Sonntag, Oktober 23, 2016

Zaubersuppe aus Estland

Eine Filmstadt in Estland - die soll erst noch gebaut werden. "Tallinn Film Wonderland" in Kopli, einem Stadtteil von Tallinn (ERR), soll ab Ende 2018 als Filmproduktionsstätte dienen und Arbeitsstätte für 17 Filmproduktionsfirmen werden.

Da ist es doch günstig, dass auch Estlands zweite große Stadt Tartu filmisch etwas zu bieten hat: neu in deutschen Kinos ist nun "der Geheimbund von Suppenstadt" zu sehen, ein Film der in Tartu spielt und diese schöne, alte Stadt im besten Lichte zeigt. Unabhängig von der Meinung, die Kinder sich bilden werden - das eigentliche Zielpublikum - ist vielleicht jetzt schon klar, welche Bilder aus diesem Film den Zuschauern am meisten im Gedächtnis bleiben werden: fröhliche, radfahrende Kinder im romantisch wirkender, sonnendurchflutender Umgebung, zwischen wild wuchernden Gärten und bunten Holzhäusern. Ein Film, wie ihn sich Bürgermeister wünschen:Tartu erscheint in ziemlich bestem Licht, dank den Möglichkeiten von kamerabestückten fliegenden Drohnen und digitaler Filmtechnik.

Schade, dass der Film sich in seiner deutschen Fassung so gar nicht am Estnischen orientiert: würde doch auch ein Name wie "Supilinn" für Kinder recht lustig wirken. Deutsch synchronisiert aber wirken auch alle Kinderpersönlichkeiten ein wenig eingedeutscht, und über den eigentlichen Hintergrund der Bezeichnung "Suppenstadt" erfährt der Kinobesucher leider nichts (viele Straßennamen wie Suppenzutaten: Kartoffel-, Kürbis-, Erbsen-, Sellerie-, oder Kohlstraße). Manchmal ist auch zu vermuten, dass die estnischen Originaldialoge weitaus frischer waren als die synchronisierte Fassung, wo Sätze vorkommen als seien sie von vorbildlichen Eltern geschrieben: "Opa, ich bins, mit meinen Freunden!"

Doch zur Story des Films. Wieder einmal ist es ein Versuch, die Welt der Kinder mit derjenigen der Erwachsenen zu spiegeln: wie wäre es denn, wenn mal die Erwachsenen wild und ungestüm herumspringen würden, seltsame Laute ausstoßend? In der romantischen Suppenstadt, wo es viele abenteuerliche Ecken zum Radfahren und Verstecken, aber auch eine Open-Air-Bühne für Theateraufführungen gibt, geht ein mysteriöser Maskenmensch umher, der seltsame Mixturen in die Getränke der Erwachsenen mischt, wodurch sie kindisches Gebahren annehmen und sogar mit dem Tode bedroht sind. Wohl dem, der einen schlauen Opa hat! Tiit Lilleorg, in Estland bereits bekannt aus vielen Filmen und vom Theater Vanemuine in Tartu, spielt diesen Großvater Peeter eindrucksvoll und glaubwürdig (immer gut, wenn so ein Großvater von eher kleiner Statur ist, und die Kinder nicht weit überragt). Diese Kinder haben Smartphones, und schauen auch mal im Internet nach wenn sie etwas nicht wissen - aber dieser Opa arbeitet nicht nur mit Laptop, seine Werkstatt hat etwas von einem Daniel Düsentrieb, und spätestens wenn die Kinder dort angekommen sind, scheint das Abenteuer sicher. Doch Sadu (Arabella Antons), Olav (Hugo Soosaar) und Anton (Karl Jakob Vibur), die drei Freund/innen der Hauptheldin Mari (Olivia Viikant), wollen anfangs nicht so recht glauben an verborgene Schätze, die mittels Mari's Rätselaufgaben (vom Opa erdacht) gefunden werden sollen. Vielleicht haben auch die Zuschauer ihre Schwierigkeiten, in die Geschichte reinzufinden: die estnischen Namen klingen doch recht ungewöhnlich, und werden erst im Laufe der Geschichte irgendwo mal erwähnt, wo es der Lauf der Ereignisse irgendwie erlaubt. Identifikationsfigur wird also bei diesen estnischen Detektivgeschichten, die man auch für eine Variation der "drei Fragezeichen" halten könnte (wo aber nur Jungs auftreten), eher Mari sein - im richtigen Leben ein Mädchen von 10 Jahre aus Tallinn (Lieblingsfilm: die Vampirtagebücher).

Der Film beginnt recht schwungvoll mit einer Art Straßenfest in der Suppenstadt, untermalt von der estnisch-ukrainischen Band SVJATA VATRA, die zum Tanz aufspielt. Mari's Vater dagegen deutet an, dass im realen Supilinn in Tartu heute niemand mehr sagen würde "der letzte Slum Estlands" (Atlas obscura): Open-Air-Ballett wird wohl nicht in jedem Stadtteil geboten - und auch Tartus Vorstadt ist ja real bereits auf dem Weg zum "In-Viertel" einer jungen, gut verdienenden Generation.
Der weitere Verlauf der Geschichte wird dadurch geprägt, dass der schlaue Opa Peeter leider ebenfalls vom falschen Getränk nascht und vorerst handlungsunfähig in Krankenhaus muss, der Maskenmensch sich aber mit einer unsympatischen anderen Kinderbande verbündet, denen er Geld und Geschenke verspricht, wenn sie etwas gegen Mari und ihre drei Freunde unternehmen. Vor allem der Schluß enthüllt noch einmal eine überraschende Wendung dadurch, dass die Enttarnung des Maskenmensches auf einmal ganze neue Zusammenhänge enthüllt.

Der Film erhielt bei seinen bisherigen Festival-Auftritten vor allem Publikumspreise - was darauf hindeutete, dass Kinder doch eher nach dem Grundsatz Filme schauen: "Hauptsache nicht langweilig!". Denn Langeweile kommt hier bestimmt nicht auf - über die leichten inhaltlichen Überfrachtungen können Kinder sicher gern einfach hinwegsehen. Zudem schafft auch die Filmmusik von Liina Kullerkupp einen leichten, fröhlichen Rhytmus, der die immer wieder rasanten Radel-Kunststücke der Kinder besonders betont (ein Film also auch für Mountainbike-Fans).
Falls die Fans des Supilinn-Films
noch ein wenig drängen - es gäbe
noch mehr Kinderbücher von Mika
Keränen (zu verfilmen, oder ins
Deutsche zu übersetzen)
Ganz nebenbei besteigen die Kinder auch noch den Uhrenturm des Tartuer Rathauses - ganz im Stil der mutigen Studenten, die am selben Ort 1917/18 erstmals die estnische Nationalflagge hissten - so wie es der estnische Film "Nimed marmortahvlil" (zu deutsch "Die Namen auf der Marmortafel") zeigt. Aber das deutsche Publikum kann das vielleicht ebenso vernachlässigen wie die Hinweise, das dringend benötigte geheimnisvolle Notizbuch sei von Soldaten versteckt worden, damit die Besatzer Estlands das Buch nicht entdecken. 

5800 estnische Kinder wurden für diesen Film angeblich gecastet - und eine stattliches Budget von 1,14 Millionen € verbraucht. Die Stadt Tartu hatte kürzlich eine eigene regionalen Filmstiftung gegründet, mit einem Budget von 150.000 Euro jährlich. Der Suppenstadt-Film war einer der ersten Projekte dieser Stiftung, gefördert aus dem Budget für 2014 und 2015, und abgewickelt vom Zentrum für kreative Industrie (TCCI). Sponsoren aus der Wirtschaft gibt es ebenfall, und es scheint klar, was hier angeboten wird: im Film gab es eine eigene Sequenz mit einem Paketwagen der DHL - da freut sich die Firma.

In Estland sahen den Film bisher über 90.000 Kinogänger (der zweiterfolgreichste estnische Film des Jahres 2015, nach "1944").
Die Geschichte basiert auf dem Buch des finnisch-estnischen Schriftstellers Mika Keränen, der in Helsinki geboren wurde und Estnisch an der Universität Tartu studierte. Seit 2008 schreibt Keränen Kinderbücher. Dem Suppenstadt-Kinderfilm also zunächst einmal viel Erfolg - vielleicht verbunden mit dem Wunsch, die deutsche Synchronisation könnte nächstes Mal ruhig ein paar estnische Wörter behalten - denn die "Suppenstadt" ist ja eben nicht bloß als Filmkulisse erschaffen worden, sondern gibt es im realen Leben ja auch.

Montag, Oktober 03, 2016

Codewort "Kersti 68"

Kersti Kaljulaid, 46 Jahre alt und vierfache Mutter, wurde heute zur neuen Präsidentin Estlands gewählt - sie erhielt 81 Stimmen und übertraf damit die notwendige 2/3-Mehrheit von 68 Stimmen deutlich. Estland hat damit erstmals eine Frau als Präsidentin - als Nachfolgerin von Konstantin Päts (1938 - bis zur Besetzung Estlands durch Sowjettruppen am 21.6.1940), Lennart Meri (1992-2001), Arnold Rüütel (2001-2006) und Toomas Hendrik Ilves (2006-2016). Nach mehreren erfolglosen Wahlgängen hatte der Ältestenrat des estnischen Parlaments Kaljulaid als Kompromisskandidatin auserkoren. 90 Parlamentsabgeordnete (von 101) hatten zuvor ihre Unterstützung zugesagt, daher blieb sie diesmal die einzige Kandidatin, denn mindestens 21 Unterstützer sind notwendig.

Die 1969 in Tartu geborene frisch gewählte Präsidentin hat eine interessante Karriere hinter sich - vielleicht auch typisch für die Entwicklung Estlands in den vergangenen Jahrzehnten. Kaljulaid studierte zunächst Biologie, ihre Schwerpunkte damals werden mit Ornithologie einerseits und Genetik andererseits angegeben. Sie schloss dann aber ein Studium der Betriebswirtschaft an und ging in die Wirtschaft. Damals bereits junge Mutter, ging sie zunächst zu "Eesti Telefon" als Verkaufsleiterin, dann als Projektmanagerin zur "Hoiupank", um schließlich einen Posten im Investmentbanking der "Hansapank" zu übernehmen (bevor Hansapank an die Swedbank verkauft wurde). 1999, als Mart Laar (Ismaaliit / Vaterlandsunion) sein zweites Regierungskabinett bildete, wurde Kersti Kaljurand zu seiner Beraterin in Wirtschaftsfragen - drei Jahre lang. In dieser Zeit waren Siim Kallas Finanzminister und Toomas Hendrik Ilves Außenminster Estlans. 2002 wechselte Kaljulaid dann als Direktorin zum Iru Kraftwerk, einem Heizkraftwerk in Maardu in der Umgebung von Tallinn. 2004, nach dem Beitritt Estlands zur Europäischen Union, wurde Kaljulaid zur Vertreterin Estlands beim Europäischen Rechnungshof ernannt. Ihr Dienstsitz war seither also die Rue Alcide De Gasperi in Luxembourg. Der Rechnungshof wacht über die korrekte Verwendung der EU-Finanzen. 
erstaunlich vielleicht - für eine
Estin - dass Estlands neue
Präsidentin erst heute ein
Konto bei Twitter eröffnete

In Estland trat Kaljulaid immer wieder in der Öffentlichkeit auf, teilweise mit eigenen Beiträgen im Radio und für Zeitungen, sie engagierte sich auch für die Belange der Universität Tartu. Dennoch ist sie auch in Estland weit weniger bekannt als die vorher vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten - und so gilt als einer ihrer ersten Vorhaben als Präsidentin, übers Land zu reisen und die einzelnen Regionen zu besuchen. 

Als "Präsidentinnengatte" wird Estland sich an Georgi-Rene Maksimovski gewöhnen müssen, mit dem Kirsti Kaljuraid in zweiter Ehe verheirat ist und mit dem sie zwei Söhne hat. Eine Tochter und ein Sohn stammen aus erster Ehe. Ein Halbbruder, Raimond Kaljulaid, ist als Lokalpolitiker für die Zentrumspartei im Bezirk Põhja in Tallinn aktiv.