Freitag, September 30, 2016

Der Este vor der Tür

Vorbei sind die Zeiten, in denen Deutsche ruhig Estland und Island verwechseln konnten - damals merkte es niemand. Die Republik Estland hat inzwischen ihren Platz gefunden in der Europäischen Union, die Geographie des Landes ist inzwischen auch in deutschen Schulen Lehrstoff geworden, und gerade die Jugend hat schon vom frei zu nutzenden Internet in Estland gehört, dem inzwischen viele Länder und Städte nacheifern. Nun könnte es noch einen Schritt weiter gehen: eh man sich versieht, steht der Este gleich vor der eigenen Haustür!

Gemeint ist er: der noch namenlose, selbstfahrende Roboter in Kniehöhe, den die estnische Firma "Starship" jetzt, in Kooperation mit Mercedes, in Deutschland zur praktischen Anwendung bringen will. In Düsseldorf startet das Projekt ab sofort in eine Testphase - unter zwei Bedingungen: fahren nur bei Tageslicht, plus Begleitperson zur Überwachung (Neue Westfälische). Der Logistikkonzert Hermes kündigte weitere Tests in Hamburg an.

Dahinter steckt unter anderem Ahti Heinla, der vor einigen Jahren "Skype" mit entwickelte und dort 2008 ausstieg. Schon vor einem Jahr erzählte er der FAZ: "Wir sind dazu gekommen, weil die NASA etwas selbstfahrenes zur Sammlung von Gesteinsproben auf dem Mars sucht. Diesen Wettbewerb haben wir nicht gewonnen - und fanden statt dessen eine Geschäftsidee für die Erde."

Auf der Erde - in Deutschland - angekommen, sucht sich also nun dieser selbstfahrende Este seinen Weg durch deutsche Vorstädte. Im heimischen Estland könne das System noch nicht funktionieren - es gäbe dort nicht die erforderliche Qualität an digitalen Karten, meinen die Erfinder. Zu den Einsatzorten gebracht werden die neunäugigen Geräte (es gibt neun Kameras) von speziell dafür gebauten Auslieferungsfahrzeugen von Mercedes. Bis zu 10kg Tragfähigkeit soll es haben. Angeblich soll es 10.000 Testkilometer absolviert haben - doch falls die Wege dabei so peinlich eben, sauber und frei von konkurrierendem Verkehr gewesen sind wie in den Werbeclips zu sehen, wird die Praxistauglichkeit zumindest in Deutschland offen bleiben müssen.

Da darf man doch gespannt sein, wie sich so ein Gerät mal zwischen von Fußgängern überfüllten Bürgersteigen, dem deutschen Radwegsystem, oder auf Kopfsteinpflasterstraßen benehmen wird. Rechtlich sicherlich eine erneute Streitfrage: wer hat Vorfahrt? Darf ich den Marsroboter stoppen, in dem ich einfach mein Bein davorstelle? Was mache ich, wenn mein Hund agressiv wird angesichts solcher Gebilde? Angeblich sind die Geräte mit einem Lautsprecher ausgestattet, so dass sich dann ein Mitarbeiter meldet. Eigentlich sehe ich persönlich mit Freuden meiner ersten Begegnung entgegen, so gesehen. Es wird bestimmt witzig.

Die nächste Frage ist vielleicht: was macht der Fahrer des Spezial-Mercedes-Van eigentlich, während die Auslieferungs-Roboter unterwegs sind? Unbezahlte Zwangspause? Büroarbeiten per Smartphone? Vielleicht bekommt er kostenlose Gelegenheit, mit seiner Familie zu skypen? Vielleicht wünscht er sich auch einen kräftigen, jungen (menschlichen) Laufburschen, den er mal schnell ausliefern schicken kann? Und wird es bald zusätzlich zu den Straßen, Geh- und Radwegen auch noch Auslieferungsstreifen geben müssen, damit die ferngesteuerten Kästen nicht einfach aus Verzweiflung einfach stehen bleiben, wenn mal zu viel los sein sollte auf ihrem Weg?
Solche Sorgen werden sich die Starship-Erfinder vermutlich nie machen; es wäre nicht erstaunlich, wenn sie wieder rechtzeitig die Idee an große Konzerne verkaufen ...

Dienstag, September 27, 2016

Ilves bleibt - immer noch

Estinnen und Esten rätseln über den Zustand ihrer politischen Führungsschicht - nachsichtig hatte man noch gelächelt über die Österreicher, die in mehrfachen Versuchen es nicht schaffen, einen neuen Präsidenten zu wählen. Nun aber hat auch Estland seine politische Hängepartie - und Ilves bleibt immer noch, vorerst.

Kandidat/innen for Eesti President:
niemand mit klarem Profil?
Mit 138 zu 134 Stimmen hatte Ex-EU-Kommissar Siim Kallas vorn gelegen vor seinem Gegenkandidaten in der Stichwahl, dem Nationalkonservativen Allar Jõks. Aber durch 57 leere und 3 ungültige Stimmzettel war dies trotzdem keine Mehrheit unter den 335 Mitgliedern der Wahlversammlung (Valimiskogu). Erstaunlich dabei für unbefangene Zuschauer der Live-Übertragungen am Fernsehschirm: die Anzahl der Stimmen wurde, Kandidat für Kandidat, nacheinander durch lautes Zählen jedes Zettels offen vor den Kameras ermittelt (eine gute Lehrstunde um auf Estnisch das Zählen zu lernen, meinten einige). Also hier mal kein elektronisches Wählen, vermeintlich modern und so kennzeichnend für Estland.

Vier Kandidatinnen und Kandidaten hatten im ersten Wahlgang beinahe gleichauf gelegen: die Favoritin der Umfragen und Ex-Außenministerin Marina Kaljurand mit 75 Stimmen, die Kandidatin der oppositionellen Zentrumspartei Mailis Reps mit 79 Stimmen, Simm Kallas mit 81 und Allar Jõks mit 83 Stimmen (Rechtsaußen Mart Helme konnte nur 16 Stimmen auf sich ziehen). Wahrscheinlich seien die Wahlmänner und -frauen, von Städten und Gemeinden nominiert und entsandt, von den beiden Kandidaten der Stichwahl überrascht gewesen, vermutete Politologie-Professor Vello Pettai hinterher (ERR). Offensichtlich war auch, dass zwei weibliche Kandidatinnen gegenüber zwei Männern scheiterten - war dies der Pyrrhus-Sieg der standhaften Parteisoldaten gegenüber der angeblichen Volksmeinung? Das Beharren also auf Siim Kallas als Kandidat der regierenden Reform-Partei gegenüber einer vermeintlich breitere Schichten ansprechenden Marina Kaljurand?

Nun fordern die Medien den Rückzug aller bisheriger Kandidat/innen und Verhandlungen unter den Parteien, um gemeinsame Kandidaten zu finden. Sowohl Kallas wie auch Jõks haben bereits ihren Rückzug angekündigt (Baltic Times), Kaljurand erklärte sie sei nicht daran interessiert, sich selbst wieder zur Kandidatin zu erklären (ERR). Noch 2011 hatten einige Kommentatoren, als Präsident Ilves wiedergewählt wurde, gerade Jõks zu einem potentiell guten Gegenkandidaten erklärt - wenn er denn damals nominiert worden wäre (bnn). Nun sieht auch er seine Chance für passé. Kallas war, nach seiner Rückkehr von seinen Brüsseler Posten 2014, als möglicher Gründer einer neuen Partei oder als künftiger Ministerpräsident gehandelt worden - dies sahen einige auch als Grund, warum die Reformpartei von Regierungschef Rõivas ihn gern mit präsidialen Aufgaben "gebunden" hätte.

Viele sprechen nun von einer Änderung des Wahlrechts, anwendbar bei der nächsten Präsidentenwahl. Zunächst muss jedoch die laufende zu Ende gebracht werden. Parteienvertreter, Medien, der Ältestenrat des Parlaments - alle suchen nach neuen Namen. Gleichzeitig wird allgemein bedauert, dass Estland in dieser Sache ein so chaotisches Bild abgegeben habe, auch international. Man darf gespannt sein auf neue Vorschläge. Doch nicht etwa eine österreichisch-estnische Rochade? Auch dort war es ja bisher ein hindernisreiches Rennen um die Präsidentschaft - mit einem Kandidaten mit Wurzeln in Estland: Alexander van der Bellen (estnische Mutter). Vielleicht schade, dass die Wahl in Österreich verschoben wurde - wäre van der Bellen dort gescheitert, wäre er dann nicht frei für Estland?