Sonntag, Dezember 27, 2020

Brex-exit

Kurz vor dem Start ins Jahr 2021, wenn das Vereinigte Königreich Großbritannien kein Mitglied der Europäischen Union mehr sein wird, ist offenbar noch dringende Rückreise nach Estland, und auch Lettland und Litauen geboten. Wie die Nachrichtenagentur ERR zunächst berichtete, solle am 28. Dezember ein von den Außenministerien der drei Länder gechartertes Flugzeug für Menschen zur Verfügung stehen, die "dringend ins Heimatland" zurück müssen (err). Das estnische Außenministerium ergänzte inzwischen, dass es auch am 29. Dezember noch einen Flug direkt nach Tallinn gäbe (VM.ee).  

Unter Bedingungen natürlich: Voranmeldung auf einer gemeinsamen Webseite ist nötig - so wie es gegenwärtig für alle Estinnen und Esten empfohlen wird, die trotz aller Einschränkungen ins Ausland reisen. Vorrang für diesen Sonderflug sollen Familien mit Kleinkindern, ältere Leute über 65 Jahre alt, und minderjährige Jugendliche die ohne Eltern reisen bekommen (Wortlaut der Ankündigung: "wer eilig zu repatriieren wünscht"). 

Das Flugticket muss von den Betroffenen selbst bezahlt werden. Wer am 28.12. nach Riga mitfliegen will, muss auch die Weiterreise nach Tallinn sichern. Diese Flüge seien allerdings nicht zur Unterstützung von Kurzreisen gedacht, heißt es, sondern nur für Personen mit dauerhaftem Wohnsitz in Estland (resp. Lettland oder Litauen). Gleichzeitig verständigten sich die drei Außenministerien, die am 20.12. wegen der neuen, aggressiven Corona-Variante verhängten Einschränkungen der Flugverbindungen nach Großbritannien bis zum 31. Dezember aufrecht erhalten zu wollen. 

Aus Großbritannien zurückkehrende Estinnen und Esten werden allerdings 14 Tage in "Selbstisolation" verbringen müssen. Auch wer einen Corona-Test mit negativem Ergebnis vorweisen kann, muss mindestens weitere sieben Tage in Isolation bleiben.

Dienstag, Dezember 22, 2020

Ungewohnter Neid

Die Estinnen und Esten, das müssten doch ruhige, zurückhaltende, nordische Charaktere sein, die ruhig und souverän über den Dingen stehen, wenn andere sich längst erhitzen und aufregen? Könnte sein. Gewöhnlich sind es eher die Nachbarn aus Litauen und Lettland, die sich nervös darüber wundern, wie oft Estland positiv in der internationalen Presse erwähnt wird - was vor allem dem "Tigersprung" der Digitalisierung des Landes zu verdanken ist. Nun aber blickt Estland nach Litauen - was ist passiert? 

In Litauen werde inzwischen ein höherer Durchschnittslohn als in Estland gezahlt, so vermeldet es der estnische ERR. Noch im Jahr zuvor sei dieser in Estland um 100€ höher gewesen, aber inzwischen habe sich das Blatt gewendet. Im dritten Quartal 2020 habe der durchschnittliche Bruttolohn in Estland bei 1.441 Euro gelegen, in Litauen sei er aber auf 1.455 Euro angestiegen (Lettland 1.147 €). Damit habe der litauische Durchschnittslohn um 10.4% höher gelegen als im gleichen Abschnitt des Vorjahres. 

Estland tröstet sich damit, dass die Last an Steuern und Abgaben in Litauen etwas höher sei als in Estland. Und immerhin sei der Durschnittslohn trotz der Coronakrise gestiegen, bestätigt auch die estnische Zentralbank (err). Diese Zahlen sagen allerdings vorerst noch nichts über die Bilanz des gesamten Jahres aus. Und der nüchternen Statistik steht ein erheblicher Rückgang der Beschäftigtenzahl in einigen Branchen gegenüber, so in der Reisebranche, den Gaststätten und den Hotels. "Diejenigen, die in der Krise ihren Job verloren haben, waren meist jüngere Leute", sagt die estnische Wissenschaftlerin Kadri Rootalu. "Noch 2019 waren in Estland etwa 33.000 Menschen im Bereich Übernachtung und Catering tätig," bilanziert Rootalu. "Aber schon kurz nach Ausbruch der Krise im März 2020 wurden 5.000 davon entlassen."

Sonntag, Dezember 13, 2020

Denk ich an Deutsche, wird mir Nacht ...

Ein Roman von Ungern-Sternberg - nein, kein Stück Literatur. Eher ein Stichwort für Spezialisten. Vielleicht müssen da erst einmal die "basics" erklärt werden: Ungern-Sternberg = deutschbaltisches Adelsgeschlecht. Zunächst "von Ungern", ab 1593 mit dem Zusatz "Sternberg". Eine Sippe voller Mythen und Geschichten, eine davon war einmal, sie kämen "aus dem Lande der Ungern". Unter den heute bekannten Persönlichkeiten sind unter anderem die Journalistin Christina von Ungern-Sternberg, oder der Diplomat Michael Freiherr von Ungern-Sternberg die öffentlich sichtbarsten Figuren. Vielleicht auch noch der Historiker Jürgen von Ungern-Sternberg. Aber "Roman" taucht erst kürzlich wieder in den Schlagzeilen auf - in der estnischen Presse (err). 45.000 Euro will die estnische Regierung für ein Denkmal bereitstellen. Da gilt es herauszufinden, welche Art Gedenken hier gemeint sein könnte.  
 
Als Kommandeur einer Teilgruppe der Weißen Armee, die im Russischen Bürgerkrieg (1918-22) gegen die Bolschewiki kämpften, besetzte "Roman" Anfang 1921 die Äußere Mongolei, woraufhin er vom Bogd Khan den Titel eines "Khan der Mongolei" verliehen bekam. Nach etwa sechs Monaten wurden seine Truppen von der Roten Armee zerschlagen. Ungern-Sternberg selbst wurde gefangen genommen - von seinen eigenen Leuten an die Rote Armee ausgeliefert - und nach kurzer Zeit hingerichtet.

Geschichten über seine Person werden demzufolge auch in der Mongolei diskutiert: früher mordender Antikommunist, neuerdings eher Bekämpfer der chinesischen Herrschaft? Starke Mythenbildung rund um seine Person - meint auch Mongolei online. Aber, wir lesen dort auch von unverhohlener Brutlalität seines Vorgehens. Der russische Schriftsteller Leonid Jusefowitsch bezeichnet Roman von Ungern-Sternberg als "Ideologen der Brutalität". 

Als Nikolaus Robert Maximilian am 10. Januar 1886 geboren, nannte sich der Sohn von Baronness Sophie von Wimpffen und ihres Mannes Baron Leonhard von Ungern-Sternberg später "Nikolai Roman Fjodorowitsch". Nachdem sich die Eltern scheiden ließen, blieb der Sohn bei der Mutter, und lebte nach deren zweiter Ehe mit Baron Hoyningen-Huene auf desse Gut Järvakanki (Järwakand). Schon als Schüler des Nikolaus-Gymnasiums Tallinn (damals Reval) soll er bekannt dafür gewesen sein, niemals irgendwelche Regeln zu akzeptieren: regelmäßig Schulbücher aus dem Fenster zu werfen, um dann, vorbei an seinen hilflosen Lehrern, den Büchern nachzurennen und nicht wieder zurück zu kommen, war da noch eine der harmlosesten Marotten (Wimpfen-Geschichte). Sein Stiefvater erbat dann seine Aufnahme in die Marineakademie St.Petersburg, wo er ebenfalls durch endlose Disziplinlosigkeiten auffiel. Er meldete sich dann freiwillig zur Russischen Armee (James Palmer: der blutige weiße Baron / die-andere-Bibliothek). 

Seit seinem Tod am 17. September 1921 in Nowosibirsk wurde dieser von den meisten eher gefürchtete Mensch schon vielfach zur Figur in Büchern. Mit unterschiedlicher Konotation: als paranoider Narzist, hemmungsloser Antisemit, entfesselter Warlord, heldenhafter Vorläufer des Führers Adolf Hitler, Dschingis Khan für ein halbes Jahr, oder doch eher eine Mischung aus Don Quichote und Iwan dem Schrecklichen? Warum aber will Estland so einer Person nun unbedingt ein Denkmal bauen?

Das beruht offenbar auf einer estnische Vereinigung mit dem Namen "Ungern Khan", sowie die "Sinine Äratus" (Blaues Erwachen), die der Partei EKRE nahesteht. Noch am 1. Dezember meldete der estnische Nachrichtenkanal ERR, die Partei würde die Errichtung eines Denkmals für Roman von Ungern-Sternberg finanziell unterstützen wollen. "Wir haben das Recht, Projekte zu unterstützen, die unseren Werten entsprechen", so Finanzminister und EKRE-Parteichef Martin Helme dazu. Einen Tag später erklärten die Vertreter von "Sinine Äratus" ihren Verzicht auf die Staatsgelder (err) - aber nicht auf das Denkmal. 
Wollen wir wirklich wissen, welcher estnische Bürgermeister (oder Bürgermeisterin) ein solches Denkmal gerne errichtet sehen will? Oder welche Organisationen in Deutschland dazu vielleicht applaudieren würden? Liebes Eestiland, wir hoffen, du bist noch nicht so tief gesunken, dass du solche zwielichtige "Helden" brauchst ...