Montag, Januar 26, 2015

E-Jubiläum

Trotz anhaltender Kritik blickt das estnische Wahlamt stolz auf ein Jubiläum: bereits seit 10 Jahren kann in Estland per Internet gewählt werden. Eine neue an der Universität Tartu angefertigte Studie weist aus, dass E-Wählerinnen und -Wähler aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen: einen "typischen Internetwähler" gäbe es nicht, sagt die Studie. 30% aller Wahlberechtigten werden voraussichtlich bei den kommenden Wahlen ihre Stimme elektronisch abgeben (siehe ERR).

Elektronische Wählersuche
Bald wieder in der Praxis:
Estnisches E-Voting
Kristjan Vassil und Mihkel Solvak, Politikwissenschaftler und Autoren der Studie, beschäftigen sich bereits seit längerem mit dem Thema des E-Votings. So war Vassil Autor eines Thesenpapiers zur Frage, ob Wahlen in Estland anders ausgehen würde, wenn es keine Internetwahlen gäbe. Ihr Untersuchungsergebnisse sagen unter anderem auch, dass Anhänger der "Zentrumspartei" (Keskerakond) verhältnismäßig wenig per Internet abstimmen, dagegen Anhänger von "Reformpartei"(Eesti Reformierakond) und "Pro Patria / Res Publica" (Erakond Isamaa ja Res Publica Liit) vergleichweise aktiv beim E-Voting dabei sind. Dennoch sei nur durch das Bereitstellen von Wahlmöglichkeiten keine Änderung im Wählerverhalten festzustellen - manche wechseln eben eher die Methode, wie sie abstimmen, als ihre politische Präferenz.
Die Zentrumspartei allerdings verstand diese Untersuchungsergebnisse offenbar anders, und begab sich zweitweise in Wahlkämpfen auch schon mal auf die Seite der E-Voting-Gegner.

Jung, neureich, Internet? 
Zu Anfang, bei den Wahlen 2005, schien das noch anders zu sein. 9.800 Menschen beteiligten sich damals per Internet, und die Annahme schien zu stimmen, dass es eher junge, gut ausgebildete und gut verdienende Leute waren. Zumeist Männer. E-Voting, nur ein Spielzeug der Eliten? Inzwischen ist aber klar, dass es zwar bei den Parteien unterschiedlich viele E-Voting-Fans gibt, aber seit den Wahlen 2009 sind E-Wähler in allen Gesellschaftsschichten zu finden, auf dem Dorf wie in der Stadt, bei Alten wie bei Jungen. "Heute könnten wir nicht einmal vorhersagen, wer am E-Voting teilnehmen wird und wer nicht," sagt Solvak. Allerdings steige die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme mit der Entfernung zwischen Wohnort und Wahlkabine, so die Wissenschaftler. Untersuchungen zufolge leben in Estland 70% der Wahlberechtigen in einer Entfernung von nicht weiter als eine halbe Stunde Lauf-Entfernung zum Wahllokal.Bei den letzten Wahlen war bereits jeder Dritte ein E-Wähler (2005 jeder 50ste). Wenn ein Este oder eine Estin erst einmal beim E-Voting teilgenommen habe steige die Wahrscheinlichkeit, dass der Weg zum Wahllokal beim nächsten Mal eingespart bleibe. Zudem steigere die bloße Möglichkeit der Kontrolle, ob die eigene Stimme auch gezählt worden sei, das Vertrauen ins System, meinen zumindest Solvak und Vassil.

Gegner des E-Voting in Estland habe sich auch längst positioniert. Eine Kritikergruppe unter Beteiligung des US-Wissenschaftlers J. Alex Halderman unterhält eine eigene Internetseite, und präsentierte 2014 eigene Untersuchungen, die beweisen sollen das estnische System sei manipulierbar. Auch in der deutschsprachigen Fachpresse wurde das diskutiert (siehe "Heise online"), auch die estnische Wahlkommission verfasste eine Stellungnahme dazu. Wie das estnische Wahlamt betonte, nehme man jede Kritik sehr ernst. Man sei aber selbst der Auffassung beim E-Voting inzwischen ein höheres Maß an Sicherheit erreicht zu haben als bei Wahlen mit Papier. An der kritischen Studie seien keine neuen Arten möglicher Bedrohungen festgestellt worden, und zudem sei es nicht realistisch, dass die beschriebenen Bedrohungen realistisch von jemand durchgeführt werden könnten. Selbst von der Webseite der Kritiker könne nicht entnommen werden, wo konkret das estnische System Schwächen habe. Auch die Veröffentlichung der kritischen Statements ausgerechnet zwei Tage vor den Europawahlen habe keinen Grund nahegelegt, diese Wahlen abzusagen.
Ein Slogan der E-Voting-Gegner
von "www.papierwahl.at"
Anto Veldre, IT-Experte der Behörde die das estnische Informationssystem organisiert (RIA), rechnet die Kritiker daher auch eher zu den "Experten für Public Relation", da sie nur auf den Effekt und die Internet-Klicks aus seien, die ihnen eine möglichst fundamentale Kritik des estnischen Systems bringt. "Der Beweis dafür, dass es sich um eine PR-Strategie handelt liegt darin, wenn sie versuchen zu behaupten, eben ALLES sei kaputt, während sie den Betreibern keinerlei technische Information liefern dazu." Und Karoliina Raudsepp ergänzt seitens des estnischen Ministeriums für Wirtschaft und Kommunikation: "Falls es Angriffe auf das estnische E-Voting-System geben wird, dann werden sie wahrscheinlich eher von der politischen Seite kommen als von der technischen."

Reparaturarbeiten am estnischen Image
Nun ja, auch die estnischen Regierungsbehörden sind PR-Spezialisten. Für die estnische Tourismuswerbung scheint die Sache einfach: insgesamt sei allein durch die E-Wähler der Parlamentswahlen von 2011 insgesamt soviel Zeit eingespart worden dass es 11.000 Arbeitstagen entspreche, oder umgerechnet 504.000 Euro an Mindestlöhnen. Demokratie als Zeitersparnis? Wählen Sie per Internet, und Sie sparen Zeit sich mit Politik zu beschäftigen? Hmm - ein Vorbild am deutschen System mit Zehntausenden freiwilliger Wahlhelfer/innen will sich Estland offenbar nicht nehmen.
Leider wurde aber die Wahlbeteiligung durch die elektronischen Neuerungen nicht gesteigert - sagt zum Beispiel der in den USA tätige Politologe Meelis Kitsing, der für das "Journal of Politics" auch Matthew Hindman's Buch "Die Mythen der digitalen Demokratie" rezensierte. Kitsing meint unter anderem, dass der Theorie der Befürworter zufolge durch den Einsatz des Internets die Wahlbeteiligung um 10-15% steigen sollte - dem wiederspreche aber die Realität.

Neuigkeiten zur Internetsicherheit in Estland gibt es (englisch) auch hier:

Estonian Cyber Security News Aggregator

Sonntag, Januar 25, 2015

Mittwoch, Januar 21, 2015

Wahlkampf-Ende, freundlich gleichgültig

Beliebt bei estnischen Politikern:
blaue Krawatten

Im Windschatten internationaler Schlagzeilen der baltischen Nachbarn steuert Estland auf die am 1.März stattfindenden Parlamentswahlen zu. Während die Agenda der europäischen Nachbarn gegenwärtig von der lettischen EU-Präsidentschaft bestimmt wird, während die Wirtschaft als Neuigkeitsfaktor dieser Region allenfalls noch die Euro-Einführung Litauens zur Kenntnis nimmt, ist der große Rest der Meldungen in den Medien vom Ukraine-Konflikt bestimmt. Und in diese Richtung wird auch fündig, war nach estnischen Wahlkampfthemen sucht. "Wir sind keine dumpfen Ost-Untermenschen"! Das verkündete der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves der Zeitung "Die Welt", die offenbar gern diese Funktion der "Präsidenten-Hauspostille" übernimmt und vor Bedrohung aus Russland warnt. Aber die Ilves-Allergie, zu den "dummen Osteuropäern" gezählt werden zu können, ist nicht neu: bereits 2012 erregte er mit ähnlichen Anschuldigungen Aufsehen (siehe "Die Presse")

Die "estnische Angst" gegen die "Russland-Versteher" - wer sich auf diese "Alternativlosigkeit" einlässt, und Estland nur als Mosaiksteinchen russischer Machtpolitik versteht (oder wahlweise auch der CIA oder NSA), dem kann natürlich die estnische Innenpolitik aus dem Blickfeld geraten. Wer Tallinn in etwa geographisch-politisch heute dort einordnet, wo Berlin zu Zeiten des Kalten Kriegs war, der scheint aus Sicht estnischer Präsidentenaugen der einzige Realist heute zu sein. Schon 2011 meinte Ilves, nach der Art der Beziehungen Estlands zu Russland gefragt, dies mit "freundliche Gleichgültigkeit" benennen zu können (siehe "Die Presse").

Tere, Edgar! Am coolen Image muss noch
gearbeitet werden ...
Darüber kann man denken was man will - aber gibt für Estinnen und Esten auch andere Themen? Nach dem Wechsel von Ansip auf Rõivas bleibt das Spitzenpersonal in diesem Wahlkampf dasselbe: Taavi Rõivas führt die Wahlliste der Reformpartei an, bei den Sozialdemokraten bleibt es Sven Mikser.
Der inzwischen 64-jährige Edgar Savisaar, Bürgermeister von Tallinn, ist zwar inzwischen von seiner Frau geschieden, nicht aber von seiner (Zentrums-)Partei: er ist erneut Spitzenkandidat. (Seine Frau Vilja allerdings verließ auch die Partei - und wechselte 2013 ausgerechnet zur Reformpartei).
Auch Anschuldigungen, Savisaar habe geheime Konten in der Schweiz, konnten ihn (politisch) bisher nicht erschüttern.Seine Fans werden vielleicht längst ein 2013 veröffentlichtes Buch "Die Wahrheit über Estland" zu Hause stehen haben. Aufsehen erregte der Inhalt aber allenfalls bei den lettischen Nachbarn, denen Savisaar vorwarf ihre Volkszählung manipuliert zu haben, um statistisch in der Bevölkerungszahl über 2 Millionen bleiben zu können.
Sozis tragen
grau

Für weit weniger Aufsehen sorgt Regierungschef Taavi Rõivas."Ein neues nordisches Land" soll Estland werden, so Rõivas. "Besser geschützt, wohlhabend, wachsend" - so seine Vorstellung. Ist das neu? Nicht gerade ein Visionär. Oder ebenfalls beeinflusst von seiner Frau - einer Popsängerin (Luisa Värk). Immerhin sind heute, nur 12 Monate nachdem Rõivas ziemlich plötzlich als Nachfolger von Andrus Ansip ins Amt gehoben wurde, kaum Stimmen zu vernehmen die meinen, er sei die falsche Person dafür gewesen - bis zum Wahlabend am 1.März zumindest. Jürgen Ligi, Parteifreund und Ex-Finanzminister, meint sich zumindest vom derzeitigen Koalitionspartner, den Sozialdemokraten, abgrenzen zu müssen: "Wir brauchen keine sozialdemokratischen Werte, wir wollen innovativ sein." Und weiter: "Es gibt auch eine Menge negativer Aspekte in den nordischen Ländern." Konkret gemeint ist damit unter anderem eine progressive Besteuerung der Einkommen - ein Vorschlag, der immer mal wieder von der Opposition eingebracht wird. Für einen Mindestlohn von 1000 Euro - eine Verdreifachung des gegenwärtigen Niveaus - sammelte die Zentrumspartei jetzt Unterschriften. Populismus oder Wagemut?

Sven Mikser war mal Opposition - jetzt ist er Verteidigungsminister, also momentan Aufrüstungsminister. Immerhin - mit den Augen Ligis gesehen - Sozialdemokrat. Angesichts der viel beschworenen Bedrohungslage ist es wohl auch gut, für die Verteidigung des Vaterlandes zuständig zu sein. "Auf Einkaufstour bei den Waffenhändlern", das schrieb kürzlich das Luxemburger "Tageblatt" über ihn.

Da könnte der Wahlkampf doch jetzt mal losgehen. Doch halt: er endet gerade eben. Dem reformierten estnischen Wahlgesetz zufolge darf es 40 Tage vor der Wahl keine Wahlwerbung mehr im öffentlichen Raum, an Fahrzeugen oder Gebäuden geben. Wer dagegen verstößt, muss mit Strafen zwischen 400 und 1300 Euro rechnen. Am 23.Januar wird die estnische Wahlkommission die endgültigen Wahllisten herausgeben: 876 Kandidatinnen und Kandidaten für 101 Parlamentssitze.