der Regionen zusammengerufen werden, also insgesamt 335 Personen. Hier gilt dann die einfache Mehrheit (Info zu bisherigen Wahlergebnissen).

Immer vorteilhaft für's Kandidaten-
dasein: sich rechtzeitig in den
Nationalfarben kleiden (hier: Kaljurand)
Wer steht zur Wahl? Zur Nominierung braucht es die Unterstützung von mindestens 21 Abgeordneten.Nun, der staatliche estnische Nachrichtendienst ERR hat die amtierende estnische Aussenminsterin Marina Kaljurand, die am 6. September 54 Jahre alt wird, bereits zur "idealen Kandidatin" ausgerufen: offiziell ist sie keiner Partei besonders nahe, aber falls der offizielle Kandidat der regierenden Reformpartei, Ex-EU-Kommissar Siim Kallas, scheitern sollte, gilt sie als ideale Wahl besonders für die zweite Wahlrunde. Ihr Ruf als Diplomatin und "estnische Freiheitskämpferin" wurde vor allem 2007 begründet, als sie während der Unruhen rund um die plötzliche Versetzung des Bronzesoldaten in Tallinn estnische Botschafterin in Moskau war und dort von russischen Nationalisten angegriffen wurde (delfi); daher gilt Kaljurand (geborene Marina Rajevskaja) als Kandidatin mit großer Unterstützung unter den Estinnen und Esten - auch wenn es in Estland keine Direktwahl des Präsidenten gibt. Ihre Mutter ist Russin - das setzt sie zwar der Kritik der Rechten aus; aber: eine Frau als Präsidentin - das würde ein wenig dem entgegen wirken, dass zwar zwei Drittel aller Universitätsstudenten weiblich sind, die Parlamentssitze aber nur zu 1/4 von Frauen eingenommen werden.

Siim Kallas, nominiert von der Reformpartei, kann sicherlich als politisches Schwergewicht mit viel Erfahrung gelten, vor allem in Wirtschafts- und Finanzfragen. Als "Anti-Griechenland-Modell" kennzeichnet ERR das, was er für Estland vertritt. Sein Nachteil ist vielleicht, dass er als Bestandteil der estnischen Elite gilt - und das schon sehr lange. Müsste er vom Volk gewählt werden, wäre seine Wahl ziemlich unsicher. Zudem ist er eben nicht der Kandidat der Jugend (er wird am 2. Oktober 69 Jahre alt), und wohl auch nicht der russischsprachigen Minderheit. Es gibt allerdings auch Vermutungen, denen zufolge er unter anderem deshalb als Kandidat benannt wurde, weil die Reformpartei verhindern wollte dass Kallas nach seiner Rückkehr aus Brüssel eine eigene, neue Partei gründet. Ob es da hilfreich ist, nur für eine Amtszeit kandidieren zu wollen?

Mailis Reps (41), die Kandidatin der oppositionellen Zentrumspartei und Mutter von fünf Kindern, wurde relativ überraschend aufs Schild gehoben. Das hat vielleicht damit zu tun, meinen die Kommentatoren der ERR, dass manch andere Führungsfigur dieser Partei, die sich immer gern als Vertreterin der Interessen auch der Russen in Estland ausgibt, als zu kontrovers und umstritten galten. Die ehemalige Bildungsministerin ist also die zweite Kandidatin neben Marju Kaljurand die es schaffen könnte, als erste Frau estnische Präsidentin zu werden. Da sie mit dem lettischen Juristen Agris Repšs verheiratet ist, würde sie für die lettisch-estnische präsidiale Verbindung eine Fortsetzung darstellen - diesmal anders herum.

Dann gibt es noch Allar Jõks (51), Kandidat der kleineren rechtsgerichteten Parteien "Pro Patria", "Res Publica Union (IRL)" und "Vabaerakond" (Freie Partei). Als Ex-Richter gilt er als "Law and Order"-Kandidat, auch als Kandidat derjenigen, die keinen linken, aber auch keinen Kandidat der bisherigen Elite wählen wollen. Er spricht sich für mehr Transparenz in der Politik aus. Die ERR-Kommentatoren notieren jedoch auch, dass er auf der einen Seite zwar wichtige Erfahrungen einbringen könnte wenn es um juristische Fragen geht, aber andererseits auch schon durch sexistische Witze auffiel, was nicht jeden störte, aber fragen aufwirft was das erwünschte Benehmen eines Präsidenten angeht.

Ob der estnische Rechtsaußen Mart Helme (66), ein Donald-Trump-Fan, als Kandidat seiner EKRE-Partei (Konservative Volkspartei) wirklich Chancen hat, muss abgewartet werden. EKRE-Ehrenvorsitzender ist immerhin Ex-Präsident Arnold Rüütel.

Bleibt noch Eiki Nestor, Kandidat der sozialdemokratischen Partei, mehrfacher Ex-Minister, wird am 5.September 63 Jahre alt. ERR stuft ihn als Kandidat der eher traditionellen Statur ein, Vaterfigur und "elder Statesman". Eher vom Typ Arnold Rüütel als Hendrik Ilves. Von ihm würde man sicher keine skandalösen Tweets auf Twitter erwarten (befürchten) müssen, aber soll man sich einen unauffälligen, ehrenhaften Präsidenten wirklich wünschen? Die Wahlrunden werden zeigen, wo die Vorlieben liegen, und welche Wahlkoalitionen sich vielleicht bilden. Wahrscheinlich ist, dass Ilves Estland noch ein paar Woche erhalten bleibt - bis zum Oktober.