Mittwoch, August 30, 2006

Nicht gewählt - der Nächste bitte! Teil Drei

Ilves hat es in zwei Wahlgängen nicht geschafft, und jetzt tritt ein, was hart an der Kante des demokratischen Systems stattfindet. OHNE vorher kandidiert zu haben für die Wahlrunden im Parlament stellt sich der jetzige Präsident zur Wiederwahl in diesem diffusen "Wahlmännergremium", das Gremium mit zusätzlich mehr als zweihundert beteiligten Kommunalvertretern. Dieser Zwischenstand ergab sich aus der Pokerei im Vorfeld und erinnert stark an die Schlußphase beim Stabhochsprung. Bei nur noch zwei möglichen Versuchen, die nächste Höhe auslassen, die Konkurrenten scheitern derweil, während der letzte mögliche Versuch bei der übernächsten Höhe den Erfolg bringt. Nur Wettkampfsport ist keine demokratische Veranstaltung.

Hier die dpa-Meldung:
Nun entscheidet der Verfassung nach ein Wahlmännergremium, bei dem zu den 101 Abgeordneten 246 Kommunalpolitiker hinzukommen. Es soll voraussichtlich am 23. September in Tallinn tagen. Dann will auch der politisch links stehende Amtsinhaber Arnold Rüütel (78) zur Wiederwahl antreten. Seine Unterstützer hatten verhindert, dass der Präsidentenposten durch das Parlament bestimmt wird.

Die Zeitungen in Tallinn diskutierten unterdessen erneut die Generationsunterschiede zwischen dem Ex-Kommunisten Rüütel und dem EU-Parlamentarierer Ilves. Ilves kündigte an, auch vor den Wahlmännern gegen Rüütel zu kandidieren. Ob außer den beiden weitere Bewerber nominiert würden, blieb zunächst unklar.

Dienstag, August 29, 2006

Nicht gewählt- der Nächste bitte! Zweiter Teil

Es ist wie vorhergesagt eingetreten, dass Ilves auch nicht zum Präsidenten gewählt wurde. Das ist die afp- Meldung:

In Estland haben sich die Parlamentsabgeordneten am Dienstag auch im zweiten Anlauf nicht auf ein neues Staatsoberhaupt einigen können. Dem früheren Außenminister Toomas Hendrik Ilves fehlten nach Angaben der Wahlkommission vier Stimmen zur erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit von 68 Stimmen. Der 52-Jährige, derzeit Europaparlamentarier der Sozialdemokraten, erhielt demnach 64 von 101 Stimmen.

Nicht gewählt - der Nächste Bitte!

Ene Ergma, wir erwähnten, ist als erster Kandidat am Montag nicht mit Zweidrittelmehrheit, das war vorhergesagt,zur Präsidentin Estlands gewählt worden. Sie scheidet aus dem Rennen aus und der nächste steht für die folgende Runde bereit. Vielleicht alles "normal". Aber die Parteien planen offensichtlich mit dem Ausschaltspiel im Vorfeld. Einige Parlamentarier kommen deswegen gar nicht erst zur Abstimmung: Nach dem Motto - Hat sowieso keinen Zweck.
Wer so mit einer Wahl für das (repräsentativ) höchste Amt eines Landes umgeht, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich die Menschen von der Politik abwenden.
Giustino beschreibt seine Sicht der Dinge mit harten Worten. Der nächste ist Hendrik Ilves, der aber richtig kandidiert hat und wahrscheinlich durchfallen wird, und am Ende bleibt der jetzige Präsident, der noch wartet und gar nichts sagt:

But it is also true that over the past five years, Arnold Rüütel has remained mostly invisible on an international level. When he speaks he says little, if he can be bothered to speak at all.

In reality he hasn't even campaigned for office this year. He has sat there as useful vanilla, void of any flavor. Rüütel is smarter than he comes across and I think his patient hand has been useful at times. But why should he now be chosen over someone that has actively campaigned for the position and enjoys the majority of popular support? That is baffling to anyone acquainted with reason.

Sonntag, August 27, 2006

Euro für Estland

Estland informiert seit kurzem auf einer eigenen Webseite über alles, was mit der bevorstehenden Einführung des Euro zu tun hat. Auf http://euro.eesti.ee kann jeder nachlesen, der Zweifel haben sollte - ob Estland will, wann Estland einführt, oder was zum Euro-Übergang noch fehlt.

"Estland wird die erste Möglichkeit nutzen, den Euro einzuführen" - so ist dort zum Beispiel nachzulesen - sofern die sogenannten "Maastricht-Kriterien" als erfüllt gelten. Andere Detals:
- Euro und Estnische Krone sollen lediglich zwei Wochen lang nach dem Datum der offiziellen Umstellung parallel gültige Zahlungsmittel sein
- Bankguthaben in Kroon werden automatisch in Euro konvertiert
- ein Jahr lang werden größere Bankfilialen nach der Umstellung noch Umtauschbeträge annehmen, danach wird es die EESTI PANK machen, ohne Umtauschgebühr, ohne Zeitlimit
- die Geschäfte und Läden in Estland werden angewiesen, vier bis sechs Monate vor und auch nach der Umstellung sämtliche Preise in beiden Währungen auszuweisen

- der estnische Ausschuß für Verbraucherschutz wird Preisentwicklungen vor und nach der Umstellung genau beobachten

Weitere Details zur Euro-Einführung in Estland gibt es (Englisch) hier.

Die estnischen Euro-Münzen werden übrigens in Finnland geprägt werden - wie die finnische Botschaft in Tallinn schon Ende 2005 stolz bekanntgab (dabei hatten u.a. Angebote der Muenze Oesterreichs und der Staatlichen Muenze Baden-Württemberg das Nachsehen).

Wie werden die estnischen Euro-Münzen aussehen? Darüber wurde Ende 2004 in einer öffentlichen Abstimmung entschieden. Alle 10 Wettbewerbsdesigns, und die Ergebnisse der Auswahl, sind hier zu sehen.

Samstag, August 26, 2006

Welcome to Estonia (fotografiert von megapiksel)


Welcome to Estonia
Originally uploaded by megapiksel.
Das Motiv ist in Pärnu aufgenommen. "Megapiksel" hat nicht viele Aufnahmen veröffentlicht, aber mit einem Klick auf das Bild kommt man zu weiteren Informationen, was die estnische Architektur betrifft.

Freitag, August 25, 2006

"Democracy in an information society"

Der letzte Beitrag "Präsidenten-Schacher" ist Politik der Vergangenheit. Es ist genau das, was viele von der Politik abstößt, sie entfremdet. Dabei findet gerade eine technische Revolution statt, die genau das Gegenteil bewirken könnte.
"Democracy in an information society" war eine Konferenz im Juni in Estland. Ein Teil der Expertenbeiträge ist online abhörbar. Herausragend der Beitrag des Engländers Stephen Coleman. Kein Unbekannter wenn es um E-Demokratie geht. Der Titel: Democracy in the internet age. Sollte jemand Lust bekommen, sich wieder für politische Belange zu begeistern, ist dies der richtige Vortrag. Am Anfang gibt es einleitende estnische Worte, dann legt Coleman aber richtig los. Danke Peeter Marvet, der Ernst macht mit der freien Informationsverbreitung.

Präsidenten-Schacher

Montag geht's los und mir wird dabei unwohl. Estland bewegt sich mit seiner Präsidentenwahl, der Art und Weise des Prozedere hart an der Grenze der demokratischen Grundregeln. Es ist eine schamlose Dealerei zwischen den Parteien, Ausbooten von Kandidaten, alles was erlaubt ist. Und das Ende findet womöglich wieder hinter verschlossenen Türen statt.
Die Mitteldeutsche Zeitung gibt es ganz gut wieder:
«Es ist das Paradoxon des estnischen Systems - wir durchlaufen simulierten Wettbewerb im Parlament, doch ohne echte Aussagekraft. Und dann gibt ein Deal hinter verschlossenen Türen Rüütel die Präsidentschaft», meint der Dekan für Politikwissenschaften in der Universität Tartu (Dorpat), Vello Pettai. Als «rechte Testkandidatin» werde wohl im ersten Wahlgang die Parlamentsvizepräsidentin Ene Ergma (62) aufgeboten. Auch Regierungschef Andrus Ansip hat sich zuletzt in Interviews wiederholt einen jüngeren, weltläufigeren Präsidenten als Rüütel gewünscht.

First Lady Ingrid Rüütel verwahrte sich umgehend gegen solche Angriffe. «Nicht alle Präsidenten sprechen Englisch und es gibt Präsidenten in Europa, die älter als mein Mann sind», sagte sie im Gespräch mit «Postimees», der wichtigsten Tageszeitung der Ostseerepublik. Tatsächlich ist Rüütel zwar in den ländlichen Gegenden höchst anerkannt, für die städtischen Intellektuellen bleibt der Agrarexperte und ehemals hochrangige Kommunist aber ein rotes Tuch.


Aber besser den ganzen Text lesen, hier.
Schon beim letzten Mal blieb mein Favorit Peeter Tulviste, der ehemals Rektor der Uni Tartu war, auf der Strecke. Der Junge hätte aber international sein Land gut vertreten können, da er was zu sagen hat. Bei Rüütel können sich die Kommunalvertreter vom Lande wohl fühlen, aber zur Wahrnehmung Estlands im Ausland, in Deutschland, hat der jetzige Präsident nicht viel beigetragen. Keine Provokationen, keine Seitenhiebe, keine historischen Sticheleien und Fundstücke, wie sie sein Vorgänger geliefert hat. Alles nur Protokoll.

Mittwoch, August 23, 2006

Und noch eine WM - in Estlands Wäldern

In der vergangenen Woche (16.-19.August 2006) fanden in Otepää / Estland Weltmeisterschaften statt. Sie schafften es in Deutschland (trotz deutscher Siege) bisher nicht in die Hauptnachrichten - erregen aber Aufsehen in Ostwürttemberg und Thüringen. Worum es geht? In Estland ausnahmsweise mal nicht um Internet und virtuelle Welten, sondern etwas ganz Konkretes und beinahe Archaisches: um die alle zwei Jahre stattfindenden Weltmeisterschaften im Baumfällen.

Dann wird es aber auch schon wieder elektronisch: per SMS meldete der technische Leiter des deutschen Baumfäll-Teams,
Markus Wick, den Sieg von Gottfried Schädlich aus Thüringen an seine Heidenheimer Lokalzeitung. Dem 53-Jährigen aus Zeulrenroda gelang es im Wettbewerb, einen Baum punktgenau auf einen in 15 Metern Entfernung stehenden Zielpfahl fallen zu lassen. Er erreichte 660 von 660 möglichen Punkten. „Zeulenrodaer ist Weltmeister“ titelte denn auch die „Ost-thüringer Zeitung“.
Beim gleichen Wettbewerb gibt es auch so nervenaufreibende Wettkämpfe wie "Kettenwechsel", "Gipfelentastung" oder "Präzisionsschnitt".
Den Pressemeldungen zufolge belegte Deutschland in der Endabrechnung Platz 3 hinter Estland und Italien. Die estnischen Waldarbeiter müssen sich demnach an heimischer Borke gewaltig gesteigert haben, denn bei den Meisterschaften 2004 in Italien und 2002 in Schottland war von ihnen noch nicht so groß die Rede gewesen (AFZ Der Wald). Gottfried Schädlich war bereits 2002 Weltmeister in der Einzelwertung geworden. Mehr Fotos vom Waldarbeiter-Wettsägen in Otepää sind auf der Homepage der Veranstalter zu sehen. Die genauen Details zu den Resultaten der Wettbewerbe sind ebenfalls hier abzurufen.

Nicht Ferraris oder Mercedes sind die Traummarken der Kettensägen-Fans: DOLMAR, HUSQVARNA oder STIHL sind hier die kampfstarken Marken (siehe auch Wettbewerbe der deutschen Nationalmannschaft). Wer sich ein solches Spektakel demnächst einmal auf deutschem Boden ansehen möchte, dem bleiben noch die Gelegenheiten 15.-19. 9.2006 (Landesmeisterschaft Thüringen in Gehren bei Erfurt), 16.-17.9.2006:(Landesmeisterschaft Schleswig-Holstein in Trappenkamp), oder 29.9.-1.10.2006 Waldarbeitsmeisterschaft Baden-Württemberg in Königsbronn/Ochsenberg (bei Heidenheim).

Aber was schreien eigentlich die Esten, wenn der Baum fällt? "Tiiiiimmmbeeeer" sicher nicht, oder? Wer weiß es?

Donnerstag, August 17, 2006

Alles ist relativ -Estland von ganz weit weg


betrachtet: Das ist ein Ausschnitt aus einer beliebten Weltkarte, die oft in Studentenzimmern in Korea haengt. Koreaner sind nicht gerade Geographie-Enthusiasten. Oft fehlt ein ordentlicher Atlas im Haushalt und Kartenlesen gehoert absolut nicht zur nationalen Staerke. Aber, wenn es um den Besitzstreit um eine fast unbewohnte Insel zwischen dem Nachbarn Japan und der eigenen Kueste geht, dann werden alle Register gezogen. Historische Ansprueche, militaerische Flottenbewegungen. Liegen aber andere Laender weit genug weg, werden die Konturen ungenau. Also: bei dieser Karte bekommt das insellose (deswegen neidvolle) Lettland die estnische Hauptinsel Saaremaa zugeschlagen.
Ich hoffe damit nicht wieder einen neuen Grenzstreit loszutreten, von wegen Geheimabsprachen zwischen Riga und Seoul, oder so aehnlich. Konspiration ist ja ein beliebtes Thema im Internet.

Dienstag, August 15, 2006

Unser Paavo!

Der Este Paavo Järvi und die in Bremen beheimatete Deutsche Kammerphilharmonie arbeiten nun seit etwa 2 Jahren zusammen - der Vertrag wurde inzwischen verlängert. Natürlich ist es nicht das einzige Engagement für Järvi - der aus einer berühmten Dirigentenfamilie stammt, und über sehr große internationale Erfahrung verfügt. Aber am 14.August 2006 zeigte das offizielle Bremen, wie sehr der estnische Gastkünstler inzwischen den Bremerinnen und Bremern ans Herz gewachsen ist: anläßlich eines Senatsempfangs war der große Festsaal des Bremer Rathauses beinahe überfüllt mit Fans, Freunden, und Kunstverehrern.

Bürgermeister Jens Böhrnsen lobte die Deutsche Kammerphilharmonie als "Weltklasseorchester" und zitierte Kritikerstimmen,
die Paavo Järvi als "einen der großen Dirigenten seiner Generation" bezeichneten. 2005 war es eine Tournee durch mehrere Ostseestaaten - unter anderem auch in Estland. Dieses Jahr erlebte die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit ihrem Dirigenten Paavo Järvi bereits Konzerthöhepunkte in Japan. "Das ist beste Werbung auch für Bremen!" betonte Geschäftsführer Albert Schmidt besonders gegenüber den im Stadtstaat politisch Verantwortlichen.

Paavo Järvi selbst gab sich in seiner Dankesrede wie gewohnt bescheiden: "Die Bremer Kammerphilharmonie hat auch schon vor unserer Zusammenarbeit gute Erfolge gehabt." Aber offensichtlich fühlt sich Järvi inzwischen von den Bremer Musikfreunden angenommen und auch unterstützt. "Es ist schön zu wissen, dass die Bremer Kammerphilharmonie so viele Freunde hat", sagte er.

Zum Absschluß, kurz vor seiner Abreise zu den Salzburger Festspielen, gab es im großen Saal des Rathauses noch ein Konzert für alle Gäste, mit Werken von Wolfgang Amadeus Mozart. Ein willkommener Musikgenuß, der mit großen Applaus von den über 300 Gästen entgegengenommen wurde.

Weitere Infos:
- Konzerttermine Deutsche Kammerphilharmonie Bremen
- Paavo Järvi ist inzwischen auch Chefdirigent des Syphonieorchesters des Hessischen Rundfunks geworden. Die ersten Konzerte finden hier am 12./13.Oktober in Frankfurt statt.
- Webseite von Paavo Järvi
- Paavo Järvi Discography
- Konzerttermine mit Paavo Järvi
- Paavo-Järvi-Fanseite (the Paavo Project, Englisch)
- Bericht KLASSIK HEUTE zur Japan-Tournee der Deutschen Kammerphilharmonie
- Info zu Paavo Järvi anläßlich des Beethovenfests Bonn
- Interview mit Paavo Järvi in KLASSIK HEUTE

Sonntag, August 13, 2006

The Baltics 'rulez'

Tagelang fand die Europameisterschaft der Leichtathleten ohne die Balten statt. Gemeint sind die Vergabe der Medallien. Aber wer die Ausgangslage kannte, wusste, dass im Diskus noch was geht. Da haben sie gleich die ersten drei Plaetze unter sich ausgemacht:

16:30 Finale:

1 Alekna, Virgilijus LTU 68.67 Litauen

2 Kanter, Gerd EST 68.03 Estland

3 Tammert, Aleksander EST 66.14
Estland

Leichtathletik.de:
Ihm [Alekna] am nächsten kam der Este Gerd Kanter mit 68,03 Metern. Auch sein Landsmann Aleksander Tammert (66,14 m) war auf dem Bronzerang keine Überraschung. Diese Weite wäre aber durchaus auch für die beiden Deutschen drin gewesen.

Die Esten haetten aber auch weiter werfen koennen. (soviel zur Logik der Sportkommentare)
Beim ETV-Sport Sender sind etliche Videos dazu abrufbar.

Mittwoch, August 09, 2006

Ene Ergma - Eine Praesidentschaftskandidatin

Vor den Wahlen zum Staatsoberhaupt Estlands haben wir schon Hendrik Ilves vorgestellt. Auch eine Kandidatin ist im Rennen der zusammengeschmolzenen Bewerbungsgrupe. Das Besondere: sie ist beinharte Wissenschaftlerin. Das heisst, sie kann sich mit weniger Hemmungen mit allen anlegen. Zum Beispiel mit den Pensionaeren oder den Politikern im allgemeinen, das klingt dann so:
RTDinfo: The President of the Estonian Parliament, the Rikogu, Ene Ergma describes how she went into politics to defend science in the latest issue of RTDinfo. Ergma points out that “Education is a long-term project, whereas many politicians are concerned mainly with managing four-year cycles. They also know how to count their voters. In Estonia, there are 3 000 scientists who vote and 300 000 pensioners!”

Hier noch mehr.
Bei uns waere ihre Wahl mit so einem Zitat hinfaellig. Oder liege ich falsch.

Donnerstag, August 03, 2006

Die estnische Grenze - Russlands Schwelle zur Demokratie?

Noch ein Nachtrag zum G8-Gipfel in St.Petersburg. Das hat nichts mit Estland zu tun? Doch - dafür sorgten schon die krassen Sicherheitsmaßnahmen des russischen Militärs und der Polizei. Von deutscher Seite betroffen waren zwei relativ unbefangene Studenten aus Bielefeld: Akribisch Protokoll geführt hat das Bielefelder Campus-Radio "Hertz 87,9" (also quasi "Kolleg/innen" - siehe auch "Baltische Stunde").

Am Anfang war eine lustige Fahrradtour ...
Eike Korfhage und Henning Wallerius, beide Studenten der Journalistik und Fotografie in Bielefeld, hatten sich einer Radtour von G8-Kritikern angeschlossen,
die quer durch die baltischen Staaten nach St.Petersburg radeln wollten, um auf Globalisierungsfragen aufmerksam zu machen. Korfhage und Wallerius selbst wollten aber lediglich dokumentieren und berichten darüber.

Einige Tage lang (Start Anfang Juni in Berlin) war es eine mehr oder weniger stressige Radtour - wie üblich, wenn man eigentlich viel zu wenig Blicke für die Landschaft übrig hat, weil man ja andere Ziele hat ...
Bereits einge Tage vor dem Gipfel "glücklich" in St.Petersburg angekommen, wurden die beiden Deutschen dann Opfer polizeilicher Willkür in Russland - der genaue Ablauf ist bei dem "Heimatsender" der beiden ("Campus-Radio") nachzulesen. Eines Abends erschien dann Miliz in der Wohnung, wo die Deutschen zusammen mit anderen privat untergebracht waren, und verhaftete die beiden unter höchst fadenscheinigen Gründen ("öffentliches Urinieren gegen ein Auto" - wobei aber die beiden Polizeibeamten die einzigen Zeugen gewesen sein wollen..).

Russland von innen
Nachteil für die russichen Behörden, dass die Sache aufgrund des internationalen Medieninteresses nicht "unter der Decke" gehalten werden konnte. Nach der Verhaftung gab es immer wieder Zeiträume, wo die beiden Deutschen per Handy mit ihrem Campusradio in Kontakt treten konnten (alle Telefonate per Podcast abrufbar). Trotz aller Ungewissheit (Befürchtungen für 15 Tage im russischen Knast "zu verschwinden") klang bei allen Gesprächen imm
er wieder die Sorge durch, dass es anderen Verhafteten, die nicht "aus dem Westen" kommen, noch viel schlimmer gehen könnte (da niemand darüber berichtete). Dennoch wurde dieser Fall geradezu zu einem Anschauungsbeispiel, wie es aktuell um die Möglichkeiten der freien Meinungsäusserung bestellt ist in Russland.

"Methoden wie im Lukaschenko-Staat" - so urteilte das sonst immer gut informierte "Russland-Aktuell" - und begründen es mit Fakten: auch dort hatte, vor der Präsidentschaftwahl, die weißrussische Polizei Leute von der Straße weg verhaftet und mit Begründungen wie "Fluchen in der Öffentlichkeit" für 15 Tage im Knast verschwinden lassen. "Reporter ohne Grenzen", die sich weltweit für die Pressefreiheit und die Arbeitsbedingungen von Journalisten einsetzt, bericht auch von Zukunftsplänen der russischen Gesetzgeber: demnächst soll "Beleidigung von Regierungsvertretern" als "extremistisch" gelten. So züchtet man wohl Terroristen ...

Die TAZ zitierte den SPD-Bundestagsabgeordneten Rainer Wend mit der Aussage:
"Es liegt die Vermutung nahe, dass die beiden von der Berichtserstattung über den G8-Gipfel abgehalten werden sollten." BELLONA zitiert Dmitry Makarov, der am Rande des G8-Gipfels bemüht war, inhaftierten Demonstranten von NGO-Seite aus juristischen Beistand zu geben. Makarov sagt: "Es zeigt sich mal wieder, wie schnell repressive Maßnahmen hier plötzlich eingeführt und umgesetzt werden können." Die TAZ zitiert Henning Wallerius mit der Aussage: "wir haben erlebt, dass sich Miliz und Gerichte die Beweise zurechtbiegen können. Das zeugt nicht unbedingt von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.".

Bei den eigentlichen Demonstrationen am Rande des G8-Gipfels sollen, verschiedenen Presseberichten zufolge, dann zwischen 22 und 37 Menschen festgenommen worden sein (siehe auch FAZ-Bericht). Es wurden auch weitere Journalisten verhaftet, wie u.a. BELLONA berichtet. Dort wird der Ukrainer Maxim Butkevich zitiert,
der verhaftet wurde, weil er auf dem Nevsky Prospekt mit einer Kamera filmte.
"Es scheint mir, dass einzig die unter den Verhafteten befindlichen Bürger aus Belarus den Umgang der russischen Polzei okay fanden - denn gegen sie wurde auch kein Verfahren eröffnet," sagt Natalya Zvyagina, die als Juristin die Demomnstranten in St.Petersburg ebenfalls unterstützen wollte (was diese Weißrussen dann wohl zu Hause erwartet?)

Ab nach Estland!
Eike Korfhage und Henning Wallerius kamen am 15.Juli 2006 aus dem russischen Gefängnis wieder frei und wurden - nach Estland abgeschoben! Vielleicht, weil sie von Estland aus in Russland eingereist waren? Oder, weil Estland das erste "sichere" (demokratische?) Land in der Nähe ist? Die estnischen Behörden wollten wohl aus diesem Politikum keinen "Modellfall" machen, und gaben keine Erlaubnis für eine kurzfristig in Tallinn von estnischen G8-Aktivisten beantragten Solidaritätsdemonstration für die übrigen immer noch in St.Petersburg in Haft Sitzenden.

"Wir sind unheimlich froh, da raus zu sein" - so die beiden deutschen Journalisten gegenüber ihren Unterstützern in Bielefeld. Sie waren zunächst in Narwa in einer Schule untergekommen (Podcast des Telefoninterviews aus Narwa, nach der Freilassung). "Das große Presseecho hat uns erstaunt", erklären die beiden den interessierten Medienkollegen. "Aber in Russland sind Leute, die Bahnfahrkarten nach Petersburg gekauft hatten, teilweise direkt danach zu Hause verhaftet worden" erzählt Henning Wallerius im Interview mit dem Campusradio (in Russland sind die Fahrkarten personifiziert und in der EDV gespeichert), "und in den Zügen sind dann nochmal sehr viele festgesetzt worden."

Einblicke in das, was Estland als "demokratische Grenze nach Osten" noch blühen kann? Immerhin konnten Angestellte des deutschen Konsulats in St.Petersburg den Verhafteten im Gefängnis helfen, und waren auch bei den Verhandlungen dabei. Aber in diesem Fall waren immerhin keinerlei Bombendrohungen, nicht einmal Androhung gewaltsamer Aktionen im Spiel. "Wir haben auf jeden Fall eindeutige Erfahrungen gemacht, was Russland von freier Meinungsäusserung oder von Menschenrechten hält", so erzählt Henning Wallerius. Am Tag nach seiner Freilassung vermutete er auch, dass die Freilassung mit dem Start des G8-Gipfels zu tun haben könnte, der gerade zeitgleich in St.Petersburg über die Bühne ging.

Vielleicht wird nun das Zitieren solcher Erfahrungen auch schon als "anti-russische Stimmungsmache" eingestuft? Ich persönlich kenne auch viele nette Russen. Aber was können die für ihre Staatsorgane? Und was können die dafür, wenn uns mal wieder übereifrige Funktionäre einschlägiger sogenannter "Russland-freundlicher" Organisationen in Estland erzählen wollen, wie "diktatorisch" es doch in Estland zugehe?

Weitere Berichte im Netz zum Thema:
Tagebuchseite CARAVAN2006 der Radtour-Organisatoren (mit Bericht Riga - Podcast Soundfile - und Foto der Radler bei der Durchfahrt durch Tartu)
Homepage von HERTZ 87,9, mit vielen Infos und Podcast-Dateien, auch weiteren Presselinks
Freelens (Verband der Fotojournalisten)
Deutschlandfunk - Campus und Karriere
Neue Rheinische Zeitung vom 18.7.06
DER SPIEGEL online
Westdeutscher Rundfunk WDR
WDR "Westzeit" (inklusive Interview mit den Studenten)
TAZ vom 15.7.06
FAZ vom 17.7.06
ZDF "HEUTE" vom 14.7.06
Berliner Morgenpost vom 16.7.06
Krusenstern (Schweizer Newsportal "Zwischen Ost und West")
Weblog "Outwrite"
Portal Russland-Aktuell
Gipfelsoli Infogruppe
Reporter ohne Grenzen (Pressemitteilung vom 14.7.06)
Stellungnahme der Gewerschaft VER.DI / DJU
Amnesty International
BELLONA - russisch-norwegische NGO (Info englisch)
Schweizer Journal "20minuten"
Infos bei "Infoladen Moskito" zu einer weiteren Verhaftung von Mihail Lunkovskij, eines russischen G8-Aktivisten (dort auch gute Berichte zu den näheren Umständen der Ereignisse in St.Petersburg)
St.Petersburg Times (englisch)
MOSNEWS.COM
POLIT.RU (russisch)
Postimees (estnisch)
Pärnu Postimees (estnisch)
Valgamaalane (estnisch, mit großem Foto!)