Samstag, Oktober 05, 2024

Virtuelle Nachbarn

"Ihre digitale Identität, ihre Firma, ihre Freiheit!" So bewirbt Estland die Möglichkeit gerade für Firmeninhaber, sich digital an das estnische Kommunikationssystem anzudocken. 

"Die E-Residency ist in Estland eine von der Regierung ausgestellte digitale Identität, die globalen Unternehmern Fernzugriff auf das digitalste Land der Welt ermöglicht", so die regierungsamtliche Information. Eine sichere Authentifizierung online werde ebenso geboten wie ein Weg, Dokumente mit elektronischen Signaturen zu signieren. Natürlich könne man ein Unternehmen überall gründen (auch online). Eine "positive Kapitalrendite für globale Unternehmer" wolle man schaffen. "Estland war das erste Land, das 2014 E-Residency anbot. Es ist nach wie vor das beliebteste Programm seiner Art für ambitionierte Unternehmer." (e-resident.gov.ee)

Verläufige Bilanz nach 10 Jahren: 59.644 ausländische Staatsbürger mit "E-Residenz" gibt es inzwischen. Gebührenfrei ist die Registrierung allerdings nicht: 100-120 Euro nimmt der estnische Staat pro Person ein. 

Unerwünschte Elemente? 

Nun müssen die digitalbegeisterten Estinnen und Esten allerdings feststellen, dass sich natürlich auch zwei Länder unter insgersamt 170 virtuell vernetzten Nationen befinden, zu denen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine die Beziehungen kompliziert geworden sind: Russland und Belarus. 

Eigentlich habe man schon seit März 2022 keine E-Residency mehr an Antragsteller aus diesen beiden Ländern vergeben, so Oscar Õun, Risokomanager für das E-Residency-Programm gegenüber ERR. Und da die E-Residency nach einem Gültigkeitszeitraum von fünf Jahren erneuert werden muss, sei auch die Gesamtzahl der Registrierten leicht gefallen. Einige dieser erneuten Antragsteller habe man also nicht wieder zugelassen. 

Noch im Februar 2022 sollen sich 8,5 Prozent aller gültigen estnischen E-Residency-Karten im Besitz russischer und weißrussischer Staatsbürger gewesen sein - bis zum Ende des Sommers 2024 ist dieser Wert auf 5 Prozent gesunken. Genauer gesagt seien es 4.421 russische und 902 belarussische Bürgerinnen und Bürger mit E-Residency-Status gewesen, verblieben sind noch 2.573 bzw. 565 – ein Rückgang um 42 Prozent. 

Sanktionsfrei

Die estnischen Behörden betonen, dass es bisher keinerlei Sanktionen gäbe, die russischen Bürgerinnen und Bürgern untersagen würden, sich an estnischen Unternehmen zu beteiligen oder sie zu besitzen - ob nun mit E-Residency oder ohne. „Selbst wenn die digitale E-Residency-ID einer Person widerrufen wird, beendet dies nicht die Geschäftstätigkeit der mit dieser Person verbundenen Unternehmen in Estland“, sagt Anita Preinvalts, Sprecherin der Polizeibehörde (Politsei- ja Piirivalveamet). 

Ein Unternehmen von überall führen zu können, und doch an das digitale System der "Residenz" angeschlossen zu sein - gerade damit hatte Estland ja sehr aktiv geworben. Reduzierung von Bürokratie und Papierkram sowie eine globale Community werde geboten - die bereit ist, Wissen und Erfahrungen auszutauschen. Der Status einer E-Residency bedeutet nicht, dass man tatsächlich in Estland ansässig ist.

Sonntag, September 08, 2024

Estnische Gardinen

In deutschen Medien wurde in letzter Zeit eine spezielle estnische Serviceleistung angekündigt: angeblich wolle Estland Insassen von Gefängnisssen aus anderen EU-Ländern übernehmen. Schon Ende 2023 gab es einen entsprechenden Bericht über die Absicht von Großbritannien, Gefangene nach Estland zu verlegen.  Von "Zellen anmieten" war da die Rede.  

30 Millionen Euro Einnahmen für Estland? 

Im Juni 2024 besuchte eine Delegation des Obersten estnischen Gerichtshofs das Deutsche Bundesverfassungsgericht, danach stieg auch die deutsche Presse auf das Thema ein: "Estland will Deutschland die Knackis abnehmen", so titelt die BILD.  Und die Berliner Zeitung hat auch gleich eine Begründung parat: Estland brauche Geld für einen möglichen Krieg. Etwa 3000 Euro im Monat koste die Unterbringung eines Gefangenen in Estland, so zitiert die britische BBC die estnische Justizministerin Liisa Pakosta (Eesti200), die gleichzeitig bestätigte, dass britische Offizielle bereits ein Gefängnis in Tartu besichtigt hätten (andere Quellen sprechen von 90 Euro pro Tag). Während in Großbritannien die Regierung beinahe gezwungen sei, Inhaftierte wegen Überfüllung der Gefängnisse zu entlassen, seien in Estland die Anstalten nur zu 67% belegt - allerdings verfüge Estland auch nur über drei Gefängnisse für insgesamt 3041 Personen (Independent). Allerdings hat die britische Regierung bereits ein Informationspaket für den Fall bereitgestellt, dass es in Estland Gefängnisinsassen aus Großbritannien geben sollte. 

Bedenken gegen Kriminellen-Import

Innenminister Lauri Läänemets (SDE) äußerte sich jedoch skeptisch gegenüber den Plänen, Gefangene ausländischer Staatsangehöriger in estnischen Sicherheitseinrichtungen unterzubringen. Er habe Bedenken, kriminelle Banden aus verschiedenen Ländern könnten sich hinter estnischen Gefängnismauern treffen, so weitere krmininelle Aktivitäten starten und Estland zu einem weniger sicheren Land machen, äußerte Läänemets gegenüber der estnischen "Aktuaalne Kaamera". (ERR)

Berichten zufolge könnten die drei Gefängnisse Estlands in Tallinn, Tartu und Jõhvi insgesamt etwa tausend zusätzliche Insassen beherbergen. Tartu wurde als wahrscheinlicher Bestimmungsort für den Großteil der im Rahmen des Plans zu vermietenden Gefängnisräume ausgewählt. Das Gefängnis in Tartu bietet derzeit Platz für 933 Insassen, aber eines seiner Gebäude mit 600 Plätzen wurde stillgelegt und die Auslastung beträgt jetzt nur noch 29 Prozent. (ERR)

Rait Kuuse, Leiter des estnischen Gefängnisdienstes, wies darauf hin dass nur vier Länder in Europa einen Rückgang von Gefängnisinsassen in Höhe von 5% aufweisen: Estland, Litauen, Irland und Griechenland. Als weitere Option im Hinblick auf eine Reform des Gefängniswesens in Estland sieht er aber auch die Möglichkeit, doppelt belegte Zellen zu Einzelzellen umzuwandeln. (ERR)

Die Delegation aus Großbritannien jedenfalls habe nach der Besichtigung des Gefängniskomplexes in Tartu einen guten Eindruck gehabt, betonte Justizministerin Pakosta (ERR).

Mittwoch, August 28, 2024

Bitte mit weißem Eimer

In Estland verirren sich jedes Jahr über 200 Personen in den Wäldern  Warum? Das können wohl nur diejenigen fragen, die nicht wissen, was viele Menschen tun, wenn sich der Sommer dem Ende zuneigt. Wie in der ganzen Region zieht es viele zum Pilzesuchen - immer auf der Suche nach guten Stellen, die noch niemand anderes entdeckt hat. 

In diesem Jahr fühlt fühlt sich die estnische Polizei veranlasst zu eine Warnung. "Es ist ja keine Schande, per Telefon die 112 anzurufen," meint Polizeivorsteher Pirko Pärila im estnischen Fernsehen. Sobald jemand das Gefühl hat, verloren zu sein und den Weg aus dem Wald nicht mehr zu finden, sollte er sofort anrufen. "Denn wenn jemand damit länger wartet, könnte es draußen auch schnell dunkler werden", so Pärila (err)

Zur Ausrüstung des Pilzesuchers gehören, so die Empfehlung der estnischen Polizei, vor allem drei Dinge: ein Mobiltelefon mit voll geladenem Akku, eine warme Jacke, und: ein weißer Eimer. Ein weißer Eimer sei aus der Luft am einfachsten zu erkennen, empfiehlt die estnische Polizei; sei es von einer Hubschrauberbesatzung, Drohnensuchgeräten oder sogar bei einfacher Bewegung im Gelände. Der weiße Eimer sei das Schlüsselelement, das der Polizei helfe, eine Person sehr schnell zu lokalisieren. 

Natürlich sei es auch gut, andere vorher zu informieren, welche Waldgebiete man aufzusuchen gedenke. Und selbstverständlich solle man sich auch darauf vorbereiten, mal eine Nacht im Wald zubringen zu müssen - selbst dann, wenn kein Notfall eintritt.

Dienstag, Juli 23, 2024

Nicht alles ist olympisch

25 Athleten und Athletinnen, dazu ein 49-köpfiges Betreuerteam, und auch ein Pferd werden Estland bei den Olympischen Spielen in Paris 2024 vertreten (err). (zum Vergleich: Team Deutschland 427 Athletinnen und Athleten, dazu 44 als Ersatz, die genaue Zahl der Pferde ist mir nicht bekannt). 

Die Estin Kristin Tattar allerdings fährt einen Sieg nach dem anderen ein, 2022 wurde sie als erste Estin überhaupt in ihrer Sportart Weltmeisterin, 2023 wurde sie Europameisterin und verteidigte ihren Weltmeisterschaftstitel erfolgreich. Mit Olympia 2024 hat sie allerdings nichts zu tun - denn Disc Golf, ihre Sportart, ist nicht olympisch. 

Als Jugendliche hatte Tattar es zunächst mit Skilanglauf probiert - musste das aber wegen einiger gesundheitlicher Schwierigkeiten aufgeben und suchte dann nach neuen Wegen sich sportlich zu betätigen. 2023 gewann sie alle sogenannten "Disc Gold Grand Slam"-Turniere, und in diesem Jahr, als "Comeback" nach einer Verletzung, auch schon wieder ein Turnier in Finnland (ERR). 

Das Runde muss ins Kettige

Aber wahrscheinlich hat sich Kristin inzwischen daran gewöhnt, dass vieles, was ihre Sportart betrifft, im Detail noch verbessert werden kann. Oder dass sie es sogar selbst in die Hand nehmen muss. Zusammen mit schwedischen Partnern gründete sie "Latitude 64°", und wer sich hier das angebotene Sortiment anschaut wird vielleicht endgültig das Vorurteil los, die "Disc-Golfer" würden nur mit einfachen Frisbee-Scheiben herumspielen ("Frisbee" ist ein geschützer Markenname einer bestimmten Firma). 

"Disc Golf wird nach ähnlichen Regeln wie Golf gespielt", so viel können wir auch beim "Discgolf Deutscher Frisbee Verband" lernen. International gibt es die PDGA (Professional Disc Golf Association), die zum Beispiel Spielregeln festlegt und Zulassungen erteilt für jede einzelne Scheibe, die bei Turnieren eingesetzt werden darf. So wie auch beim neuesten Modell "Sinus" - 176 Gramm schwer, und 21,2 cm Durchmesser. Die PDGA-Statistik verrät uns außerdem, dass Kristin Tattar bei ihren bisherigen 96 Turniersiegen (Stand Juli 2024) insgesamt 306,567.40 Dollar an Preisgeld einstreichen konnte (die besten deutschen PDGA-Profis liegen da eher so bei 2.000 Dollar). 

Mehr Männer an der Scheibe


Die PDGA-Statistiken sagen auch, dass sehr viel mehr Männer professionell Disc-Golf spielen als Frauen (etwa 120.000 gegenüber 10.000). Und in Europa liegt Deutschland zwar bei den bei der PDGA angemeldeten Profis mit 819 auf Platz sechs - weit davor liegen aber Schweden, Finnland und Norwegen, auf Platz 4 dann Estland (1447 Profis), noch vor Dänemark.

Wer also einmal Disc-Golf-Scheiben oder -Ausrüstung mit einem KT sehen sollte - Kristin Tattar hinterlässt ihre Spuren. Neben KT-Wurfscheiben sind inzwischen auch T-Shirts, Schirme oder spezielle Rucksäcke mit dem Tattar-Signet erhältlich. 

Aber da Disc-Golf ja voraussichtlich auch in den nächsten Jahren kaum olympiareif werden wird, und häufig (wie in Deutschland) eher als Randsportart gilt, tut Kristi Tattar einiges, um ihre Sportart bekannter zu machen. Wenn möglich, auch in Form von kommerziell orientierten Interviews. Da bekennt sie zum Beispiel, ihr Vater, ein Bauunternehmer, habe mit ihr auf estnischen Waldwegen Autofahren geübt - als Symbol für die Freiheit, sich fortbewegen zu können (Porsche ist Geschäftspartner und Sponsor von Kristin). (porsche.ee)
Die Antwort darauf, wie sie Privatleben als Ehefrau und Mutter mit dem Sportlerinnenalltag vereinbaren kann, fällt der inzwischen 32-Jährigen leicht: "Mein Partner ist ebenfalls Disc-Golf-Spieler" (zuca-europe). 10 Jahre ist es jetzt hier, seitdem sie erstmals estnische Meisterin im Disc-Golf wurde. Eines lässt sich inzwischen sicher sagen: mag auch bei Olympia niemand diese Sportart so recht schätzen - in Europa ist Estland eine Disc-Golf-Hochburg!

Freitag, Juni 14, 2024

Wieder zehnfach

Achttausendsiebenhundertvierundsechzig Punkte - was sagt uns das? Die estnische Presse jubelt: nur 51 Punkte weniger als der legendäre Erki Nool! (ERR)

Also schlagen wir mal genauer nach. Es stimmt: immer wenn Esten (in diesem Fall sind nur die Männer gemeint) irgendwo in der Leichtathletik auftauchten, sei es Speerwerfen, Laufen oder Diskuswerfen, früher oder später kam immer die Rede auf Erki Nool. Ein Aushängeschild des estnischen Sports, im wieder unabhängig gewordenen, kleinen, aber stolzen Land. Weniger bekannt dagegen ist der Name Valter Külvet - der erste Este, der im Zehnkampf mehr als 8500 Punkte erreichte - 8506 Punkte am 3.Juli 1988 in Minsk. Külvet startete aber bei Olympia 1988 noch unter der Flagge der Sowjetuion, und musste dort am zweiten Wettkampftag verletzungsbedingt aufgeben. Er starb bereits 1998, im Alter von nur 34 Jahren (durch einen Raubüberfall!). 

Neuer Held

Nun also holte Johannes Erm bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Rom erneut eine Goldmedaille im Zehnkampf für Estland. Die Gesamtpunktzahl von 8764 ist das zweitbeste Ergebnis in der estnischen ewigen Rangliste. Erki Nool holte 51 Punkte mehr, als Vizeweltmeister des Jahres 2001. Als Nool jedoch erstmals Europameister wurde, im Jahr 1998 in Budapest, holte er diesen Titel mit nur 8667 Punkten - 97 weniger als Erm. Sogar als Olympiasieger in Sydney 2000 reichten Nool lediglich 8641 Punkte - von daher kann Erm mit seinem Ergebnis in Rom wirklich zufrieden sein.

Gestern kam Johannes Erm zurück nach Estland. Er wird mit den Worten zitiert: "Schon während der Wettkampftage hatte ich Schwierigkeiten zu schlafen - jetzt kann ich es immer noch nicht!" Aber auch: "Ich will so bald wie möglich wieder trainieren." (err) Und an anderer Stelle: "Ich bin einfach in Emotionen ertrunken. Tausende und Abertausende Arbeitsstunden sind in diese Errungenschaft geflossen!" (postimees) Und Estland ist offenbar froh, in der gegenwärtig so angespannten politischen Lage, nahe an Russland, derart positive Nachrichten vermelden zu können. 

Mittwoch, Juni 12, 2024

Estland - ein bisschen französisch, oder was?

Wird sich jemand für das Ergebnis der Europawahlen in Estland interessieren? Vielleicht wäre ein Vergleich mit Frankreich hilfreich: auch hier verlor die Partei von Regierungschefin Kaja Kallas (Reformpartei) deutlich - aber es wird in Estland dennoch keine Neuwahlen geben. Unsicher allerdings weiterhin, ob Kallas Regierungschefin bleibt, oder "Brüssel ruft" (siehe Beitrag). 

Die gegenwärtige Regierungskoalition aus Reformpartei, Eesti 200 und den estnischen Sozialdemokraten verfügt im Parlament über 60 der 101 Sitze - allein 37 davon belegt die Reformpartei (Eesti Reformierakond).

37,5% der Wahlberechtigten, das sind in Estland 368.925 Menschen, haben sich diesmal an den Europawahlen beteiligt - 153.269 davon online. Aber die "Chefin-Partei" stürzte diesmal ab: nur magere 17,9 %. Bei den Parlamentswahlen 2019 waren es noch 28,9%, und zuletzt im Frühjahr 2023 sogar 31,2% gewesen. (valimised) Im Europaparlament wird die Reformpartei nur noch mit einem Abgeordneten vertreten sein, statt bisher zwei.

Ganz anders sieht es bei der oppositionellen "Isamaa" (Vaterlandspartei) aus. Nur 8,2% bei den Wahlen 2023 hatten lediglich acht Sitze im Parlament ergeben - allerdings sind inzwischen sowohl Ex-Regierungschef Jüri Ratas zur "Isamaa" übergetreten, wie auch Ex-Umweltminister Tõnis Mölder und mit Jaanus Karilaid ein weiterer Abgeordneter. (riigikogu.ee). Bei den Europawahlen erreichte "Isamaa" nun 21,5% und zwei Mandate für das Europaparlament. 

Also nur konservative Siegerinnen und Sieger? Nicht ganz. Erstens, weil die ultrakonservative EKRE (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond) mit 14,8% (und einem Mandat) Vorlieb nehmen musste - nach 16,1% bei den Parlamentswahlen 2023. Und zweitens, weil die estnischen Sozialdemokraten 19,3% und damit zwei Mandate erreichten (wie bisher). Und drittens, weil die neu gegründete "Erakond Parempoolsed" (kann vielleicht mit "Partei Die Rechte" übersetzt werden) zwar 6,8% erreichte aber kein Mandat. Und auch die Zentrumspartei bekommt mit ihren 12,4% noch ein Mandat. (valimised)

Nun warten also vermutlich viele in Estland zunächst einem darauf, was weiter mit Kaja Kallas passiert. Vorläufig gelten folgende Personen als gewählt: Marina Kaljurand (Sozialdemokraten, mit über 45.000 Stimmen "wiedergewählt", höchste individuelle Stimmenzahl), Urmas Paet (Reformpartei, ebenfalls "wieder gewählt"), Jüri Ratas (Isamaa), Jaak Madisson (EKRE, auch ein erneuertes Mandat), Mihhail Kõlvart (Zentrum), Riho Terras (Isamaa) und Sven Mikser (Sozialdemokraten, "wiedergewählt"). (valimised)

Dienstag, Juni 04, 2024

Mehr EU in Estland

Das estnische Statistikamt hat es genau ausgerechnet: im Jahr 2000 kamen Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft noch vorwiegend aus Finnland, Lettland oder Litauen - diese drei Länder machten fast 90 % aller Bürger/innen (aus heutigen EU-Ländern) aus, die im Jahr 2000 in Estland lebten (1.410 aus Lettland, 1.100 aus Litauen und 930 aus Finnland). Und nur für Menschen aus Schweden und Deutschland ließ sich damals eine Zahl größer als 100 feststellen. 

Bis 2011 war die Zahl der in Estland lebenden Menschen mit Pass eines EU-Landes auf insgesamt 6500 Personen gestiegen. Der Anteil der oben genannten Nachbarländer war auf 72% gefallen, und als Herkunftsländer mit mehr als 100 in Estland lebenden Personen kamen jetzt Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande und Polen dazu. 

2021 lebten dann 21.600 EU-Bürger/innen in Estland. Weiterhin viele aus Lettland (5.000) und Finnland (4.700). Die Anzahl der Litauer/innen war eher stabil geblieben, und insgesamt machten die drei Länder noch 54% aller in Estland lebenden EU-Bürger/innen aus. Inzwischen liegt die Zahl der Menschen mit deutschem Pass bei 1.800, dazu 1300 aus Frankreich und 1270 aus Italien. Jetzt sind es 15 Länder, die mit mehr als 100 Personen repräsentiert sind. (bei der Volkszählung 2021 wurden 1.331.824 Personen gezählt, 84.7% davon besaßen die estnische Staatsbürgerschaft)

Zwei Drittel aller heute in Estland lebenden Menschen mit Pass eines anderen EU-Landes sind Männer. Das einzige Land, aus dem mehr Frauen als Männer kammen, ist Tschechien (von allerdings nur 172 insgesamt). Den Gegensatz dazu stellen Personen mit niederländischem Pass dar: auf eine Frau kommen mehr als vier Männer (283 Männer von 347 insgesamt). 

Die regionale Verteilung sind so aus: zwei Drittel leben im Kreis Harju, also rund um Tallinn (auch 46% der Gesamtbevölkerung Estlands lebt hier). In Tartu sind noch 11% aller EU-Auslände/innen in Estland zu finden, und in Valga (dank der Lettinnen und Letten) noch 7%.  (stat.ee) (detaillierte Übersicht)

Donnerstag, Mai 30, 2024

Estnischer Sommer: Hungern, Holzski und Skandale?

 Manchmal sind auch touristische Infos irritierend, wenn es um Estland geht. Sagen wir mal so: man sollte sich rechtzeitig orientieren, worum es wirklich geht. Das ist auch bezüglich der Aktivitäten für den Sommer 2024 so, wozu der Estnische Touristikverband nun Informationen zusammengestellt hat (err). Da sind Dinge angekündigt, die näheres Hinsehen verdienen. 

Baltische Skandale?

Da ist zunächst BALTOSCANDAL, in Rakvere im Norden Estlands, vom 3.-7. Juli. Dieses Festival kann immerhin schon sein 30. Jubiläum feiern, dürfte also auch dem entsprechenden Fachpublikum in Europa bereits bekannt sein. Wer trifft sich dort? Die blumenreiche Webseite verrät es nicht auf den ersten Blick.
Ich übernehme hier mal die Erklärung der lettischen Nachbarn von "theatre.lv": "Baltoskandal hat nichts mit einem 'Skandal' zu tun - der Name setzt sich zusammen aus den Wörtern Baltikum und Skandinavien. Es handelt sich um ein zeitgenössisches Theaterfestival in Rakvere, im Norden Estlands. Die Stadt ist nur ein wenig größer als Limbaži. Das Festival wird von etwa 5000 Menschen besucht. Sie kommen aus aus dem ganzen Land und auch aus anderen Ländern. Die Aufführungen beginnen um 14:00 Uhr und enden gegen 1:00 Uhr nachts. Es dauert 4 Tage."

Beim Blick in die Geschichte der bisherigen Festivals zähle ich 14 deutsche Beteiligungen zwischen 1990 und 2022, und nur selten lässt sich gleich am Namen ablesen, wo sie herkamen (einmal "Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz", einmal "Kammertheater Neubrandenburg"). Oft sind es, wie überall im Programm, Aufführungsbeteiligte verschiedener Nationalitäten. 2024 gibts aber gleich zwei deutsche Beiträge. Dabei ist unter anderem Robert Henke, also eigentlich ein Musiker - der Autritt geht wohl eher in Richtung einer Performance (Webseite). Und Florian Malzacher präsentiert im Rakvere Theater ein Buch mit dem Titel "Die Kunst der Montage". 

Holzski im Sommer? 

Bei der Suche danach, was auf dem "Treskifest" geboten wird, ist zu empfehlen besser keine KI zu benutzen - sonst könnte eine künstlich gefütterte Intelligenz noch auf die Idee kommen, das Wort "Treski" aus dem Norwegischen zu übersetzen (Tre = Baum / Holz). Nein, es sind hier keine Loipen für Holzskier gespurt - "Treski" ist einfach der Name eines kleinen Dorfes im äußersten Südosten Estlands, und hier wurde 2021 eine neue Freilichtbühne fertig gestellt. Auch hier ist die Zahl 3 von Bedeutung - es findet nun zum dritten Mal ein Festival statt. Die Veranstalter beschreiben es so: "Treski ist ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um etwas Besonderes zu erleben. Wir laden Sie ein, Kultur, Musik und friedliche Natur zu genießen und außergewöhnliche Erinnerungen zu schaffen." Vom 9.-11. August 2024 gibts hier vor allem Musik, vorwiegend von Bands aus Estland.

Etwas abgelegen liegt der Ort allerdings schon: wer mit der Bahn kommt, müsste in Orava aussteigen, 8 km entfernt (die Bahnfahrt dauert von Tartu aus etwa 1 Stunde). Autofahrern empfehlen die Veranstalter doch bitte nicht allein zu kommen sondern andere mitzunehmen - um Kosten und nötige Parkplätze zu sparen. Einen Tag vor Beginn, am 8. August, gibt es schon Workshops und Diskussionen - die sogenannte "Treski inspiration conference". Und wer teilgenommen hat, bringt sich vielleicht "Treski"-Shirts oder andere Werbeartikel mit und machen den Ort (der offiziell inzwischen weniger als 100 Einwohner/innen hat) dann auch etwas bekannter in der Welt.  

Freiwillig hungern? 

Auch für das Festival das vom 14.-18. August stattfindet, müssen wir "alle Ecken Estland" erkunden. Es findet in Narva-Jõesuu statt, und auch die Deutschen wissen inzwischen, dass Narva ebenfalls nahe der Grenze zu Russland liegt. Und falls jemand den Festival-Titel HUNGERBURG allzu ernst nehmen sollte: doch, doch, die Lebensmittelversorgung ist dort völlig normal. Die Veranstaltung ist ein Projekt des "Tartu Uus Teater" (Neues Theater Tartu), eine Einrichtung die ihre Arbeitsweisen in einem "'Manifesto" formuliert: "Das Neue Theater Tartu ist eine offene Plattform für neue Ideen."

Benannt ist das Festival nach dem sogenannten "historischen Ortsnamen" von Narva-Jõesuu: ihren heutigen Ortsnamen erhielt die Stadt offiziell erst im Jahr 1890. Ein Ort, der auch als Kurort bekannt ist und mit seinen 2600 Einwohner/innen (nur 13% davon Est/innen) seit 1993 Stadtrechte verliehen bekam. Also müsste ja deutsches Publikum besonders interessiert sein? Kennen Sie denn das alte Hungerburg nicht? (sowie manche immer gern von Dorpat, Reval oder Wesenberg reden?)

Auch hier gilt: bitte keine künstliche Intelligenz oder Google einsetzen. Sonst finden Sie zum Beispiel einen Stadtteil von Innsbruck (auch unter "Quaeldich.de" zu finden), den Gutshof Hungerburg in Bitburg in der Eifel (mit Pferdepension), eine Künstlerkolonie in Berlin oder eine Sandinsel ganz im Norden Deutschlands, an der dänischen Grenze. Alles falsch! möchte man da ausrufen. Aber auch wer nach "Hungerburg in Estland" sucht, findet bisher die Hinweise eher im "Lexikon der Wehrmacht", als Hinweis auf ein KZ-Außenlager der Nazis, oder eben in alten Fotos und Ansichtskarten. Theaterfreunde, bitte verändert Europa!

Sonntag, Mai 19, 2024

Nirgendwo hin

Die Europawahlen stehen vor der Tür, aber in Estland wird nicht nur über die möglichen Prozentzahlen der einzelnen Parteilisten diskutiert. Ministerpräsidentin Kaja Kallas hat in den vergangenen Monaten international so viel Werbung für die eigene Person gemacht, dass manche Beobachter/innen fest davon ausgehen, sie sei als Kandidatin für einen Posten in der künftigen EU-Kommission fest gebucht. 

Gerüchteküche

Die Formulierungen, mit denen Kallas selbst die eigene Ambitionen versucht herunterzuspielen, sind vielfältig. "Es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge, dass ich irgendwohin gehe“, sagte Kallas im "Vikerradio". (err) Kommentator/innen in den estnischen Medien trauen der Regierungschefin aber durchaus einen Job in der EU-Kommission zu: für Verteidigung, für Außen- und Sicherheitspolitik oder als Wettbewerbskommissarin.

Ähnliche Fragen wurden auch gestellt, als Kallas kürzlich in Riga war um an dem Treffen der drei Regierungschefinnen mit Bundeskanzler Scholz teilzunehmen. "Wir müssen erst einmal die Wahlergebnisse abwarten, dann werden all diese Diskussionen stattfinden", antwortet Kallas auf eine entsprechende Nachfrage von Aivars Ozoliņš für die lettische Zeischrift "IR". Und Jüri Ratas, ehemals Vorsitzender der estnischen Zentrumspartei und Regierungschef (inzwischen zur "Isamaa" gewechselt), sah schon Ende 2023 Kallas als geeignet für einen Job in der EU-Kommission an. 

Imagepflege

Als 2023 bekannt wurde, dass Kallas' Mann Arvo Hallik in dubiose Geschäfte mit Russland verwickelt war, stand die Ministerpräsidentin kurz vor einem Rücktritt. (taz / FAZ / JungeWelt / lsm / NZZ  / Handelsblatt). Damals, es liegt noch nicht lange zurück, machten Worte wie "offensichtliche Heuchelei" die Runde (Berliner Zeitung). Der "Spiegel" sah Kallas in einem "moralischen Dilemma" (erst Mahnerin, nun Ermahnte").

Inzwischen wird Kaja Kallas in vielen westdeutschen Medien dagegen auffällig positiv geschildert. Als "unerschrocken" wurde sie im "Merkur" bezeichnet, bei "ZEITonline" ist sie "Die Hellsichtige". Das Handelsblatt meint: "Die Frau, vor der Wladimir Putin Angst hat," die "Bild" kürt sie gar zu "Europas eisernen Lady". Reinhard Krumm, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung Riga, bezeichnet Kallas als "strahlende Gallionsfigur" (RND). Der österreichische "Standard" überschrieb ein 'Interview mit ihr so: "Wer nicht um die Freiheit kämpft, verliert am Ende alles." Anfang Dezember 23 wurde sie in Hamburg mit dem Marion-Dönhoff-Preis ausgezeichnet (Die Zeit), im Februar 24 war sie Ehrengast beim Hamburger Matthiae-Mahl (Welt). Als bekannt wurde, Russlands Diktator Putin habe Kallas zur Fahndung ausgeschrieben, wurde die Entgegnung von Kallas hervorgehoben: "Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass ich das Richtige tue." (ZDF)

Und so fand auch der gezielt lancierte "Aprilscherz" Anklang, Kallas werde zur neuen NATO-Generalsekretärin ernannt (Nachfolger von Jens Stoltenberg) - denn vor der Einigung der Allianz auf den Niederländer Mark Rutte gab es durchaus ernsthafte Spekulationen in diese Richtung (politico / ERR / lasi.lv).

Was ist also vom Ergebnis der Europawahlen in Estland zu erwarten? Jeder EU-Mitgliedstaat stellt einen Kommissar oder eine Kommissarin - wir sind gespannt, wer das - außer Kaja Kallas - wohl sein könnte. Eine Schwierigkeit könnte noch sein, dass die Kandidat/innen vom Europäischer Rat, einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs, benannt werden. Also, Frau Kallas: was meinen Sie?

Freitag, Mai 03, 2024

Zwanzig plus X

20 Jahre Mitgliedschaft in der Europäischen Union - auch für Estland ein Grund für eine Bilanz. Die drei baltischen Staaten seien „ein hervorragender Beweis dafür, wie die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beeindruckende Modernisierung und wirtschaftlichen Fortschritt ermöglicht", so verkündeten es die drei Präsidenten

Aivo Peterson gilt als Estlands bekanntester Putin-Unterstützer. Er wurde 2023 wegen gegen den Staat Estland gerichteter Aktivitäten verhaftet, kann aber kandidieren, da in dieser Sache noch kein rechtskräftigs Urteil vorliegt.

Die "Eesti Konservatiivne Rahvaerakond" oder "Estnische Konservative Volkspartei" ist unter der Abkürzng "EKRE" bekannt geworden und tritt für ein "Europa der Nationalstaaten" ein. Ein Satz aus dem Wahlprogramm: "Wir verteidigen nationale und konservative Werte vor den Angriffen der sogenannten 'Woke Culture' ". Die Partei übt sich regelmäßig in scharfer EU-Kritik und vertritt eine teilweise rassistisch motivierte Estland-zuerst-Politik. Bei den Europawahlen 2019 erreichte EKRE 12,7% und ein Mandat. Für den Fall einer Änderung der EU-Verträge fordert EKRE eine neue Volksabstimmung in Estland. Den "Green Deal" der EU bezeichnet EKRE als "ideologischen Extremismus". 

Die Startnummer 3 haben diesmal die estnischen Grünen (Erakond Eestimaa Rohelised). Deren stärkstes Ergebnis bei Europawahlen waren bisher die 2,7% aus dem Jahr 2009, 2019 waren es 1,8%. Spitzenkandidatin Evelyn Sepp betont das Selbstverständnis der Grünen als estnische Partei, die allerdings in voller Übereinstimmung mit den Grünen in Europa stehe. Die Partei fordert für Estland eine Umstellung auf 100% erneuerbare Energieversorgung bis 2040. Kritik übten die Grünen auch am Verfahren der Europawahl in Estland, wo jede/r Kandidat/in eine relativ hohe Geldsumme als Kaution hinterlegen muss, um zur Wahl akzeptiert zu werden. 

Auf Platz 4 der Wahlliste steht "Eesti 200". 2018 gegründet, bezeichnet sie sich, ähnlich wie die Reformpartei, als wirtschaftsliberal. Sie unterstützt, neben Mitgliedschaft in EU und NATO, auch die gleichgeschlechtliche Ehe und möchte den Zugang zum Internet zu einem Menschenrecht machen. Bei den Europawahlen 2019 erreichte "Eesti 200" 3,2% der Stimmen. Seit April 2023 ist die Partei Koalitionspartner im dritten Regierungskabinett von Kaja Kallas. 

Nr. 5 auf der Liste sind dann die estnischen Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond SDE). Die Partei geht mit dem Slogan "Freiheit, Gerchtigkeit, Sicherheit" in den Wahlkampf. Tanel Talve, der im März beim Parteikongress noch bei der wahl zum SDE-Parteivorsitzenden klar unterlegen war, trat nun aus der Partei aus und kandidiert separat als unabhängiger Kandidat. Auch dass die SDE in Tallinn die bisherige Koalition mit der Zentrumspartei im Stadtrat verließ, könnte das Wahlergebnis beeinträchtigen, SDE-Spitzenkandidatin ist die ehemalige Außenministerin Marina Kaljurand, die schon seit 2019 Mitglied im Europaparlament ist, als die SDE 23,3% der Stimmen erreichte und Kaljurand das beste Einzelergebnis aller Kandidat/innen (bei allerdings nur 37,6% Wahlbeteiligung insgesamt). 

An Nr. 6 kandidiert "Isamaa" (Varterland), die im estnischen Parlament momentan eine Oppositionsrolle einnimmt. In Umfragen lag die Partei zuletzt stabil über 20%.  Der Wahlspruch "Auf dem richtigen Weg" soll unter anderem mit einen Stop illegaler Immigration in die EU und bessere Familienpolitik, auch mit einer Begrenzung des Einflusses der EU auf die estnische Politik umgesetzt werden. Außerdem fordert "Isamaa"  wieder mehr für die estnische Wirtschaft zu tun. Gerne würde sich die "Isamaa" durch ein gutes Ergebnis bei der Europawahl auch als Alternative zur regierenden "Reformpartei" etablieren. 

Die Nr. 7 auf dem Wahlschein wird die "Reformpartei" von Regierungschefin Kaja Kallas sein. Die Partei hat im Moment mit sinkenden Umfragewerten zu tun und leistete sich zuletzt interne Machtkämpfe. Kallas hatte sich offen dagegen ausgesprochen, dass Ex-Ministerpräsident und Europaabgeordneter Andrus Ansip noch einmal kandidiert - was letztendlich dazu führte, dass Ansip seine Kandiatur zurückzog.  Kallas saß selbst von 2014 - 2019 im EU-Parlament, Spitzenkandidat bei "Reform" ist jetzt aber Ex-Außenminister und EP-Abgeordneter Urmas Paet, der auch schon mal durchblicken ließ, auch sehr gerne EU-Kommissar werden zu wollen. Als Wahlspruch der Partei klang zuletzt so etwas durch wie "ohne Sicherheit ist alles nichts". 

Als Nr. 8 geht die estnischen Zentrumspartei (Keskerakond) ins Rennen, gegründet schon 1991. Doch die Zeiten eines Edgar Savisaar sind vorbei, und auch Russlands Angriff auf die Ukraine erschütterte die bisher als Russland-freundlich eingeschätzte Partei - dem Zentrum werden noch 12-14% der Wählerstimmen vorhergesagt. Ende März verlor Spitzenkandidat Mihhail Kõlvart das Amt des Bürgermeisters von Tallinn, wo nun SDE, Isamaa, Eeesti 200 und Reformpartei die neue Stadtregierung ohne das Zentrum bilden. Erst kürzlich verließ Ex-Parteichef und Ex-Ministerpräsident Jüri Ratas das Zentrum und ist nun Mitglied bei "Isamaa". Der aktuelle Wahlslogan "Selg sirgu, Eesti" soll wohl "weiter geradeaus" bedeuten. Die Partei spricht sich pro EU und NATO aus, aber auch für die Wahrung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU.

Nr. 9 nennen sich "Parempoolsed" ("Die Rechte"), und wurde 2022 vor allem von ehemaligen Mitgliedern der "Isamaa" gegründet. Lavly Perling, ehemals Generalstaatsanwältin und Spitzenkandidatin der Partei, und hatte auch schon mal für "Isamaa" kandidiert. "Parempooled", die sich im Europaparlament an der EVP-Fraktion orientieren will (wo auch die deutsche CDU vertreten ist), spricht sich für die EU, aber gegen Bürokratie aus, für Wirtschaftswachstum statt Subventionen, und angeblich auch "gegen zuviel staatliches Datensammeln". Auffällig auch, dass die Partei in den vergangenen Monaten relativ viele Parteispenden einsammeln konnte - die zweithöchste Summe nach "Isamaa".

Eigentlich seien fünf der sieben Sitze, die Estland im Europaparlament zustehen, bereits so gut wie vergeben - meint Politikwissenschaftler Martin Mölder im ERR. Seiner Prognose zufolge werden die gegenwärtigen EU-Parlamentarier Marina Kaljurand (SDE), Urmas Paet (Reform Partei), Riho Terras (Isamaa), Jaak Madison (EKRE) and Jana Toom (Zentrum) auch wieder einen Sitz erringen können. Bleibt also noch die Frage, wer die übrigen zwei Sitze bekommt. 

Die estnischsprachige Aufforderung, sich an den Europawahlen zu beteiligten, klingt vielleicht für deutsche Ohren vielleicht gewöhnungsbedürftig: "Anna oma hääl !"

Samstag, März 23, 2024

Bremsversuch

Wer mit dem Thema Digitalisierung beruflich zu tun hat, ist vielleicht schon einmal auf Dienstreise in Tallinn gewesen. Kostenfreies Wlan, Paketzustellung mit selbstfahrenden Fahrzeugen, selbstfahrende Busse, digitale Krankenakte, E-Residency und Wählen per E-Voting.  Es scheint in zwei Richtungen zu gehen: neben den digitalen Lösungen die (klimafreundlich) elektrischen. 

Scootermania

Stolz wird der "Äike T" als erster in Europa produzierter E-Scooter bezeichnet (rideaike). Auch "Volt" kommt aus Estland, weiterhin ist "Bolt" auch in Deutschland, in über 50 Städten von Augsburg bis Wolfsburg, mit E-Scooterverleih dick im Geschäft. Man könnte meinen, "E-Scooter" sei die Bezeichnung für "Estland-Fahrzeug". 

Geschwindigkeitsangaben
bei "ÄIKE"

Da wird es vielleicht verwundern, wenn gerade Tallinn die "Freiheiten" der E-Scooterfahrer einschränken möchte. "Maximal 20 km/h Geschwindigkeit ist absolut ausreichend", so wird Vladimir Svet, stellvertretender Bürgermeister der estnischen Hauptstadt, zitiert (err). "Wenn wir die Gefährdung von Fußgängern nicht ausschließen können, wird die Gesellschaft vielleicht ähnliche Lösungen wie in Paris einfordern, wo E-Scooter ganz verboten wurden." 

Zu schnell, zu viele

Es wird auch darauf hingewiesen, dass in der norwegischen Hauptstadt Oslo nur maximal 8 km/h erlaubt seien. Dort seien vielfach auch die Notaufnahmen der Krankenhäuser überfüllt gewesen, wegen vieler Unfälle gerade zur Nachtzeit. Konsequenz: in Oslo gilt jetzt auch ein Nachtfahrverbot zwischen 23 und fünf Uhr morgens (Tagesschau). 

Nun sind in der Innenstadt von Oslo auch nur noch insgesamt 8.000 E-Roller zugelassen, und die E-Scooter-Anbieter beklagten "ein Ende der Mikromobilität". In Tallinn dominieren vor allem "Bolt" und "Tuul" das Geschäft mit E-Scooterverleih. Wobei beide Firmen eigentlich darauf setzen, dass die Kundinnen und Kunden sich einfach die firmeneigene App herunterladen und dann dort einen Roller leihen, wo immer in Europa sie gerade sind. "Tuul" gehört zur "Kõu Mobility Group", wo auch die schon genannte "Äike" und auch der Fahrrad- und E-Bike-Hersteller "Ampler" zu finden sind. Hier wird "nachhaltige Mikromobilität" propagiert. 

In Tallinn soll es Uneinigkeit zwischen den E-Scooter-Anbietern gegeben haben. Demgegenüber sind sich aber die Stadtverwaltung und die Verkehrspolizei einig, nicht nur die zulässige Höchstgeschwindigkeit weiter abzusenken, sondern auch gesonderte Parkzonen für E-Scooter in der Innenstadt auszuweisen, die auch mit Ladestationen ausgerüstet sein sollen. Vizebürgermeister Vladimir Svet wünscht sich auch von der estnischen Regierung, dass Gesetzeslücken geschlossen werden. "In anderen Ländern, so wie auch bei unserem Nachbar Lettland, können die Städte und Gemeinden die Regeln für E-Scooter und Parken selbst festsetzen", meint er. Am liebsten würde man auf einzelnen Straßen 25 km/h erlauben, in der Nähe von Kindergärten oder Schulen aber nur 15 Km/h. (ERR)

Mittwoch, März 20, 2024

Ist Estland glücklich?

Wenn wir dieser Tage an Estland denken, und nicht sofort den "World Happiness Report" im Kopf haben, dann könnte wohl vor allem Regierungschefin Kaja Kallas sich glücklich fühlen, in Deutschland und auch internatonal so "herumgezeigt" zu werden. Da ist glücklich vergessen, ob nun ihr Mann in dubiose Russland-Geschäfte verwickelt war, dass Kallas auch mal gerne NATO-Generalsekretärin geworden wäre, oder welche Politik ihre Reformpartei eigentlich konkret in Estland betreibt. 

Beim Glücksindex indessen, mit den skandinavischen Nachbarn Finnland, Dänemark, Schweden und auch Island an der Spitze, folgt Estland erst auf Rang 34 ; Deutschland auf Rang 24, Litauen erstaunlicherweise schon auf Platz 19. Ok, Estland ist Nachbar von Finnland - aber in dieser Statistik scheinen die beiden nichts miteinander zu tun zu haben.

Noch erstaunlicher sieht es aus, wenn nur die jüngere Altersgruppe unter 30 Jahren in den Fokus genommen wird. Hier liegt Litauen vorn! Da funktioniert die Entschuldigung nicht mehr, Finnland habe nun mal schon seit dem 2.Weltkrieg das Land so entwickeln können, dass es den Menschen gut geht. Unter jungen Leuten sackt Estland ab auf Plaatz 44 (sogar Lettland ist hier als Nr.31 besser). Nun hätten wir ja gedacht, im Land der Start-ups, des überall verfügbaren Internet und der guten Aufstiegschancen für junge Leute wären die jungen Estinnen und Esten glücklicher.

Älteren Menschen geht es wiederum in Deutschland relativ gut - das zeigt auch diese Statistik, der zufolge die älteren Deutschen die glücklichste Altersgruppe sind (Platz 21). Estland auf Platz 35 liegt hier immerhin wieder besser als Litauen und auch Lettland. 

Estland also auf Platz 34 des Länderrankings. Immerhin verbessert von Platz 55 im Jahr 2019 und Platz 40 im Jahr 2021 - so trösteten sich Estinnen und Esten schon 2022, als es Rang 36 wurde (Estonianworld / Globalestonian). Oder liegt es vielleicht daran, dass es den Estinnen und Esten einfach sehr schwer anzusehen ist, wenn sie Glücksgefühle haben? Estland, nur insgeheim glücklich? Blöd nur, dass auch diese Überlegung genauso auf die Finninnen und Finnen zutreffen würde. 

"Wir ziehen einfach Erfolg zu haben dem Glück vor", hieß es mal in der Wirtschaftszeitung "Äripäev". Also: erfolgreich, aber nicht wirklich glücklich?  Eigene Untersuchungen estnischer Regierungsstellen betonen: die Estinnen und Esten sind ganz überwiegend .... zufrieden. (minuomavalitsus) Vor allem mit ihrem regionalen Umfeld, in dem sie leben, heißt es. 

Und dann gibt es noch die Stellungnahme von Epp Remmelg, leitender Analyst bei "Statistics Estonia". Er hat sich speziell um die estnischen Männer gekümmert und stellt fest: 5 - 6,5% aller estnischen Männer bezeichnen sich selbst als "glücklich". Na immerhin. (ERR)

Dienstag, Februar 06, 2024

Hitliste der Mysterien

Es gibt Umfragen, da bewirkt selbst ein Blick auf die Ergebnisse keine plötzliche Erkenntnis. So sollte es sein, wenn Deutsche sich die Frage stellen: Was ist echt Estnisch? Was ist das wirklich Estnische? Oft werden solche Fragen dann nach gewohnt deutschen Maßstäben beantwortet. Etwas ist uns fremd - aber ist es sauber, zuverlässig, arbeitssam, treu, ehrlich ... ?

Echt estnisch - was ist das?

Wenn wir es aber mal nicht mit "deutschen Augen" sehen, sondern uns ganz auf die Eigenarten anderer Kulturen einlassen, die eben unter anderen Umständen, in anderer Natur, zu anderen Entwicklungen in der Gesellschaft und mit anderem geschichtlichen Hintergrund leben? Da kommt uns eine Umfrage zu Hilfe, deren Ergebnisse beim estnischen öffentlich-rechtlichen Sender ERR veröffentlicht wurden. Aus Anlass des "Tags der estnischen Literatur" fragte das Literaturzentrum Tallinn ("Tallinna Kirjanduskeskus") zusammen mit "Vikerradio": Welcher Charakter in der estnischen Folklore es am meisten "typisch estnisch"?
Viikerradio vermeldet, es seien 32.195 Stimmen von Hörerinnen und Hörern eingegangen. Hier ist also die "Folklore-Hitliste", dazu die Anzahl der Stimmen.

1. Kaval-Ants  3.396
2. Rehepapp  3.363
3. Kalevipoeg  3.164
4. Vanapagan  3.054
5. Kilplased  2.292
6. Kratt  2.287
7. Reinuvader  1.936
8. Vaeslaps  1.832
9. Ahjualune  1.718
10. Siil  1.618
11. Põhja konn  1.178
12. Libahunt  1.163
13. Tark mees taskus  1.139
14. Pokud  1.078
15. Murueide tütred  658
16. Metsaema  645
17. Näkk  539
18. Sootuluke  234
19. Majauss  63
20. Kotermann  38

Erstaunlicherweise gewinnt hier nicht etwa "Kalevipoeg" (der Sohn des Kalev, der "estnische Sagenheld"). Davon hatten wir ja vielleicht schon einmal gehört, und die gesamte Geschichte wurde mehrfach auf Deutsch übersetzt (Wer mehr wissen will, besucht vielleicht das "Kalevipoeg-Museum"). 

Estnische Firmen auf der Suche
nach "märchenhaftem" Image

Das märchenhafte Image

Von "Rehepapp" und "Kratt" können wir lernen, wenn wir das frisch ins Deutsche übersetzte Buch "November" von Andrus Kivirähk lesen. - Wer aber ist der "schlaue Hans" (Kaval Ants)? Offenbar hat er mit Nr.4 der Liste, dem "Vanapagan" zu tun. Bei "Wikipedia" lesen wir: Vanapagan, ein riesenhafter Bauer, der vom "schlauen Ants" regelmäßig ausgetrickst wird. 

Aber ist das wirklich ein "schlauer" Hans? Bei den im Akademie Verlag in Berlin herausgegebenen "Estnischen Volksmärchen" (nur noch im Antiquariat erhältlich) findet sich eine Geschichte von einer Wette zwischen Vanapagan und Ants. Beide schlagen einen Pfahl in die Erde und wollen versuchen, eine möglichst große Strecke zu roden, also von Bäumen und Büschen zu befreien. Vanapagan stürmt los, mit all seinen Riesen-Kräften, - Ants aber reißt den Pfahl aus dem Boden und stürmt damit hinterher. Kurz bevor Vanapagan entkräftete anhält, steckt Ants den Pfahl wieder in den Boden. Vanapagan schaut zurück, sieht mit Schrecken dass er noch gar nicht weit vom Pfahl entfernt ist. Eine Art "Hase-und-Igel-Geschichte" also. 

Maarja Vaino, Leiterin des Literaturzentrums Tallinn und eine der Initiatorinnen der Umfrage, zeigt sich überrascht über die ersten vier Figuren der Rangliste. "Zwei kluge Diener, und zwei starke Riesen, denen manchmal der Witz fehlt", meint sie und fügt hinzu, dass es vielleicht mal interessant wäre dazu Psychologen zu konsultieren, was dies über das Selbstbild der Estinnen und Esten sagen könnte. (err)

Schlau oder stark - oder doch beides?

Marju Kõivupuu, Wissenschaftlerin an der Universität Tallinn, interpretiert die Figur des Kaval-Ants eher ambivalent: "Wenn man will, kann man ihn auch als Archetyp eines Betrügers darstellen, der versucht, seinen Gegner auf jede erdenkliche Weise zu überlisten", meint sie.(err) "Und man kann die Fähigkeit erahnen, die Dinge immer zum eigenen Vorteil zu wenden und aus Situationen als Sieger hervorzugehen“. 

Wie auch immer: in heutigen Estland findet sich "Kaval Ants" durchaus öfter: neben der "Kaval-Ants-Butter", "Kaval-Ants-Käse" oder "Kaval-Ants-Grillkohle" (siehe Bilder) etwa auch als Wirtshaus "Kaval Ants", oder "KavalAnts-Videostudio". Vielleicht hat ja auch diese ständige Präsenz in der estnischen Konsumgüterwelt zum Umfragesieg beigetragen.

Samstag, Januar 13, 2024

Neujahrsstatistik

1.373.101 Menschen waren am 1. Januar 2024 als Einwohnerinnen und Einwohner Estlands registriert. Das sind 4.184 mehr als im Jahr zuvor, und entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Prag oder Mailand. Allerdings stieg die Einwohnerzahl zuletzt nur in der Gegend rund um Tallinn und Tartu, im Rest des Landes ist sie weiter fallend. (err)

Die Preissteigerung lag in Estland im jährlichen Mittel bei 9,2% (Deutschland 5,9% / Die Zeit) Auch in Estland gab es Unterschiede: Am stärksten stiegen die Preise bei Lebensmitteln und alkoholfreien Getränken (15,2%), bei Hotels, Cafes und Restaurants stiegen die Preise um 10%, ähnlich wie im Bereich Kleidung und Schuhe (10,3%). Bei einzelnen Produkten stechen Zucker (+42.2%), Kakao (+29.9%) und Olivenöl (+26.6%) heraus. Positive Ausnahme blieb der Bereich Verkehr, wo statistisch sogar ein Preisrückgang von durchschnittlich 0,9% festgestellt wurde (stat.ee)

Der Trend aus den vergangenen Jahren setzt sich fort
Auf der Seite des estnischen Statistikamts sind inzwischen auch Angaben darüber zu finden, wie viele Estinnen und Esten in anderen Ländern leben. Da werden zwei unterschiedliche Datenquellen genannt - die eine beruft sich erstaunlicherweise auf eine Wikipedia-Seite als Grundlage. Diesen Zahlen zufolge leben 52.424 Menschen aus Estland in Finnland, 27.113 in den USA, 25.509 in Schweden, 24.000 in Kanada und 15.000 in Großbritannien (rahvaloendus). Einige dieser Angaben wirken eher wie Schätzungen. Für Deutschland wird eine Zahl von 6286 angegeben. 

Für das Jahr 2022 wird eine Zahl von 1.111.531 Estinnen und Esten festgestellt, die verteilt über die ganze Welt leben, davon 83% in Estland lebend, 17% außerhalb.