Sonntag, April 16, 2023

Musikalisches Märchen

Mirjam Mesak ist wohl vor allem in zwei Regionen ein bekannter Name: in Estland, und in München. An der Staatsoper in München ist sie festes Mitglied des Ensembles. Nun haben musikinteressierte Menschen eine ganz neue Möglichkeit, die inzwischen 32 Jahre junge Estin kennenzulernen: im September 2022 feierte der Film Orphea in love von Regisseur Axel Ranisch an der Bayerischen Staatsoper Premiere mit Mirjam Mesak in der Hauptrolle.

Seitdem ist der Film im Programm mehrerer Festivals gelaufen, neben dem Filmfest München auch bei den "Hofer Filmtagen", beim "Filmfestival Cottbus" und beim "Bremer Filmfest". Wie es der Regisseur Axel Ranisch denn geschafft habe, die Opernsängerin für die Rolle zu gewinnen, wurde Schauspieler Heiko Pinkowski ("Höllbach") nach der Vorführung in Bremen gefragt. Das sei im wesentlichen eine Sache des gegenseitigen Vertrauens, meinte Pinkowski. "Er hat ein paar Aufnahmen gemacht, hat sie ihr gezeigt, um ihr das Gefühl zu geben wie sie im Film wirkt." Außerdem sei das kein "Opernfilm" - obwohl ja die allseits bekannte Legende von "Orpheus" die Grundlage bildet, und ausschließlich Opernmusik zu hören ist. Der bessere Ausdruck sei "musikalisches Liebes-Märchen". Natürlich habe es ihr auch geholfen, dass sie im Film eben auch ein estnisches Mädchen habe spielen dürfen, meinte Mirjam Mesak im Filmgespräch zur Premiere. "Inzwischen bin ich so in die Rolle der Nele reingewachsen, sie ist jetzt ein Teil von mir." 

Nicht nur für Mirjam Mesak als "Nele", sondern auch für Guido Badalamenti als "Kolya" war es die erste Rolle in einem Kinofilm. Beide spielen herausragend zwei Außenseiter, die sich singend und tanzend durch eine ihnen fremde Welt bewegen und ihre eigene Realität erschaffen. Opernliebhaber Fabius beschreibt es in seinem Blog so: "Mesaks faszinierende Mimik und Körpersprache, ihr Wechselspiel von Verletzlichkeit, Verzagtheit, Sehnsucht und Stärke bewegt ebenso wie ihr gesanglicher Vortrag, der Arien, z.B. aus Madama Butterfly oder La Wally, zu emotionalen Brennpunkten macht." 

Regisseur Ranisch ist dafür bekannt, dass oft nahezu "improvisiert" gedreht wird - also vieles schon nach dem ersten Dreh "im Kasten" ist. "Nahezu 90%" von "Orphea in Love" sei auf diese Weise - allerdings nach langen Vorgesprächen - entstanden, so Pinkowski. "Ich wollte einfach meine Lieblingsmusik und das, was Oper für mich bedeutet, in eine andere Form gießen", erklärt Ranisch im Gespräch mit BR-KLASSIK.

Auffällig im Film ist auch die einfühlsame Art, wie die Kamera hier die getanzten und gesungenen Szenen eingefangen hat. Fast schwebend wirken manchmal die Darstellerinnen und Darsteller, alles hat eine poetische Leichtigkeit. Kameramann Dennis Pauls sei es auch gewesen, der die meisten Locations für die Drehs aufgespürt habe (mubi). Das, was hier als Film-Opernhaus dargestellt wird, wurde zum Beispiel in der Außendarstellung in Stralsund und im Innenraum in München gedreht. Einige eher industriell geprägte Orte der Handlung wirken fast wie außerhalb von Raum und Zeit, während Szenen, die an der deutschen Ostseeküste entstanden, ein klarer Rückblick auf Neles Kindheit und Jugend (in Estland?) darstellt. Estland als Land kommt allerdings im Film nicht vor.

Der Film "Orphea in Love" startet in deutschen Kinos ab Juni 2023. 

In Estland wird man sich sicher auch noch an die andere Mijam Mesak erinnern: als Beteiligte beim European Song Contest (ESC). 2007 war Mesak Backgroundsängerin für Gerli Padar war, der mit seinem Lied "Partners in Crime" im ESC-Halbfinale ausschied. 2009 war Mesak erneut als Backgroundsängerin aktiv, und zwar bei "Urban Symphony", die mit dem Song Rändajad den sechsten Platz erreichte. 2007 gab es mit "Far Away and Here" (Samas kaugel ja siin) sogar ein Soloalbum. 

2012 schloss sie dann ihr Studium (klassischer Gesang) an der Georg Ots Musikschule Tallinn ab, und setzte ihr Studium an der Guildhall School of Music & Drama in London fort. Ihre Vielseitigkeit kommt vielleicht auch durch eine im estnischen Fernsehen gemachte Aussage zum Ausdruck: "Irgendwie war ich in der Jugend auch ein großer Metall-Fan" (err) Außerdem sei sie sehr von Liisi Koikson und ihren Liedern beeinflußt worden. "Ihr Album, dass ich mit 14 gekauft habe, höre ich auch heute noch." (err

Erst im Oktober 2022 gab Mirjam Mesak ihr erstes abendfüllendes Opernkonzert in ihrem Heimatland Estland (err / delfi / Postimees)

Dienstag, April 11, 2023

Augen auf ... das Klavier

Wenn am 13. Mai in Liverpool das diesjährige ESC-Finale beginnt, hat eine ganz besondere Frachtpost aus Esland hoffentlich ihr Ziel erreicht - nein, besser sollte es schon einige Tage vorher angekommen sein, denn Estland muss ja zunächst das Halbfinale überstehen, und Proben gibt es ja auch noch. Bei dieser Fracht handelt es sich um ein ganz besonderes Piano - das bisher im Bereich des Tallinner Flughafens seinen Platz hatte, wie die estnische Presse berichtet (err) Das sensible Instrument wurde jedoch nicht einfach ins nächste Flugzeug gewuchtet, sondern zunächst zum Hersteller, der "Estonia Klaverivabrik" transportiert und dann auf ein Schiff verladen. 

Die Herstellerfirma erklärt ihren Namen gern so: "es steckt schon im Namen – auf Latein 'Es toni' bedeutet 'es gibt Ton' und 'Estonia' bedeutet: 'alles sein' ". Das traditionsreiche Unternehmen wird sicher stolz sein, auch mal auf dieser großen Bühne präsent zu sein - da können wir wohl erwarten, dass der Name "Estonia" auch in diesem Zusammenhang deutlich sichtbar sein wird ...

Es ist Alika Milova, die in diesem Jahr den estnischen Beitrag mit dem Titel "Bridges" singen wird. Und auch einige ESC-Fanportale haben die Nachricht vom "reisenden Piano" schon mitbekommen: "Alika bringt ihr Klavier nach Liverpool!" (eurovision-fun) Estnische Fans träumen natürlich von einer Wiederholung des Sieges beim ESC in Kopenhagen im Jahr 2001. Bei vielen beliebt sind die Vorab-Spekulationen, welches Lied und welches Land wohl diesmal gewinnen wird. Da gibt es auch Äußerungen wie diese: "das selbstspielende Klavier war das Einzige, was hängen blieb." (esc-kompact)

Freitag, März 10, 2023

Denkmalschutz

Am 15. Februar hatte das estnische Parlament ein Gesetz beschlossen, das den Umgang mit Denkmälern, Bauwerken und Kunstwerken regelt, wenn dort der Verdacht der Verherrlichung des Sowjetregimes besteht. Die neuen Bestimmungen sollten das Baugesetzbuch ergänzen und den öffentlich sichtbaren Teil von Gebäuden regeln. Dort sollte nichts erkennbar sein, das zur Rechtfertigung eines Besatzungsregimes, eines Angriffs, Völkermordes, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder eines Kriegsverbrechens angesehen werden könnte.Das neue Gesetz sollte gleichzeitig dem Staat die Erlaubnis zum Einschreiten geben, wenn etwas diesen Regelungen widerspräche. (err)

Diese neue Regelung ist nun vorerst gestoppt. Der estnische Präsident Alar Karis legte sein Veto ein (president.ee) und verwies es zur erneuten Beratung zurück ins Parlament. Zur Begründung werden vor allem unklare Formulierungen genannt. Der Grundsatz der Rechtsklarheit gebiete es jedoch, dass ein Gesetz so klar und verständlich ist, dass eine Person das Handeln des Staates vorhersehen und sein Handeln entsprechend anpassen kann. Ein vage formuliertes Verbot verleite dazu, Bauwerke zu entfernen oder von deren Errichtung abzusehen, allein weil rechtliche Risiken befürchtet würden. Solch übertriebene Vorsicht stehe einem auf Freiheit gegründeten Land nicht zu, so urteilt der Präsident.(err)

In der estnischen Presse wird nun diskutiert, wie das inzwischen neu gewählten Parlament mit dem "Arbeitsauftrag" des Präsidenten umgeht. Bisher hatte vor allem die "Vaterlandspartei" (Isamaa) das Gesetz vorangetrieben, diese wird aber möglicherweise der neuen Regierungskoaliton nicht mehr angehören.

Dienstag, März 07, 2023

Besser aufgeladen

Skeleton - eigentlich war das ja die Sportart, in der sich eher Letten als Esten profilieren konnten. Aber in diesem Fall geht es nicht um Sport. Vor einem Jahr bezeichnete der "Spiegel" die Firma "Skeleton Technologies" noch als "Batterie-Start-Up", inklusive der Hoffnung, Deutschland möge sich als "Standort für die Energiewende" entwickeln. Anlass war der Einstieg des Esten Taavet Hinrikus als Investor, bis dahin bereits bekannt von zwei Erfolgsprojekten: dem Messengerdienst Skype und dem Zahlungsdienstleister Wise. Auch beim Mibilitätsdienstleister "Bolt" hatte Hinrikus sich bereits beteiligt (siehe auch: Handelsblatt)

Die Firma selbst beschreibt die Aufgabenteilung der verschiedenen Standorte so: "Skeleton Technologies ... hat drei Niederlassungen: die Skeleton Technologies GmbH im sächsischen Großröhrsdorf, wo Produktion und Vertrieb angesiedelt sind, Skeleton Technologies OÜ, in der Nähe von Tallinn, Estland, zuständig für F&E sowie Pilotproduktion und Skeleton Technologies OY in Finnland mit einem F&E-Labor."

Skeleton entwickelt und produziert Ultrakondensatoren; Speicher, die Energie schneller als Lithium-Ionen-Batterien aufnehmen und abgeben können. Diese Speicher sollen in PKWs, LKWs und Busse, aber auch für Windkraftanlagen und Stromnetze verwendet werden. (siehe Firmenpräsentation)

Neben dem Standort in Großröhrsdorf, ein Ort mit 9.000 Einwohner/innen bei Dresden, will Skeleton nun einen zweiten Produktionsstandort in Deutschland einrichten. "Wir haben in der letzten Zeit mehrere Großaufträge erhalten, darunter so bekannte Firmen wie Shell, Honda, und Siemens", erklärt Manager Taavi Madiberk in der estnischen Presse (err). Das neue Werk soll westlich von Leipzig entstehen auf einer Fläche von 20.000 qm. Skeleton will hier 220 Millionen Euro investieren, dazu wollen Bundesregierung und Land Sachsen das Werk mit 51 Millionen Euro co-finanzieren. "Mit Energie in die Zukunft" - schon jetzt wirbt der geplante Standort Markranstädt mit diesem Slogan. Angeblich wird das neue Werk 240 neue Arbeitsplätze schaffen (Sächsische).

Sortierfähige Varianten

Sechs Parteien haben es in das neu gewählte estnische Parlament (Riigikogu) geschafft. Die Reformpartei von Regierungschefin Kaja Kallas hat nun die Partnerwahl. Da lohnt ein Blick ins Dickicht der übrigen Parteien. 

Nein, mit Regierungschefin Kallas ist Kristina Kallas, die Spitzenkandidatin bei "Eesti 200" auf der Liste Tartu, nicht verwandt. In den Jahren 2015–2019 war sie Direktorin des Narva College der Universität Tartu und spricht neben Estnisch, Russisch und Englisch auch Polnisch, denn sie ist mit einem Polen verheiratet.
Die Partei "Eesti 200" wurde in dem Jahr gegründet, als "Estland 100" gerade gefeiert wurde - 2018. Zunächst scheiterte die Partei aber zweimal: 4,4% bei den Parlamentswahlen 2019 reichten ebenso nicht wie die 3,2% bei den Europawahlen im selben Jahr. "Eesti200" setze auf Wissenschaft und Fakten, betont Kallas. Die Partei sei liberal und progressiv, aber nicht konservativ - denn wenn Estland nur auf sich selbst schauen würde, wäre Estland nicht überlebensfähig. Eesti 200 interpretiert "progressiv" als Pro-EU, Pro-NATO, auch pro gleichgeschlechtliche Partnerschaften und für Militärausgaben in Höhe von 3% des BIP. Kallas sagte in einem Interview, sie wolle das Geld, mit dem bisher kostenloser öffentlicher Nahverkehr in Tallinn gewährleistet werde, lieber in ein besseres Bildungssystem stecken (err). 

Bei der EKRE gibt man sich konservativ und nationalistisch; Parteichef Martin Helme deutet das so: "in der gegenwärtigen politischen Landschaft müssen wir immer kämpfen." Helme ist ein Freund klarer Aussagen: "Die sogenannten 'Eliten' in Europa und in Nordamerika sind dermaßen korrupt, damit möchte ich nichts zu tun haben" meint er und diagnostiziert eine weltweite Auseinandersetzung zwischen "Souveränisten" und "Globalisten", wobei seiner Meinung nach erstere immer auch Nationalisten seien (err). Außerdem sei Estland gegenwärtig keine wahre Demokratie, behaupet Helme - denn Mitglieder von Oppositionsparteien landeten in Estland regelmäßig vor Gericht, während Mitglieder von Regierungsparteien seiner Meinung nach offenbar davor auf geheimnisvolle Weise geschützt seien. 

Weit weg von Koalitionsüberlegungen ist dagegen die neu gegründete Partei "Parempoolsed" gelandet, die den Parteinamen lieber mit "richtig" als mit "rechts" übersetzt wissen möchte. Zwar wurden nur 2,3% der Stimmen erreicht, das reicht aber immerhin um staatliche Wahlkampfkostenunterstützung zu bekommen. Parteichefin Lavly Perling kommentierte das so: "2,3%, das sind hoch qualitative Stimmen mutiger Leute." (err)

Gleiches gilt auch für die "Vereinigte Linke" (Eestimaa Ühendatud Vasakpartei - EÜVK), die nach 0,1% Wählerstimmen 2019 diesmal zusammen mit der "Koos/Вместе"-Bewegung antrat. Deren Kandidat Aivo Peterson, der kurz vor der Wahl von Russland besetzte Gebiete in der Ukraine besucht hatte, erreichte in Ida-Virumaa, wo die Wahlbeteiligung mit 46,7% beonders niedrig war, 3969 Stimmen. Zu einem Parlamentssitz reichte das nicht. (err)

Kandidatin Yana Toom dagegen reichten immerhin schon 3.546 Stimmen für einen Parlamentssitz, da sie auf der Liste der Zentrumspartei kandidierte. Allerdings ist sie gegenwärtig noch Abgeordnete im Europaparlament - falls sie darauf nicht verzichtet, wird Aleksej Jevgrafov, Ex-Bürgermeister von Narva, nachrücken: mit nur 1402 persönlichen Stimmen. Die Zentrumpartei zeigt sich ansonsten flexibel: "Wir hatten schon Koalitionen mit allen bisher im Parlament vertretenen Parteien", sagt Tanel Kiik, der auch stellvertretender Bürgermeister von Tallinn ist, "wir schließen auch jetzt keinen möglichen Partner aus." (err)

Auch die estnischen Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond) können sicher davon ausgehen, als Koalitionsprtner in Betracht zu kommen. "Im Gegensatz zu anderen Parteien gibt es wenige, die uns hassen", streicht Piret Hartmann, gegenwärtig Kulturministerin im Kabinett Kallas, heraus. Eine Koalition mit EKRE schließt sie allerdings aus. (err)

Mihhail Stalnuhhun erntete 4578 Stimmen als unabhängiger Einzelkandidat, ebenfalls in Ida-Virumaa. Stalnuhhun war aus der Zentrumspartei ausgeschlossen worden, nachdem er infolge der Beseitigung eines sowjetischen T-34-Panzers Mitglieder der Zentrumspartei als "Faschisten" und "Nazis" bezeichnet hatte (err) Jetzt fehlten ihm nur etwa 400 Stimmen, um als unabhängiger Kandidat einen Parlamentssitz zu erringen.

Die estnischen Grünen dagegen verfehlten mit nur 1% sogar die geringst möglichen Ziele. 

Einige Beobachter sehen auch die Vaterlandspartei "Isamaa" als große Verlierer der Wahl. Die Reformpartei habe nun so viele mögliche Koalitionsoptionen, dass die Isamaa mit nun nur noch 8 Sitzen (vorher 12) wohl kaum gebraucht werde. Parteichef Seeder benannte für die Fall einer erneuten Regierungsbeteiligung den Übergang des Bildungssystem zum rein estnischsprachigem Unterrricht als Priorität für seine Partei. (err)

Die rechtskonservative EKRE scheint sich nun inzwischen vor allem auf Zweifel am E-Voting zu fokussieren. Henn Põlluaas, stellvertretender Parteivorsitzender, meint Estland sei merkwürdigerweise das einzige Land mit E-Voting, während andere Länder eher zweifelten und sich dagegen entschieden hätten. Er kündigte eine Prüfung des gesamten Wahlsystems durch unabhängige Experten im Fall einer Regierungsbeteiligung der EKRE an. (err)

Übrigens werden künftig 30 Frauen im estnischen Parlament vertreten sein - bisher waren es 28 und bei den Wahlen 2015 waren es nur 24 gewesen. (err)

Regierungschefin Kallas zufolge erwägt die Reformpartei vier verschiedene Optionen:
1) Reformpartei mit Zentrumspartei
2) Reform, Sozialdemokraten und Isamaa (so wie bisher)
3) Reform, Eesti 200 und Isamaa
4) Reform, Eesti 200 und Sozialdemokraten.

Montag, März 06, 2023

E-Vote als Turnaround

Erst spät am Wahlabend wurden die elektronisch vorher abgebenen Stimmen zum Wahlergebnis hinzugefügt - bis dahin hatte die rechtkonservative EKRE vorn gelegen, mit einer Voraussage auf mögliche 28 Parlamentssitze. Und auch die Zentrumspartei lag noch bei einer Prognose von 22 Sitzen. 

Doch schon nach der Wahl 2019 hieß es, dass gerade die Wähler/innen der Reformpartei gern das e-Vote bevorzugen. Von den insgesamt 966.129 Wahlberechtigten haben sich 615.009 beteiligt, davon 313.514 online (valimised). Und inzwischen sieht das vorläufige Endergebnis also nun so aus: 

Allein Regierungschefin Kallas konnte 31.818 Stimmen auf sich vereinigen. EKRE-Parteichef Martin Helme äußerte Zweifel daran, ob die elektronisch abgegebenen Stimmen korrekt ausgezählt worden seien. 

Estnisches Wahlamt, Wahlresultate


Sonntag, März 05, 2023

Wählen mit Vorab-Rekord

Schon vor der offiziellen Bekanntgabe der Resultate der Wahlen zum estnischen Parlament werden Rekorde vermeldet: wieder einmal wurde die Zahl derjenigen, die auf elektronischem Wege ihre Stimme abgeben, gesteigert. 

Der Statistik des estnischen Wahlamtes zufolge haben sich 313.514 Menschen auf elektronischem Wege beteiligt. Schon sechs Tage vor dem Wahltermin, in diesem Fall Montag 27.2. ab 9:00 Uhr, war die elektronischem Wege möglich und endet am Tag vor der Wahl (Samstag 20:00 Uhr). 

Entwicklung der vorab abgegebenen Stimmen
bei Wahlen in Estland: per Papier (+Brief, blau)
und elektronisch (gelb)
Bei den vorherigen Parlamentswahlen 2019 hatten insgesamt 247.232 Wahlberechtigte ihre Stimme auf elektronischem Wege abgegeben. Die Wahlbeteiligung insgesamt hatte bei 63,7% gelegen. 



Samstag, Februar 04, 2023

Tallinn - grün und wild

Die estnische Hauptstadt Tallinn hat gegenwärtig etwa 435.000 Bewohner/innen, etwa 27 Menschen pro Hektar Fläche (2797 pro km²). In Tallinn leben etwa 33% der Gesamtbevölkerung Estlands. Dazu bietet Tallinn auch Arbeitsplätze: 43% aller Arbeitnehmer/innen findet ihren Job in der Hauptstadt. (stat.ee) Da sollten wir eigentlich vermuten: wer dieses Gedränge an Menschen nicht mag, der / die hat genug Platz im übrigen Estland, wo es teilweise nur 10 menschliche Wesen pro Quadratkilometer gibt. Ein Zehntel des estnischen Territoriums ist mit nur 1–2 Einwohnern pro Quadratkilometer dünn besiedelt.

Doch wie eine neue Untersuchung zeigt, leben in Tallinn auch eine Menge Tiere. Im Auftrag der Stadt untersuchte "Elusloodus OÜ" die im Stadtgebiet lebenden Tierpopulationen. In den Grünflächen und Parks der estnischen Hauptstadt laufen Hunderte von Füchsen, Rehe und Hasen herum. Aber auch 20 - 30 Elche und ebenso viele Biber haben Tallinn als ihren Lebenraum erkoren, dazu auch 15 Dachse. Bären und Luchse wurden zwar auch schon mal gesichtet, allerdings nur als Kurzzeitgäste. (err)

Tallinn darf im Jahr 2023 den Titel "European Green Capital" tragen (im Jahr zuvor war das Grenoble in Frankreich, 2024 wird es Valencia sein). "Als eine der am besten erhaltenen mittelalterlichen Städte Europas, UNESCO-Weltkulturerbe, zeichnet sich Tallinn auch durch eine vielfältige und mosaikartige Landschaft aus, die auch als Lebensraum für seltene Arten dient." Dieser Begründung stimmte offenbar auch die Europäische Kommission zu. (Imgagefilm / Youtube) Allerdings werden die Aktivitäten dieses Jahres erst jetzt, am 8. Feburar, in Brüssel offiziell gestartet (greentallinn) Vieles, was dann auf der Agenda der Stadt steht, ist - typisch Estnisch - digital ausgerichtet.

Donnerstag, Januar 19, 2023

Nachwuchs gesucht

Es ist wohl unumstritten, dass Estland ein kleines Land ist. Manch Gast aus Deutschland wird beim Blick auf die Gesamteinwohnerzahl wohl gegenrechnen, wie viele Einwohner deutsche Großstädte haben. 

Wir müssen es Estland wohl verzeihen, dass immer mal wieder auf die Geburtenstatistik geschaut wird. Wird es unser Land in Zukunft noch geben? Eine aus deutscher Sicht verrückte Frage - denn in Deutschland wird vieles einfach durch erleichterte Zuwanderung gelöst - einige Schätzungen gehen inzwischen davon aus, dass bis zu 40% der heutigen Bevölkerung in Deutschland den sogenannten "Migrationshintergrund" haben (dem wird neuerdings das Etikett "biodeutsch" entgegengesetzt, siehe TAZ / Spiegel / Tagesspiegel / Welt )

Die aktuelle Bilanz: Estlands Geburtenrate sank 2022 auf den niedrigsten Stand seit 100 Jahren.(err) Als Gründe werden mehrere aufeinanderfolgenden Krisen und eine sich verändernde Bevölkerungsstruktur angegeben, zudem würden sich viele junge Estinnen und Esten gegen Kinder entscheiden, so heißt es. Viele Menschen fühlten sich sozial nicht abgesichert genug. "Selbst wenn wir einberechnen, dass manche Ehepaare ihre Entscheidung für ein Kind vielleicht um einige Zeit verschieben, das ändert nichts am negativen Trend," sagt Mare Ainsaar, Wissenschaftlerin an der Universität Tartu.(err)

Die Fernsehsendung "Aktuaalne kaamera" befragte Frauen nach ihren Kinderwünschen. Einige antworteten, sie hätten den Kinderwunsch ganz aufgegeben. In Estland wurden im Jahr 2022 11.588 Kinder geboren (bei 17.245 Todesfällen) - das sind 1550 Geburten weniger als noch im Jahr zuvor. Bisher war in Estland die Geburtenrate nur im Jahr 2001 auf unter 13.000 Geburten pro Jahr gefallen (damals 12.632)

6386 Ehen wurden in Estland im Jahr 2022 geschlossen, nur 392 davon auch in einer Kirche. Im gleichen Zeitraum wurde 2434 mal eine Ehe geschieden. Die Einwohnerzahl Estlands liegt, den neuesten Zahlen zufolge, bei 1,357.739 Millionen, ein Anstieg im Vergleich zum vergangenen Jahr um 25.943 Personen (2%). 75% der Personen, die 2022 neu nach Estland zugewandert sind, waren Menschen aus der Ukraine. (err / stat.ee)

Dienstag, Januar 10, 2023

Estnische Aussichten

Vor dem Hintergrund von Russlands Angriffskrieg in der Ukraine, und nach 20% Preissteigerung im Jahr 2022 startet Estland in den Wahlkampf für die anstehende Parlamentswahl. Am 5. März werden in Estland die 101 Sitze im Riigikogu neu vergeben - bereits ab dem 27. Februar geben die Wahlberechtigten ihre Stimme ab - dann beginnt der Zeitabschnitt, ab dem bereits online gewählt werden kann. 

Schon jetzt wird darüber spekuliert, wen Präsident Karis nach der Wahl mit der Regierungsbildung beauftragen könnte - denn das ist gewöhnlicherweise die stimmenstärkste Partei. Präsident Alar Karis warnte bereits Ende November vor einer Fokussierung nur auf einen Zweikampf zwischen der regierenden Reformpartei und der rechtpopulistischen EKRE. Die Wahl allein auf ein Duell dieser beiden Parteien zu reduzieren würde seiner Meinung nach den Blick auf die wirklichen Alternativen verstellen, meinte er. (err)

Der Wahlslogan der Reformpartei wird offenbar " "Kindlates kätes Eesti" sein ("Estland in sicheren Händen"). Damit sind wohl vor allem die Hände der Regierungschefin Kaja Kallas gemeint, die sich aber keineswegs sicher sein kann, dass die Reformpartei wieder stärkste Partei im Parlament wird. Die Energieversorgung, Landesverteidigung und weitere Hilfe für die Ukraine stehen wohl auf der Tagesordnung. Weiterhin verspricht die Reformpartei die Schaffung eines "Klimagesetzes", das die Erreichung der Klimaziele der EU sichern helfen soll. (err

Die oppositionelle EKRE startet mit dem Slogan "Päästame Eesti" ("Wir retten Estland") in den Wahlkampf. "Die Frage ist, ob Estland ein Nationalstaat bleibt," meint Parteichef Martin Helme. "Oder ob die Esten hier zur Minderheit werden und die estnische Sprache nach Englisch und Russisch zu einer Art drittklassiger Sprache wird." Das Wahlprogramm heißt bei EKRE "Nationales Verteidigungsprogramm" und stellt konkrete militärstrategische Forderungen auf: die Verteidigung müsse im Falle eines Angriffs so stark sein, dass Estland nicht erst besetzt und dann wieder befreit werden müsse; Ausgaben in Höhe von 3% BIP seien also das Mindeste.

Bei den Sozialdemokraten der SDE (Sotsiaaldemokraatlik Erakond), gegenwärtig Koalitionspartner der Reformpartei, hat sich die Europaabgeordnete Marina Kaljurand entschieden wieder für das estnische Parlament zu kandidieren. Kaljurand, frühere Außenministerin und auch schon mal Botschafterin Estlands in Moskau, will es nun offenbar anders herum machen wie schon 2019: damals holte sie zunächst einen Sitz im Parlament, dann sicherte sie sich einen Platz im Europaparlament (err) Erst seit einigen Monaten frisch gewählter SDE-Vorsitzender ist Lauri Läänemets, der seit Juli 2022 auch estnischer Innenminister ist. Die SDE betont, trotz der aktuellen Inflation sei die Anhebung des Lebensstandards für die Estinnen und Esten wichtig und unterstützt Forderungen nach Lohnerhöhungen.

Neu auf der politischen Landkarte Estlands ist "Parempoolsed" ("die Rechten"). Erst im Spätsommer 2022 gegründet haben sie mit Siim Valmar Kiisler einen Vertreter im Parlament, mehrfacher Ex-Minister, der zuletzt der Isamaa (Varterlandspartei) angehört hatte, 2019 als Nachrücker ins Parlament kam und dann zu den "Rechten" übertrat (err). Auch die Farbenpsychologie möchte "Parempoolsed" gerne neu sortieren - als ihre Parteifarbe wählten sie orange. Parteichefin ist Lavly Perling, eine frühere Staatsanwältin. Sie sieht ihre Partei nicht als "rechtsradikal", sondern betont den estnischen Namen der Partei: "parem" bedeute eben nicht nur "rechts" auf Estnisch, sondern auch "besser". (err)

Die "Isamaa" (Vaterlandspartei), aktueller Koalitionspartner von Sozialdemokraten und Reformpartei, wird sich demzufolge wohl eher nicht gefreut haben über die Abspaltung der "Parempoolsed". Isamaa wirbt mit einer Erhöhung der Kinderfreibeträge, Gehaltserhöhungen für Pädagog/innen und Hochschullehrer/innen, und will mehr in die Landesverteidigung investieren, ggf. sogar mehr als 3% BIP. Parteichef Seeder erklärt sich offen für alle Optionen zukünftiger Energieversorgung für Estland: erneuerbare Energien, Ölschiefer, oder auch Atomkraft. (err) Außerdem will Isamaa die Strafen für unzureichende estnische Sprachkenntnisse vervielfachen, und das soll auch für alle Abgeordneten der Regionalparlamente und für Unterricht an den Hochschulen gelten - das klingt schon ganz ähnlich wie die Tonlage bei EKRE. (err)

Schon länger existiert "Eesti 200", die bei den Wahlen 2019 knapp an der 5%-Hürde scheiterte. Die Partei scheint sich unsicher zu sein, wie viele Wählerinnen und Wähler sie diesmal an sich binden kann - und fiel kürzlich mit dem Vorschlag auf, die Verteidigungsausgaben auf 6% BIP erhöhen zu wollen (err). Mit gemeint ist damit offenbar auch eine Stärkung des Zivilschutzes. Gegenwärtig liegt die Partei in Umfragen immerhin bei 10% und bekam kürzlich Zuwachs von Gea Kangilaski, stellvertretende Bürgermeisterin von Tartu, die bisher für die Sozialdemokraten angetreten war. (err)

Mit dem Slogan "Tark areng" (intelligente Entwicklung) zieht die estnische Grüne Partei (Rohelised) in den Wahlkampf. Die Grünen plädieren für eine vollständige Umstellung auf erneuerbare und dezentrale Energie, einen höheren Schutzstatus für die estnischen Wälder, Verbot von Jagdtourismus, Beseitigung von Billiglöhnen und für eine Grundsicherung im Alter.

Bleibt noch die Zentrumspartei ("Eesti Keskerakond"), Hier wird mit dem Spruch "Julgelt inimeste heaks" ("Tapfer für die Menschen") geworben, und Ex-Regierungschef Jüri Ratas ist weiterhin Spitzenkandidat. Erst im Frühjahr 22, nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, wurde die Kooperation mit "Einiges Russland" für beendet erklärt, und es ist schwer kalkulierbar, ob sich das Stimmenniveau von gegenwärtig noch etwa 15% (gemäss aktuellen Umfragen) halten lässt. Politikwissenschaftler

Samstag, Dezember 31, 2022

Rückblick auf Edgar

Nun hat also dieses recht schwierige Jahr 2022 doch noch einen weiteren Grund gefunden, es zu bilanzieren - und diese Bilanz reicht gleich einige Jahrzehnte zurück. Edgar Savisaar ist gestorben. 

Schon die Presseschlagzeilen zeigen Unterschiede: entweder "Ex-Regierungschef" (Spiegel), "Kämpfer für die Unabhängigkeit" (Süddeutsche), "eine Legende" (Estonian World), oder eben seine Selbstbezeichnung: "Ich bin Dissident" (Postimees). Oder so, wie ihn andere sehen: "Edgar Savisaar, das Phänomen." (err)

Man liegt sicher ungefähr richtig, wenn man ihn als "Schlüsselfigur bei der Wiedererringung der Unabhängigkeit Estlands" bezeichnet. Die 72 Jahre seiner Lebenszeit, zwischen 1950 und 2022, sind auch eine für Estland bedeutende Zeitspanne. Ganz besonders brisant wurde es zwischen dem 15. Mai 1990, als Savisaar die Gegenwehr der estnischen Bevölkerung gegen einen kommunistisch-sowjetischen Umsturzversuch organisierte, und dem Putsch in Moskau im August 1990, als Savisaar dann für Estland die Unabhängigkeit erklärte. Dabei war Savisaar im Moment des Putsches noch in Stockholm gewesen und musste dann über Helsinki zusammen mit dem damaligen Außenminister Lennart Meri in einem kleinen Motorboot nach Tallinn zurückkehren.

Das Theater "NO99" widmete Savisaar ein eigenes Theaterstück, unter anderem mit der Begründung, er sei einer der umstrittensten Politiker Estlands. Im Ankündigungstext heißt es: "Seine Karriere hat eine ziemlich unglaubliche Wandlungen durchlaufen, von einem kommunistischen Apparatachik über einen nationalistischen Oppositionsführer während der späten Sowjetunion bis hin zum ersten Ministerpräsidenten des gerade wieder unabhängigen Estlands, dann zum Führer der Opposition, die hauptsächlich von der lokalen russischsprachigen Bevölkerung unterstützt wurde."

Jedenfalls gab es auch Zeiten, wo zumindest das Gefühl aufkam, Savisaar könnte besser auch mal anderen Platz machen, ob als Regierungschef, Parteichef oder Bürgermeister von Tallinn. 2004 blieb Savisaars Haltung zum EU-Beitritt eher im Unklaren, 2007 wollte er offenbar dadurch punkten, in dem er sich gegen die Versetzung des sogenannten "Bronzesoldaten" aussprach. 2010 gab es Anschuldigungen, Savisaar habe Gelder aus Russland für den Wahlkampf seiner Partei angenommen. 2014 fiel er durch merkwürdige Äusserungen zur russischen Besetzung der Krim auf (Baltic Course), die Zentrumspartei kündigte das Kooperationsabkommen mit "Einiges Russland" erst im März 2022. 2015 gab es dann zunächst eine weitere Korruptionsanklage, es folgten die gesundheitlichen Probleme mit einer Streptokokken-Infektion und die Amputation des rechten Beins unterhalb des Knies.

Zusammen mit Siim Kallas, dem Vater der heutigen Regierungschefin Kaja Kallas, gründete Savisaar 1987 die estnische "Volksfront" (Rahavarinne) als Gegengewicht zur Kommunistischen Partei. Zusammen veröffentlichten sie 1987 das Konzept des IME (Isemajandava Eesti / selbstverwaltetes Estland). Intellektuell brillant, charismatisch, fleißig und als guter Organisator galt Savisaar damals. Die estnische Volksfront organisierte auch auf estnischer Seite den "Baltischen Weg" (estnisch "Balti Kett"), die Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn am 23. August 1989, zum Gedenken an den 50. Jahretag des Hitler-Stalin Pakts, der das Schicksal der baltischen Staaten besiegelt hatte.

Aber während Savisaar Führungsfigur in der 1991 gegründeten Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) wurde, aus den verbliebenen Resten der Volksfront gebildet, engagierte sich Siim Kallas in der 1994 gegründeten eher wirtschaftsliberalen "Reformpartei" (Reformierakond). Zuvor war Kallas Chef der Bank von Estland gewesen. Beim Skandal 1995 ging es dann auch darum, ob Savisaar auch Gespräche von Kallas hatte abhören lassen.

Zwischen Zentrumspartei und Reformpartei gibt es auch andere Verbindungen. Edgar Savisaars dritte Ehefrau, Vilja Savisaar Toomast, war zunächst Abgeordnete der Zentrumspartei, wurde ins Europaparlament gewählt, trat aus der Partei aus, wechselte zur Reformpartei und sitzt heute für diese wieder im Parlament. Savisaars Sohn Erki dagegen blieb sozusagen bei "Schusters Leisten" - als Politiker der Zentrumspartei. Die heutige Ministerpräsidentin Kaja Kallas formuliert ihr Gedenken so: "Ja, Edgar Savisaar war eine umstrittene Figur, aber er war dennoch ein Politiker mit brillantem Verstand, eine großartige Persönlichkeit, und er hat einen Platz in der estnischen Geschichte." (ERR)

Sonntag, Dezember 18, 2022

Endstation Narva

Manchmal wird es als "russische Enklave" bezeichnet, oder als "Rand Europas". Für andere wiederum beginnt Europa eben genau hier. Wegen seiner zahlenmäßig starken russischen Miniderheit ist Narva schon länger in der Diskussion - wie sieht die Zukunft dieser Region aus? 

Nun zieht Russland den Schlagbaum herunter; der Grenzübergang Narva soll für ganze zwei Jahre komplett geschlossen werden. Grund: angeblich dringend notwendige Renovierungsarbeiten. Zumindest für Fahrzeuge soll der Übergang zum russischen Ivangorod komplett geschlossen werden. Nur für Fußgänger soll eine Übergangsmöglichkeit offen bleiben. 

Etwa 340.000 Fahrzeuge werden derzeit pro Jahr gezählt, die den Übergang zwischen Narva und Ivangorod passieren. "Wenn das komplett geschlossen werden sollte, wird das auch einen negativen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in Narva haben," äußert sich Narvas Bürgermeisterin Katri Raik besorgt. "Dann werden wir zu einer Art Sackgasse. Die Beschäftigungsmöglichkeiten werden zurückgehen, zum Beispiel im Bereich Logistik". (ERR)

Wie estnische Behörden bekannt gaben, wird auch noch nach Lösungen für die Busverbindungen zwischen Tallinn und St.Petersburg gesucht.Möglicherweise müssten dann Reisende die Grenze zu Fuß passieren, um Verkehrsverbindungen auf estnischer Seite zu erreichen. (ERR)  Heißes Diskussionsthema war in Narva zuletzt die Entfernung eines Sowjetpanzers gewesen, der als Denkmal an den Zweiten Weltkrieg erinnerte - er war demontiert und in ein Museum gebracht worden. (ERR / Deutschlandfunk)

Montag, November 21, 2022

Kommt ein Vogel geflogen

Estlands Natur ist unbestritten ein Anziehungspunkt für viele Gäste und Naturliebhaber. Gerade Menschen aus dicht besiedelten und stärker industrialisierten Ländern kommen gern hierher, auch wenn die meisten von ihnen sicher nicht die Artenkenntnis mitbringen wie Spezialist/innen von Ökologie, Biologie oder Ornithologie.

Seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit kann Estland nun auf 30 Jahre Entwicklung auch unter diesem Aspekt zurückblicken. Marko Mägi, Wissenschaftler an der Universität Tartu, stellt dazu fest, dass die Vogelpopulationen in diesen Jahren leider zurückgegangen seien. Estland habe den Kapitalismus von solcher Art für sich entdeckt der zur Folge habe, dass alles intensiver bewirtschaftet werde, meint er. Dem gleichen Trend sei die Land- und Forstwirtschaft Estlands gefolgt. Als Resultat habe sich die Vielfalt der Vogelarten verringert, und zwar nicht nur der seltenen Arten, sondern auch bei den ganz gewöhnlichen Arten seien die Zahlen heruntergegangen. (ERR)

"Nachdem Estland zur Europäischen Union beigetreten ist, wurden die Agrarsubventionen erhöht, wodurch wir mehr Pestizide und Düngemittel verwendet werden konnten. Die Felder sind auch größer und gleichmäßiger“, ergänzt Kaarel Võhandu, Vorsitzender der "Estnischen Ornithologische Gesellschaft" (Eesti Ornitoloogiaühing EOÜ).  

Außerdem sei der Nutzungsdruck auf die estnischen Wälder erheblich gewachsen: Zwischen 2016 und 2018 stiegen die abgeholzten Waldflächen im Vergleich zum Zeitraum von 2004 bis 2015 um 85%. In 95% dieser Fälle erfolgt der Holzeinschlag durch Kahlschlag. (Birdlife) Etwa 100 verschiedene Brutvögelarten leben allein in den estnischen Wäldern - durch zunehmenden Holzeinschlag seien zum Beispiel Arten wie Birkhuhn, Auerhuhn, Heidelerche oder Baumpieper besonders gefährdet. So verlangt auch "Birdlife Estonia" ein Verbot von Holzeinschlag in der Brutsaison, also vom 15. März bis 31. August, wenigstens aber bis zum 15. Juli. Auch die Schwarzstorchpopulation sei in Estland stark rückläufig - so dass im Frühjahr aus dem Süden zurückkehrende Vögel oft keinen neuen Partner oder Partnerin finden könnten (Estonianworld).

Marko Mägi nimmt dabei auch zum Klimawandel als möglicher Ursache für Veränderungen der Vogelpopulation Stellung. Natürlich könne auch das zum Rückgang der Vogelpopulationen beitragen - aber jedenfalls seien noch keine Vogelarten, die normalerweise weiter südlich leben, nun zusätzlich in Estland beobachtet worden. "Der menschliche Einfluß auf einzelne Regionen vor Ort ist derzeit viel stärker." (ERR)

388 wildlebende Vogelarten wurden als Brutvögel in Estland gezählt (Stand 2018) - wenn wir alles dazuzählen, was je in Estland in der Geschichte der Ornithologie beobachtet worden ist. (EOY) Etwa 225 Vogelarten gelten heute noch als Brutvögel in Estland. Zum Vergleich: in Schleswig-Holstein sind es 216, in Niedersachen / Bremen 208, in Deutschland insgesamt sind es 305 Arten. Tourismusanbieter wie "NaTourEst", "Birding Haapsalu" oder "EcoTours Anytime" versprechen ihren Gästen die Möglichkeit, auf einer mehrtägigen Vogelbeobachtungstour in Estland bis zu 175 Arten sehen zu können.

Ob Estland aber einen Status als - so wie einige es nennen - "birdiest country in Europe" (vogelreichstes Land Europas) halten kann, scheint ungewiss. Bisher werben estnische Gemeinde wie Haapsalu aktiv mit ihrer Vielfalt an Vogelarten. Der estnischen Tourismuswerbung zufolge liegt die Rekordzahl der Vogelarten, die in Estland innerhalb von 24 Stunden beobachtet werden konnte, bei 194 (VisitEstonia)

Montag, Oktober 31, 2022

Denk mal, ach denk doch mal ...

Während internationale Medien zur Zeit vornehmlich über den Abriss von Denkmälern in Estland berichten - vor allem solchen, in denen eine Verherrlichung von Sowjetideologie gesehen wird - werden in Estland auch Denkmäler neu errichtet. Granit aus Schweden und China wurde verarbeitet vom estnischen Künstler Vergo Vernik, der zusammen mit dem Architekt Toivo Tammik für sein Kunstwerk "Kopf des Staates" verantwortlich zeichnet, dass am 21. Oktober 2022, nach mehrfachen Terminverzögerungen, in Tallinn eingeweiht wurde, und das an Ex-Präsident Konstantin Päts erinnern soll.

Offenbar sind auch darüber nicht alle begeistert. "Hier ist so gut wie alles falsch!" - mit diesem drastischen Urteil wird in der estnischen Presse Kunsthistoriker Gregor Taul zitiert. Er habe in seiner Ausbildung gelernt, meint Taul, der Unterschied zwischen einem Denkmal und einer einfachen Skulptur liege darin, dass an der Stelle des Denkmals etwas passiert ist und genau an diese Stelle erinnert wird. Taul erwähnt die ebenfalls neu errichtete Skulptur zu Ehren von Jaan Kross als besseres Beispiel - denn Kross habe ja wirklich in der Nähe des jetzigen Denkmal-Standortes gelebt. Und er weist darauf hin, dass es wohl eine sehr alte Tradition der Menschen sei, mit dem Aufstellen von Denkmälern sozusagen "ihr Territorium zu markieren". 

Zudem sei es gegenwärtig allgemeine Praxis, meist nur Männern durch Denkmäler zu gedenken. Offenbar konkret untersucht hat Gregor Taul das Beispiel Dänemark: dort seien von insgesamt 2500 Skulpturen ganze 2400 Männern gewidmet, dazu noch 50 sogar Tieren. Bezüglich des nun in Tallinn platzierten Riesenkopfes zum Gedenken an Päts hält Taul auch den Ort für fragwürdig: "Vielleicht in Viimsi", meint er, "dort neben dem Kriegsmuseum. Aber direkt neben dem Theater? So ein wuchtiger Kopf?" (ERR) Auch Mart Kalm, Rektor der Estnischen Akademie der Künste, war schon mit einer Äusserung zitiert worden, das Werk stelle "keine große Leistung aus Sicht der estnischen Kunst" dar. Aber es sei eben ein sehr einflussreicher Teil der estnischen Gesellschaft gewesen, der sich für ein Gedenken an Päts eingesetzt habe. Und so, wie das Denkmal jetzt aussähe, sei es eben auch als Kompromiss zwischen verschiedenen Interessengruppen zu sehen (ERR).

Es gibt aber weitere bekannte Persönlichkeiten, die sich zu dem Thema bereits öffentlich äußerten (fast durchweg Männer offenbar). Anders Härm, ebenfalls Kunsthistoriker, meint man habe eigentlich doch das beste aus den Vorschlägen des durchgeführten Wettbewerbs ausgesucht. - Dem entgegnet Erkki Bahovski, Journalist und Herausgeber der Zeitschrift "Diplomaatia": "Mich erinnert dieses Denkmal an faschistische Hauptquartiere, wo immer das Bild von Benito Mussolini hing" (ERR). Kunsthistorikerin Alexandra Murre wiederum prognostiziert, in einigen Jahren werde man sich an den Denkmal-Kopf gewöhnt haben, der heute vielleicht einfach noch recht grob gemeisselt aussähe (ERR).

Am Morgen des 31. Oktober, also "pünktlich zu Halloween", könnte man sagen, versahen dann Unbekannte den Denkmalskopf mit Zorro-Maske und Bandera-Kopftuch - eine Verzierung, die von den Behörden schnell wieder entfernt wurde (ERR)

Das neue Denkmal, auch dem 100.Gründungstag der Republik Estland gewidmet, soll erinnern an Konstantin Päts (1874-1956), der als einer der bedeutensten Politiker der Zwischenkriegszeit, also der ersten Periode der estnischen demokratischen Republik, angesehen wird. Er wurde von den Sowjetbehörden nach Sibirien deportiert und starb dort 1956. Doch manche sehen in der Figur Konstantin Päts auch Wiedersprüche der estnischen Demokratie. "Ich denke, es gibt zu viel Romantik heute bei der Betrachtung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg" so sagt es Historiker Igor Kopõtin (ERR). "Die Rolle von Päts für die estnische Geschichte ist zumindest kontrovers". Er spielt auch darauf an, dass Päts, bis dahin mehrfach Regierungschef und Minister, am 12. März 1934 ein autoritäres Regime errichtete. 1938 wurde er dann zum Präsidenten gewählt. Manche nennen Päts daher "Diktator von Estland", andere heben eher hervor, dass er im Volk sehr beliebt gewesen sei.

Bereits vor zwei Jahren wurde auch im Toila Oru Park in Ida-Virumaa ebenfalls ein Denkmal für Konstantin Päts eingeweiht. Dort hatte Päts eine Sommerresidenz. (ERR) Auch in der Nähe des Geburtsorts von Päts, heute zur Gemeinde Tahkuranna gehörend (südlich von Pärnu), befindet sich bereits ein Päts-Denkmal - es ist eine Wiederherstellung eines 1940 zerstörten Monuments. Und wer in Rakvere sich befinden sollte, kann ebenfalls "Päts" genießen - ganz kulinarisch, denn hier ist es der Name eines kleinen Restaurants.


Donnerstag, September 15, 2022

Familie zu zweit, oder allein

Mitten in den aktuellen Meldungen aus Estland findet sich dies: es wurden Zahlen aus der Volkszählung in Estland 2021 veröffentlicht. Estland hat die Familien gezählt. Resultat: es gibt 341.995 davon (bei insgesamt 561.655 Haushalten). Auffällig dabei: was sich in Estland Familie nennt, besteht fast zur Häfte (49%) aus zwei Menschen (stat.ee / err.ee / rahvaloendus). 

Als Familie in Estland zusammenleben - statistisch teilt sich das folgendermaßen auf: 55% sind verheiratet, 27% leben unverheiratet zusammen. Weitere 18% stehen für getrennt lebende Alleinerziehende (16% Frauen, 2% Männer - das Statistikamt weist nicht aus, ob diese verheiratet sind oder nicht). 14% der Kinder leben mit nur einem Elternteil zusammen. Die Lebensform, bestehend aus einem verheirateten Ehepaar ohne Kinder, macht in Estland 28% dessen aus, was das Statistikamt als "Familien" bezeichnet (94.554).Damit sei es die häufigste Variante einer Familie, denn Familien mit einem Kind machen nur 25% aus, weitere 19% sind unverheiratete Paare mit Kindern. 

Wenn nun die Anzahl der Haushalte betrachtet werden, so bestehen 37% aller Haushalte in Estland aus nur einer Person (16% der Gesamteinwohnerzahl). Wenn nun noch diejenigen Haushalte dazu gezählt werden, wo entweder Geschwister oder Großeltern mit Enkeln zusammenleben, dann können 40% der Haushalte nicht als Familienhaushalte bezeichnet werden (das sind 24% der Gesamtpersonenzahl). 

Einige regionale Unterschiede: die zahlenmäßig stärksten Haushalte wurden in Tartu (2,5 Personen) und iim Landkreis Harju (2,43 Personen, Gegend rund um Tallinn) lokalisiert. Haushalte mit wenigen Mitgliedern leben vor allem in Hiiu (Insel Hiiumaa, 2,16 Personen) und Ida-Viru (Nordosten Estlands) mit 2,08 Personen. Ebenfalls in Ida-Viru leben statistisch die meisten Menschen in Single-Haushalten: 43%, während im Kreis Tartu zahlenmäßig viele in Haushalten mit fünf oder mehr Personen leben (11%).

Auch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Ethnien wurde statistisch ausgewertet. Danach leben in Estland 88% der Menschen in "monoethnischen" Haushalten - 63% bestehen ausschließlich aus Estinnen und Esten, 21% aus Russinnen und Russen, 4% aus anderen Ethnien. Nur 12% leben also privat mit mehreren Ethnien in einem Haushalt, davon sind 5% estnisch-russische Hauhalte.

Freitag, August 26, 2022

Auswählen und aufräumen

Die Stimme Estlands ist hörbarer geworden in Europa - nein, diesmal nicht durch Digitalisierungsmaßnahmen oder andere Schlagworte mit einem großen E davor. Der ARD-Weltspiegel widmete Estland und der Ministerpräsidentin Kaja Kallas gleich volle 30 Minuten Aufmerksamkeit.  "Kaja Kallas - wer ist die Frau?" wird hier in einem Tonfall gefragt, als ob es gälte Mythen und Geheimnisse aufzuklären. 

Stimme der Eisernen

Und auch die Bezeichnung "Eiserne Lady des Baltikums" scheint ein beliebter Wanderpokal der Deutschen zu sein - galt es 1999 bis 2007 für die Lettin Vaira Vīķe-Freiberga, dann 2009 bis 2019 für die Litauerin Dalia Grybauskaite. Und auch Estland hatte ja eigentlich mit Präsidentin Kersti Kaljulaid schon eine durchaus "eiserne" - indem sie sowohl klar und deutlich wie auch unkonventionell zum Beispiel gegen rechtsradikale Tendenzen in ihrem Lande auftrat. Aber wer im eigenen Lande zu vielen "eisern" auf die Füße tritt, dem wird offenbar in Estland eine zweite Amtszeit verwehrt. - Erst dadurch tritt nun Kaja Kallas viel stärker in den Vordergrund als der estnische Präsident (wie heißt er noch gleich?). Dass "baltische" Präsidentinnen auch mal bei entsprechenden Anlässen Volkstracht tragen, scheint aus deutscher Sicht auch immer noch eine besondere Bemerkung wert zu sein (estnische Politikermänner tun das übrigens auch - aber wer berichtet darüber?). 

Foto aus dem Jahr 1994

 Abneigung gegen Sowjetisches

2007 war das Jahr des "Denkmalstreits" in Tallinn - und deutsche Berichterstattung wurde noch weitgehend von Stockholm, Moskau oder Warschau aus organisiert. Interessant, dass es schon damals um dieselben Vokabeln und Schlagzeilen ging, wie sie auch heute Verwendung finden. Schon 2006 war in Estland das öffentliche Zurschaustellen sowjetischer Symbole unter Strafe gestellt worden - ein Vorgang, der Tomasz Konicz Anlass gab zu bedauerten, das neue Gesetz mache es in Estland unmöglich, am "Siegestag über den Faschismus" ... "sowjetische Fahnen schwenkend durch die Straßen" zu ziehen (Junge Welt). Er sah damals Estland "im antikommunistischen Rausch" (aber gut erkannt - mit Kommunismus hat Estland wirklich wenig am Hut). 

Schon damals war auch der russische Außenminister Sergei Lawrow im Amt und beklagte die Gleichsetzung von UdSSR- und Nazi-Symbolen. Und auch einige deutsche Journalisten waren zu dieser Zeit mit dem "Etiketten-kleben" sehr schnell bei der Hand: Ulrich Heyden meinte feststellen zu müssen, man messe in "Tallin" (sic!) mit "zweierlei Maß" (Eurasisches Magazin). Und Ute Weinmann glaubte für "Jungle World" entdeckt zu haben, es gehe vor allem um die Überwindung des "Schmach der Westmächte, die den Sieg über Deutschland nur mit Hilfe der Sowjetunion erringen konnten". 

Vorwürfe und einfache Urteile

Anfang 2007, als sich eine parlamentarische Mehrheit für eine Versetzung des "Bronzesoldaten" in Tallinn im estnischen Parlament abzuzeichnen begann, versuchte Moskau monatelang mit gezielter Propaganda die Entwicklung aufzuhalten. Man könne ja die sowjetischen Denkmäler alle nach Russland holen, und auch die Transportkosten bezahlen, hieß es. Oder, als Variante, eine Kopie des estnischen Bronzesoldaten in Moskau aufstellen (aktuell.ru). Für die interessierte Öffentlichkeit lag damals eine lange Liste angeblicher estnischer Sünden bereit, und jeder Punkt darauf klang gleichfalls schändlich: Förderung von Faschismus, Ehrung estnischer SS-Kämpfer, Behinderung der russischen Sprache, keine wirkliche Demokratie. Erneut assistiert Ulrich Heyden, indem er Estland als "Schlußlicht bei der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen" bezeichnete. Die Zielorientierung an Idealen der Demokratie allerdings ging in Russland dann schnell verloren und wurde auch Estland gegenüber nur noch dann wiederholt, wenn es für "westliches" Publikum geschrieben wurde. Resultat waren Reaktionen wie die des österreichischen "Standard": "Esten räumen mit Sowjets auf". Das kleine Estland als Bedrohung Russlands? Oder war vielmehr eine Irritation des westlichen Wertegefüges durch Estland gemeint (das damals noch nicht den Ruhm eines E-Estonia hatte), weil das westliche Bild vom "guten Russen" noch zu sehr von Menschen wie Gorbatschow bestimmt war?

Zerstören, umsetzen, demontieren? 

Aber die Kaja Kallas von heute hat offenbar in mindestens einem Punkt vor, etwas anders zu machen als damals. Damals, ja sogar noch im April 2007 gab es sehr unklare Äußerungen von verantwortlichen estnischen Politikern dazu, was nun mit dem "Bronzesoldaten" passieren solle. Das gab den Gerüchten Auftrieb, das Denkmal solle "zerstört" werden. So titelte die "Frankfurter Rundschau" sogar noch bei Beginn der Arbeiten so: "Esten starten Abriss von Soldatendenkmal", und Korrespondent Gamillscheg ergänzt in einem Kommentar: "Der Beschluss, ihn abzubauen, war unsensibel" (beide Beiträge im Archiv der FR nicht mehr verfügbar, daher hier nicht verlinkt). Da kann spekuliert werden, ob es die deutschen Journalisten zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht besser wussten, oder die Lage einfach, von Stockholm aus gesehen, zu unübersichtlich war?

Kaja Kallas sagt heute (Aussage ARD-Weltspiegel): "Wir wollen die Denkmäler dahin versetzen, wo sie hingerhören: ins Museum." Das, was aktuell in der Ukraine passiere, erinnere die Esten daran, was sie selbst durchgemacht haben. In deutschen Medien wird die estnische Position dennoch auch heute unterschiedlich wiedergegeben. Während einige von "Verlegung" sprechen (ZEIT, Deutschlandfunk), ist bei anderen von "Demontage" die Rede (Tagesspiegel, FAZ), und es gibt auch Versuche den ganzen Vorgang zu verurteilen ("Bildersturm ist schlechte Geschichtspolitik", NZZ). 

Ein Plakat aus dem Jahr 2003, als
die Volksabstimmung zum EU-Beitritt
bevorstand. - Während Estland heute
gleichfalls deutlich die Unterschiede
zu Russland betont, erzeugt die
estnische Abgrenzung gegenüber
Russland anderswo in Europa nicht
überall Begeisterung

Begrenzte Einreise

Da ist es doch gut, dass Estland gleich noch mit einem anderen Thema Diskussionen ausgelöst hat: der Begrenzung von Visazuteilungen für Russinnen und Russen. Vom "Aufräumen" zum "Auswählen" sozusagen. Nach wie vor wird der direkte Zusammenhang mit Putins Angriffskrieg betont. Seit dem 24. Februar seien etwa eine Million Bürger/innen der Russischen Föderation in Länder der EU eingereist, bilanzieren die estnischen Behörden unter Berufung auf Daten von Frontex (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache). Davon seien allein 28% über Estland gekommen (ERR). Estland und Finnland zusammengenommen machen sogar 61% dieser Einreisen aus. Unmittelbar nach Kriegsbeginn hatte die EU ja bereits weitgehende Flugbeschränkungen ausgesprochen, also bleibt vielen nun die Reise über Land als einzige Möglichkeit. Und auch Drittstaaten wie Georgien, die Türkei, Serbien oder Dubai seien als Einreiseweg in die EU genutzt worden. 

Die Vorstellung erzeugt klare Bilder: Russinnen und Russen machen Urlaub in Europa, während die Armee ihres Landes das Nachbarland versucht in Schutt und Asche zu legen. Derweil hatte in Tallinn Außenminister Reinsalu seinen Amtkollegen aus Ungarn Peter Szijjartozu Gast. Der Ungar berief sich dabei aufs deutsche Vorbild: "Wir stimmen mit dem deutschen Kanzler Scholz überein und planen keinerlei Einschränkungen." (ERR) Für stärkere Unerstützung der Ukraine, also für striktere Sanktionen gegen Russland, sprachen sich am 25. August in einer gemeinsamen Entschließung sieben Länder aus: Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Polen. (ERR)

Wir werden sehen, wo die Entwicklung noch hingeht - hoffentlich bald Richtung Frieden und Gerechtigkeit. Aber das die estnische Stimme - so unterschiedliche Reaktionen sie auch nach wie vor im deutschsprachigen Raum hervorruft - gegenwärtig deutlicher gehört wird, das ist wohl unbestritten.

Freitag, Juli 29, 2022

Preissteigerungen machen sich bemerkbar

Der Umsatz im estnischen Einzelhandel belief sich im Juni auf 915 Millionen Euro, so meldet es das estnische Statistikamt. Das bedeutet einen Rückgang um 1%. Was zunächst marginal aussieht, wird beim näheren Blick deutlicher: wenn nur Kraftstoffe und Lebensmittel getrennt gerechnet werden, war der Rückgang stärker (2%), was Analytikerin Johanna Linda Pihlak auf die besonders in diesen Bereichen gestiegenen Preise zurückführt. Beim Verkauf von Secon-Hand-Waren gab es dagegen ein Umsatzplus von 19%, im Gegensatz dazu wies der Bereich Haushaltswaren und Haushaltsgeräte einen Rückgang von 7% auf. 

Die Inflationsrate, so weisen es ebenfalls Daten des Statistikamtes aus, stieg im Juni gegenüber Mai 2022 um 2,7%, aber um ganze 21,9% im Vergleich zum Juni des Vorjahres. Dabei stiegen die Preise für Strom um ganze 129,6%, für Heizung um 62,7%, für Gas um 228,3%, für Festbrennstoffe um 77,3% (aufs Jahr gerechnet, siehe stat.ee). Bei Lebensmitteln gab es den höchsten (durchschnittlichen) Preisanstieg bei Kartoffeln (111,5%), dann folgten Eier (61.9%), Frischfisch (57.6%), Mehl und Getreide (54.8%) und Gewürzen (53.4%).