Dienstag, Dezember 31, 2019

Februar schon verplant

Warum ist in Estland der 24. Februar ein Feiertag? Manche können sich offenbar nicht so richtig erinnern. Oder wollen es nicht.

Der Präsident - gegenwärtig eine Präsidentin - lädt gewöhnlich am Nationalfeiertag zu einem Staatsempfang ein. Es gab schon Jahre, wo Fernsehen und Printmedien aus diesem Anlass endlose Reihen von am "first couple" vorbei defilierenden Gästen zeigte - mit wem bist Du da? Krawatte oder Fliege? Welcher Blauton für die Frau? Ein wirkliches Sehen und Gesehenwerden.
Aber es gibt ja immer Leute, die haben etwas anderes vor. Der 24. Februar 2020 wird auf einen Montag fallen - eine gute Chance, ein verlängertes Ski-Wochenende mit der Familie zu verbringen (in Deutschland zudem: Rosenmontag!).
Was dem einfachen Bürger, der Bürgerin, sicher verziehen wird - beim Ministerpräsident fällt es auf. Er sei an diesem Tage nicht in Tallinn, lässt Juri Ratas (Zentrumspartei) verlauten.


Der Ministerpräsident "habe das Recht, den Unabhängigkeitstag im Kreise seiner Familie verbringen zu wollen", rechtfertigt Außenminister Reinsalu (Partei "Isaamaa") den Regierungschef. Offenbar fühlt sich Ratas durch die zuletzt sich häufenden kritischen präsidialen Anmerkungen doch persönlich stärker getroffen, so dass er nun weder ein "Jahresendtreffen" mit Präsidentin Kaljulaid begehen werde, noch im Februar Zeit für einen Präsidialbesuch finden könne. Kaljulaid hatte Ratas zuletzt offen die Entlassung des rechtpopulistischen Innenministers Helme (EKRE) empfohlen und bezeichnete diesen als "Risiko für die Sicherheit Estlands". (Postimees)

Aktuell bekennt Ratas in einem Interview: "Ich will nicht Präsident werden." Und er fügt an: "Ich mache lieber konkrete Dinge." (err) - Die nächsten Präsidentschaftswahlen stehen in Estland 2021 an.
Eines konnte dann am 30. Dezember doch noch gefeiert werden: der 50.Geburtstag von Präsidentin Kersti Kaljulaid. Allerdings auch dies ohne die führenden Vertreter der gegenwärtigen Regierung.

Mittwoch, Dezember 18, 2019

Peinliche Stammesbrüder

"Ich habe nicht für die ganze Regierung gesprochen, nur für unsere Partei" - zur Zeit vergeht kaum eine Woche, in der sich Estland nicht für seine Regierungsverantwortlichen entschuldigen muss - oder, genauer gesagt: für die wohl peinlichsten estnischen Amtsträger seit der Sowjetzeit.

In Finnland regiere mit der jungen Regierungschefin Sanna Marin nun eine "Allianz der Roten", die "Finnland zerstören wolle und es zur EU-Provinz verkommen lasse". (err) So sagte es Mart Helme, amtierender estnischer Innenminister. Und nicht nur das. In einem Radiointerview soll er auch, mit Blick auf die neue Regierung in Finnland, gesagt haben: "Nun sehen wir, wie eine Verkäuferin Premierministerin wird, und andere ungebildete Leute werden Regierungsmitglieder." (err)

Supermarktkasse oder Ministeramt? Für welchen Job mehr
Qualifikation verlangt wird, bleibt in Estland offen
Nein, mit Diplomatie haben solche Äußerungen wohl nichts zu tun. Empörte Reaktionen kamen somit von nahezu allen Seiten: Vertreter aller Oppositionsparteien im estnischen Parlament verurteilten die Aussagen ebenso wie die "Zentrumspartei", die zusammen mit der konservativen "EKRE" die Regierungskoalition bildet (mit Mart Helme als Vorsitzendem).
Auch in anderen EU-Ländern erregten diese Äußerungen Wellen (ORF / BBC "Die Presse"). Auch bei "Eurotopics" wurde "Undiplomat" Helme zum Thema: wegen "ihrer einfachen Herkunft" sei die neue finnische Regierungschefin kritisiert worden - so die dort dokumentierten Kommentare - "weil sie schon mit 15 Jahren ihr eigenes Brot verdienen musste". Auch die Antwort der Finnin wird zitiert: "Sie hat erklärt, stolz zu sein auf Finnland, wo ein Kind aus einer armen Familie sich hoch qualifizieren und auch eine Kassiererin Premierministerin werden kann." (siehe auch: Blog Sanna Marin)

Da stützt nur noch die Allianz der Familie Helme. "Nicht verurteilen, sondern loben" solle man Helmes Äußerungen, meint Sohn Martin Helme, Finanzminister der gegenwärtigen Regierung Ratas (err). Die ganze Diskussion sei "ein Sturm im Wasserglas" - auch eine Entschuldigung gegenüber Finnland sei daher nicht nötig. Papa Helme selbst klagt inzwischen die Presse an, "falsche Dinge zu betonen", so dass es möglicherweise zu "Missverständnissen" gekommen sei.

Das sehen sowohl Regierungschef Jüri Ratas (Zentrumspartei) und auch Präsidentin Kersti Kaljulaid entschieden anders. Beide haben sich inzwischen eindeutig geäußert - wobei Ratas lediglich betont, Helme spreche nicht für die estnische Regierung. Warum Ratas überhaupt diese Art der Koalition gewählt hat? Nicht nur bei den Zentrums-Wähler/innen bleiben viele Fragenzeichen.

Helme hatte seine Äußerungen bei "TRE RAADIO" getätigt - einem Sender, der als EKRE-nah gilt. Gründer, Eigentümer und Geschäftsführer ist hier Siim Pohlak, ein Parteikollege der Helmes. Hatte also vielleicht Parteifreund Helme gedacht, er sei gewissermaßen "unter sich", könne sich also nach Herzenslust profilieren?

Am 17. Dezember überstand Innenminister Helme ein gegen ihn gerichtetes Misstrauensvotum im Parlament - nur 44 der 101 Abgeordneten stimmten dafür, 11 Abgeordete des Koalitionspartners der Vaterlandspartei ("Isamaa") enthielten sich der Stimme (err).

Drei Minister musste die rechtspopulistische EKRE bereits austauschen, seit dem Start des zweiten Regierungskabinetts Ratas im April 2019. Die rechtspopulistische EKRE hatte bei den Wahlen am 3. März 2019 17,8% der Stimmen für sich verbuchen können.
"Ihre Äußerungen zielen einfach auf die eigenen Anhänger - die anderen Estinnen und Esten müssen dann sehen, wie sie damit fertigwerden," so schätzt es Politikwissenschaftler Tõnis Saarts ein (ERR). Und er meint auch: "die beiden anderen Regierungsparteien, sowohl die Zentrumspartei wie auch Isaamaa, werden ohne die gegenwärtige Koalition einfach wichtige Ziele nicht durchsetzen können. Daher haben sie Angst vor deren Zerfall; somit hat EKRE sogar die angenehmste Lage hier am Tisch", meint er.
Die Neujahrswünsche jedoch dürften bereits bei vielen Estinnen und Esten sortiert sein.