Freitag, August 23, 2019

Mrs. President is not amused

Ungewöhnliche Zeiten für Estland: Da haben doch Marketingexperten jahrelang am positiven Bild Estlands im Ausland gearbeitet, und ausgerechnet Präsidentin Kersti Kaljulaid stellt fest: "So geht es nicht weiter!"

Für manche sieht das Erscheinungsbild Estlands im Ausland - das sogenannte "Image" - immer noch ähnlich aus wie es 2011 der "Spiegel" beschrieb: Wirtschaftsfreundlich, komplett digital organisiert, transparente Verwaltungsstrukturen, Tallinn als "Mittelalter-Wunderland" für Touristen. Das Handelsblatt meint gar, im Vergleich zu Deutschland, "Länder wie Estland liegen weit vor uns." Endlich wird Tallinn nicht mehr mit irgend einem Ort auf Island verwechselt (Trump: "Kann ich das kaufen?"), aber Estlands Präsidentin äußerte nun schon mehrfach deutliche Ungeduld.

Dass der estnische Ministerpräsident Ratas zur Absicherung des eigenen Machterhalts die Rechtsaußenpartei EKRE in die Regierung mit aufzunahm, erzeugte auch international viele Irritationen (zusammen verfügen EKRE und Zentrumspartei über 53 der 101 Sitze im Parlament). Vor allem den guten Ruf Estlands sehen viele Presseberichte bedroht (Financial Times, Postimees, Süddeutsche, Estonian World). "Rechtsradikale in Estland an der Macht - ganz im Sinne von Putin-Russland" mahnen andere (OpenDemocracy). Und in der "Welt" ist zu lesen: "Estland verliert seinen Wunderland-Status." Zumindest einen "Chaosfaktor" stellt auch "Telepolis" fest, und die "Süddeutsche" titelt: "Vom Musterschüler zum Rabauken".

Vielleicht war also die Aufnahme Estlands als nichtständiges Mitglied im UN Sicherheitsrat (DW) der vorläufig letzte estnische Erfolg, basierend auf einem mühsam aufgebauten guten Image. Aktuell heute, zum 23. August 2019, möchten sich offenbar auch Regierungskritiker in Hongkong einem vermeintlichen "guten Beispiel" anschließen:in Gedenken an den "Baltischen Weg" sollten die heutigen Protestaktionen als "Honkonger Weg" veranstaltet werden.

Da gibt es ja noch einen anderen Spruch; im Deutschen beginnt er mit "ist der Ruf erst ruiniert ..." Petar Kehayov, ein Bulgare, geht in einem Blogbeitrag den möglichen Gründen für die unterschiedliche Sichtweise auf Estland - in diesem Fall im Vergleich mit Bulgarien - nach. "Mit 21 kam ich zum Studium nach Estland und lebte dort 16 Jahre, bevor meine Frau – eine Estin – und ich vor ein paar Jahren nach Deutschland zogen", schreibt er. "Immer wieder erstaunt es mich, wie schlecht Bulgarien von hier aus aussieht und wie positiv Estland."

Zumindest Kersti Kaljulaid hat nun offenbar die Geduld verloren mit denen, die ihrer Ansicht nach den guten Ruf Estlands mutwillig zerstören. Im Fokus ihrer Kritik stand in der vergangenen Woche der estnische Innenminister Mart Helme. Dessen Versuch, den Chef der estnischen Polizei- und Grenztruppen, Elmar Vaher, aus dem Amt zu drängen, verurteilt die Präsidentin öffentlich: "solches Verhalten stellt die Gültigkeit estnischer Gesetzgebung in Frage," meint Kaljulaid (ERR).
"Eher sollte Frau Präsidentin sebst zurücktreten!" giftete Martin Helme, seines Zeichens Innenministers Sohn und selbst Finanzminister, im perfekten "Bäumchen-wechsel-dich"-Spiel zurück (ERR). "Sinnloser Hysterie" seien die präsidialen Äußerungen seiner Meinung nach zuzurechnen. Papa Helme traf sich aber daraufhin mit Vaher, und erklärte die "Meinungsverschiedenheiten" für beigelegt. Ministerpräsident Ratas schloss sich an (ERR).

Also alles nur ein "Sturm im estnischen Wasserglas"? Auf die Medien jedenfalls scheint der Streit schon jetzt verwirrend zu wirken: Leser/innen des "Handelblatt" und Hörer/innen der "Deutschen Welle" etwa können sicher nur schwer erkennen, wen nun Präsident Kaljulaid mit ihrer Kritik meinte: Innenminister Helme (Vater) oder Finanzminister Helme (Sohn). Im Zweifel beide. Da bleibt vorläufig nur Ironie: Egal, Helme oder was - Hauptsache Island!