Ich bin dann mal weg - auf e-Reise
Dienstreisen im Internet - geht leider noch nicht. Aber Dienstreisen für die digitalen Ziele, vorzugsweise ins kleine Estland, waren in den vergangenen Monaten sehr beliebt. Fragen Sie doch mal Ihren Stadtbürgermeister oder Landrat: wer war noch nicht, wer will noch mal?
Auf die Namensähnlichkeit der beiden Länder Estland und Emsland setzt eventuell Landrat Reinhard Winter anläßlich einer Bildungskonferenz in Meppen. Und schon schreibt die "
Neue Osnabrücker Zeitung" von einer "Bildungsregion Emsland", auch wenn bisher lediglich von Herausforderungen, und viel weniger von bereits Erreichtem die Rede ist. Gastreferent Kaarel Rundu, Leiter der Deutschen Schule in Tallinn, wird hier mit den Worten angekündigt: "Estland gilt als eines der technologisiertesten Länder der Welt." Wovon war noch gleich die Rede? Von Estland und Emsland, richtig.
Hinterher laufen, oder hinken?
"Estland hat uns abgehängt", meint Unternehmer
Reinhold von Eben-Worléein "Die Welt". "Wir hinken 20 Jahre hinterher", wird der deutsche Botschafter Christoph Eichhorn zitiert, anlässlich des Besuchs einer Wirtschaftsdelegation aus der Region Ortenau in Estland. „Wenn die viertgrößte Industrienation sich an Estland orientieren muss, dann ist irgendetwas schiefgelaufen!“ meint der Kasseler Landrat Uwe Schmidt in einem Vortrag für den Städte- und Gemeindebund (nh24, ähnlich in HNA)
Dabei müssen wir aus deutscher Sicht jedoch auch diese Methaphern hinterfragen: "abgehängt" im Sinne des Waggons eines Zuges, von dem Deutschland nun abgekoppelt ist? Oder ist hier eher das Wettrennen gemeint, wo Estland vorausläuft und Deutschland schlicht schon die Geschwindigkeit nicht mithalten kann? "Hinken", weil wir krank sind, oder weil wir uns nur krank stellen? - Es wäre gut, zu wissen wie das Ziel aussieht, bevor die Entscheidung fällt an einem Rennen teilzunehmen.
Oder laufen hier wirklich nur alle einfach los? Mitarbeiter/innen der Botschaft Estlands in Deutschland haben inzwischen die drei Regeln der estnischen digitalen Welt zur weiten Verbreitung in Deutschland verholfen; nur in drei Fällen müsse man noch persönlich erscheinen: bei Heirat, Scheidung und dem Erwerb von Häusern. Dieser Regelsatz findet sich inzwischen in vielen Estland-Berichten wieder.
Estland liegt in Europa
Und der Datenschutz? Während vor einigen Jahren die erfinderischen Est/innen noch an "deutschen Lösungen" bastelten, um ihre Soft- oder Hardware auch in Deutschland verkaufen zu können, heißt es jetzt einfach: "die EU-Datenschutzgrundverordnung gilt ja auch in Estland." (Eben-Worléein)
Dabei sind die "Lerneffekte" von Dienstreisen nach Estland offenbar durchaus unterschiedlich. Der Schweizer Nationalrat Christian Wasserfallen kritisiert den Schreibkram beim Eintrag ins Handelsregister - derweil arbeitet die Schweiz an digitalen Chips, um die Ohren der Kühe damit ausstatten zu können, und in der Freilandhaltung deren Laufwege aufzeichnen zu können. (der Bund) Um zu schildern was der Schweiz passieren kann, wenn in puncto Digitalisierung nichts getan wird, zitiert die "Berner Zeitung" ebenfalls einen estnischen Experten: "Die Schweiz würde allmählich ein ganz normales, altmodisches europäisches Land."
Reicht es nicht mehr, einfach nur "normal" zu sein? Die NWZ diagnostizierte für Niedersachen "digitalen Neid im Untertanenland". Auch Tirol denkt wohl an Estland, wenn dort über "E-Tirol" nachgedacht wird ("Unser-Tirol"). Und in Saarbrücken gibt es Menschen die daran glauben, "zum Estland der Bundesrepublik" werden zu können (Saarbrücker Zeitung). Estland als "Sehnsuchsort für Internet-affine Menschen" - so formuliert es die FAZ.
Rückkehr ins Land der schleichenden Daten
Aber ist denn das, was die vielen Delegationen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gegenwärtig in Estland besichtigen, zu Hause auch umsetzbar? "NRW will Estland einholen" berichtet das Portal "Kommunal". Wer Glück hat, wohnt in Aachen, Gelsenkirchen, Soest, Wuppertal oder Ostwestfalen-Lippe - nach dem Willen der NRW-Landesregierung jetzt "digitale Modellregionen".
Die "Stuttgarter Nachrichten" zitieren Florian Schröder, Geschäftsführer der Auslandshandelskammer Baltische Staaten, mit den Worten: "Sobald sie im Heimatland landen, beginnen die Bedenken und Zweifel. Aus estnischer Sicht ist es unvorstellbar, dass ein reiches Land wie Deutschland, das technologisch führend sein will, gar nichts davon umsetzt.“
Auch für diese Zweifler und Frustrierten hat Estland ja längst etwas geschaffen: die Möglichkeit, eine digitale E-Staatsbürgerschaft in Estland zu erlangen. "Aus Deutschland kommen die meisten Anträge!" Das verrät Taavi Kotka, einer der führenden estnischen IT-Experten.
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