Mitte Oktober wird es Regional- und Gemeinderatswahlen in Estland geben. Für gewöhnlich überbieten sich da im Wahlkampf die Parteien in Selbstdarstellung. In der Hauptstadt Tallinn wirkt sich das dann so aus, dass die im Stadtrat bisher regierende Vier-Parteien-Koalition wackelt; neben Eesti 200, die Vaterlandspartei (Isamaa), und den Sozialdemokraten (SDE).versucht sich offenbar besonders Reformpartei neu zu positionieren.
Vor wenigen Tagen verkündeten Vertreter der Reformpartei: "Wir können mit dem gegenwärtigen Bürgermeister nicht weitermachen." (err) Statt dessen wurde aber kein Kandidat der eigenen Partei, sondern Unternehmer Urmas Sõõrumaa für das Bürgermeisteramt vorgeschlagen (reform). Als ausschlaggebender Grund wurde angegeben, man habe sich nicht mit den bisherigen Koalitionspartnern auf eine Abschaffung der Kindergarten-Gebühr einigen können. Bürgermeister und Sozialdemokrat Jevgeni Ossinovski reagierte umgehend und entließ seine beiden Stellvertreter Pärtel-Peeter Pere und Viljar Jaamu (beide Reform Partei). (err) Ordentlich was los in der estnischen Hauptstadt!Hauptstadtgeschacher
Sozialdemokrat Vladimir Svet sprach sich daraufhin für Direktwahlen des Tallinner Bürgermeisters aus und bezeichnete die gegenwärtigen Vorgänge als "Polittheater". Es lohnt aber ein Blick zurück auf die vergangenen Jahre. Für sehr lange Zeit, in den Jahren 2005 bis 2021, konnte die Zentrumspartei über eine absolute Mehrheit im Stadtrat Tallinn verfügen. Danach gab es eine Koalition mit den Sozialdemokraten, die bis 2024 hielt, als der damals amtierende Bürgermeister Mihhail Kõlvart (Zentrum) durch ein Misstrauensvotum abgewählt wurde - indem die Sozialdemokraten mit der Opposition stimmten. Damals wirkte sich dieser Vorgang ziemlich negativ auf die Umfragewerte der Sozialdemokraten aus (err). Sozialdemokrat Jevgeni Ossinovski wurde dann Nachfolger im Bürgermeisteramt, brauchte aber drei Wahlgänge um gewählt zu werden.
"Ich habe nicht die Absicht, noch vor den Wahlen Bürgermeister zu werden", ließ Ex-Bürgermeister Kõlvart (Zentrum) jetzt verlauten lassen (err) Erwartet wird von vielen dennoch, dass er früher oder später ins Amt des Bürgermeisters zurückkehren wird.Gebührenwettbewerb
Den Streit über die Kindergarten-Gebühr halten viele für nur vorgeschoben, denn deren Abschaffung sei schon länger versprochen und bisher von niemand realisiert worden. Zudem lohnt ein Blick in andere Gemeinden, wo die Reformpartei regiert - wie zum Beispiel Tartu: auch dort ist die Kindergarten-Gebühr bisher nicht abgeschafft worden. Immerhin zahlen Eltern in Tartu 81€ pro Monat, während in Tallinn die Gebühr von 71.25€ auf 50€ gesenkt wurde (und eine weitere Senkung auf 35€ ins Auge gefasst war). Aus der Gemeinde Rae, im "Speckgürtel" von Tallinn gelegen, werden sogar Gebühren von 132.90€ gemeldet - es gibt allerdings auch abgestufte Modelle, ab dem dritten Kind ist es dann gebührenfrei (err)
Die ganze Diskussion findet allerdings im "Windschatten" des Großen Estnischen Sängerfests statt. Da setzen vielleicht einige darauf, dass Estinnen und Esten politische Streitfragen in dieser Zeit weniger beachten oder schnell vergessen.Digitale Statistik
Bei insgesamt ungefähr einer Million Wahlberechtigten in Estland lassen sich Wahlstatistiken relativ leicht in Prozent umzurechnen: wenn also 600.000 Menschen zur Wahl gehen sollten, sind das auch ungefähr 60%.
Seit 1999 ist der Prozentsatz der Wahlberechtigten, die vor dem eigentlichen Wahltag schon ihre Wahlentscheidung treffen, beständig angestiegen - für 2025 ist zu erwarten, dass etwa 200.000 Personen online per Internet wählen (das wird vom 13. Oktober an möglich sein) Bei den letzten Kommunalwahlen 2021 machten Online-Wähler/innen 64,6% aller derjenigen aus, die bereits vor dem Wahltag vorab wählten, also 46,9% aller Wähler/innen insgesamt. Auffällig auch: Die Wahlmöglichkeit online nutzen in Estland deutlich mehr Frauen als Männer. (valimised)