Sonntag, Dezember 30, 2018

Pädagogen-Aufwertung

Das Haushaltsbudget der estnischen Regierung sieht für 2019 eine Erhöhung des Lohnniveaus für Estlands Lehrerinnen und Lehrer auf 1500 Euro vor. 533 Schulen existieren derzeit in Estland, an denen insgesamt etwa 13.000 Lehrerinnen und Lehrer arbeiten (ERR). Viele davon mussten im Herbst 2018 allerdings das Schuljahr starten obwohl Lehrpersonal fehlt - allein 80 Mathematik-Lehrer/innen wurden noch gesucht (ERR).

Eine der Herausforderungen für das estnische
Schulsystem: Qualität beibehalten, bei stark
zurückgehender Schüler/innenzahl.
Trotz dieser Schwächen blickt Estland auf vordere Plätze bei den internationalen PISA-Studien - vor allem bei denjenigen Tests die Naturwissenschaften betonen. "2006 haben uns die guten Ergebnisse in den PISA-Studien noch überrascht", meint Gunda Tire, die estnische Projektverantwortliche für die PISA-Studien (TeacherMagazine). "Aber wir haben nach der Loslösung von der Sowjetunion sehr schnell ein nationales Curriculum entwickelt, wir haben viele gute Praxisbeispiele von anderen Ländern übernommen und ein effektives System zur Evaluierung entwickelt." Außerdem sei man stolz darauf, dass Fächer wie Biologie, Physik und Chemie in Estland nur von Fachlehrern erteilt würden, so Tire. "Wenn auch in Deutschland die Ergebnisse der PISA-Studien zunächst einen negativen Schock auslösten - in Estland war es umgekehrt: überraschend positiv." Und Tire fügt hinzu: "Wir erwarteten geradezu diese internationalen Vergleichsmöglichkeiten, denn: den Estinnen und Esten ist selbst nichts gut genug, sie sehen die Dinge grundsätzlich immer sehr kritisch."

Bereits in den zurückliegenden Jahren wurde mehrfach der Mindestlohn für Lehrer/innen erhöht: von 644 € im Jahr 2012 auf 1050 € im Jahr 2017 - der Durchschnittslohn stieg von 812 € 2012 auf 1211 € im Jahr 2017). Jetzt also erneut eine kräftigte Erhöhung. Bildungsministerin Mailis Reps hatte das Thema als eines der Schwerpunktthemen der gegenwärtigen Regierung bezeichnet.

Eine Untersuchung unter den Mitgliedsstaaten der OECD zeigt aber auch, dass in Estland das Lehrpersonal relativ alt ist - fast die Hälfte aller Lehrerinnen und Lehrer ist über 50 Jahre alt (err). Eine attraktive Lohnentwicklung soll also vor allem den Nachwuchs unter den Pädagogen zu Gute kommen. Eine andere Baustelle ist noch die relativ hohe Zahl frühzeitiger Schulabgänger: unter den 18-24-Jährigen lag 2017 die Zahl der Schulabbrecher bei 10,8% (ETM2018). Das liegt zwar im EU-Durchschnitt, aber für die estnischen Schulplaner eine prioritäre Aufgabe, wobei die Rate bei jungen Männern bei 14,2%, bei Frauen aber nur bei 7,3% liegt. Und Estland vergleicht sich auch in diesem Fall sehr gerne mit den skandinavischen Nachbarn Finnland, Norwegen und Schweden: dort wird erheblich mehr pro Schüler/in ausgegeben (obwohl z.B. Norwegen gar nicht so gut bei PISA abschneidet). Estland nimmt solche Statistiken sicherlich als Ansporn für die Zukunft.

Die Schülerinnen und Schüler in Jõgeva jedenfalls fanden fehlende Pädagogen auf ungewöhnliche Art: "Sucht nicht nach Raketen, sucht uns eine/n Mathelehrer/in!". In dem Gebiet hatte ein NATO-Eurofighter versehentlich eine Rakete abgeschossen, die auch nach langem Suchen nicht gefunden werden konnte. Die Schule dagegen erzeugte offenbar mit ihrer Suchanzeige genug Aufsehen, erzählte die Schulleiterin Priit Põdra der "Aktuaalne Kaamera": eine neue Mathelehrerin wurde gefunden (err).

Montag, Dezember 24, 2018

Dauersommer oder langer Winter?

Es mag Estinnen und Esten geben, die sich besonders im Frühjahr wünschen, die Sonne möge schneller um die Erde kreisen und länger andauernde warme, sonnige Zeiten bescheren. Aber die offiziell vorgenommene Umstellung von Sommer- auf Winterzeit und umgekehrt ist sicher keine estnische Erfindung.

Schon Anfang 2018 setzte Regierungschef Ratas das Thema auf die Agenda: die Zeitumstellung beinträchtige ernsthaft die Gesundheit vieler Bürgerinnen und Bürger, so Ratas (Postimees / ERR). Auch die Notwendigkeit zum Energiesparen könne in heutiger Zeit kein Grund mehr für eine Zeitumstellung sein, meinte Ratas.

Die Zeitumstellung ist inzwischen durch eine EU-Direktive gesetzlich geregelt. Allerdings hatte sich Estland bereits zwischen 2000 und 2001 schon einmal entschieden aus der Zeitumstellung auszusteigen - damals eigenmächtig, und für einige Nachbarn überraschend. 2002 kehrte Estland dann doch zur Sommerzeitumstellung zurück. Die damalige litauische Regierung entschied sich sogar zunächst für einen kompletten Wechsel von der osteuropäischen Zeit (EET) zur mitteleuropäischen Zeitzone (CET), in der auch Deutschland liegt. Ein wahres Zeitenchaos! Die Fahrpläne von Bussen, Bahnen und Flugzeugen gerieten damals - nach mehreren unterschiedlichen Entscheidungen in Litauen, Lettland und Estland - zu einem unentwirrbaren Dickicht.

2018, nach Ende einer EU-weiten Umfrage, an der sich 4,6 Millionen EU-Bürger/innen beteiligten und die eine klare Mehrheit von 84% für eine Abschaffung der seit 1996 praktizierten Zeitumstellung brachte, hatte EU-Kommissionspräsident Jeans-Claude Juncker schon eine komplette Abschaffung der Zeitumstellungen noch vor der nächsten Europawahl 2019 in Aussicht gestellt. EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc hatte daraufhin angedeutet dass Länder wie Portugal, Zypern und Polen eher zur Beibehaltung der Sommerzeit tendieren, während Finnland, Dänemark und die Niederlande eine dauerhafte Winterzeit bevorzugen. Außerdem war die Beteiligung an der EU-Umfrage in den einzelnen Ländern äußerst unterschiedlich: während allein 3 Millionen Deutsche ihr Votum abgaben, taten gleiches nicht einmal 20.000 Italiener/innen.

Ältere Menschen in Estland könnten die Zeitumstellung auch als "Relikt aus der Sowjetzeit" bezeichnen - denn zwischen den Jahren 1981 und 1988 wurden die estnischen Uhren noch sowjetisch angeordnet umgestellt (1989-1996 dann nicht mehr).

Wie gehts jetzt also 2019 weiter? Bliebe Estland bei permanenter Sommerzeit, könnten "mehr dunkle Stunde schlafend und mehr Tageslicht-Stunden aktiv" verbracht werden, so meint es das estnische Sozialministerium. Nur 12% der hellen Tagesstunden würde ein Durschnitts-Este dann verschlafen, so das Ministerium (ERR). Wenn Finnland allerdings dabei bliebe, lieber die permanente Winterzeit einzuführen, so könnten im Herbst 2019 hier ungeahnte Zeitlöcher entstehen, gerade zwischen den beiden Hauptstädten. Einer Umfrage zufolge befürworten 55% aller Estinnen und Esten die permanente Einführung der Sommerzeit.

Bei einem Zusammentreffen kurz vor Weihnachten in Vilnius einigten sich die Regierungschefs der drei baltischen Staaten darauf, gemeinsam möglichst in einer einheitlichen Zeitzone verbleiben zu wollen (ERR). Jüri Ratas versäumte dabei nicht zu betonen, dass Estland auch mit Finnland möglichst eine einheitliche Regelung anstrebt. Eine Einigung auf eine europaweiten Regelung wird momentan erst für 2021 für umsetzbar gehalten. Die Zeit wird es zeigen - ein Spruch mit momentan unsicherer Voraussagewirkung: den einen zeigt es sich mit, den anderen ohne offiziell vorgenommendem Zeitsprung.

Samstag, Dezember 22, 2018

Der Frost und der Kratt

Wer hätte schon seinen Kindern verbieten mögen, einen Schneemann zu bauen? Ja, estnische Mythologie müsste man kennen - und den Film "November" sehen, der momentan in manchen deutschen Kinos läuft. Für den Moment ein "November im Dezember."

Alte, verlassene Bauernhöfe gibt es im dünn besiedelten Estland genug - und sei es nur ein alter Schuppen mit zusammenfallendem Dach. Sehr viel mehr haben diese Menschen nicht, die uns Rainer Sarnet hier vor Augen führt. Und oh weh, scheinbar führen auch alte Baumsägen, Tierschädel und rostige Nägeln noch ein Eigenleben: schwarze Romantik und archaische Mythen "wie man sie vorher nur bei Andrej Tarkovskij gesehen hat" (epd-film).

Kein Film für Wärmeliebende: Schneegriesel wehen, es schneit unaufhörlich, es dunkelt früh, ein eisiges Wetter von der Art, dass Wasser an allen Zweigen und Gegenständen festfriert und die ganzen Landschaft den weiß-grauen Frosthauch überzieht. Die wenigen Menschen leben in Räumen, in denen sie kaum aufrecht stehen können, Vieh angekettet neben dem Bett. Da ist es schwer, persönliche Interessen zu sichern, oder gar eigenes Selbstbewußtsein. Viel stärker sind die "dunklen Mächte", die Zeichen und Wunder, hinter denen der allgegenwärtige Volksglaube zunächst mal Unheil vermutet.

Was könnte ein Symbol für den Teufel sein? Ein toter Vogel? Ein Knopf? Eine Mücke? Manchmal reicht es schon, wenn  ein Ziegenbock zum falschen Zeitpunkt in die Scheune hereinstolpert. Die Baumwipfel drehen sich um den Betrachter, Menschen sind ohne viel Aufwand in der Lage, den Wolfsschrei auszustoßen und den Vollmond zu verehren oder im dunklen Festtagskleid ins Wasser zu gehen.

Sind es Menschen, uns hier gezeigt werden? Schreckliche Fratzen, fehlende Zähne, schreckgeweitete Augen, wirre Haare - Kämme wären zu dieser Zeit wirklich noch nicht erfunden.
Dagegen waren die Schrecken der Pest sicher noch nicht vergessen. Auf dem Wasser bilden sich Eisblumen. Schwarze und weiße Kutschen, ohne Blumen. Auf allen Bäumen lastet der Schnee.

"November" führt uns irgendwo ins Estland des 19. Jahrhunderts. In einem kalten Herrenhaus decken zwei Bedienstete den Tisch, aber es sind keine Gäste zu sehen. Die Tochter des Barons mondsüchtig, springt fast vom Dach. Was kann es anderes geben als den baldigen Tod? - Mühsam, schwermütig, langsam webt sich der Faden der Liebe durch diese Atmosphäre. Leider wissen wir nicht wie das Buch von Andres Kivirähk ("Rehepapp", in estnischer Originalversion ein Bestseller) diese Story entwickelt, mit welcher Portion Sarkasmus es vielleicht Estinnen und Esten selbst sehen - eine Übersetzung des Buches ins Deutsche fehlt bisher. Ganz ernst gemeint habe Kivirähk es nicht, so einige die Estland sehr gut kennen. Immerhin hält der zarte Liebesfaden hier den Film am Leben, uns lässt ihn nicht versinken in übertriebenem Grusel oder albernen Grausamkeiten.

Doch es ist hier von unerfüllter Liebe die Rede; vielleicht auch von unvollendeten Taten. "Hast Du sie getötet? Sie, die er vereehrt, den Du liebst?" "Nein, ich konnte es nicht" - so die Antwort. "Er wäre sonst von Traurigkeit gestorben." - "Er muss ein seltsamer Mensch sein." "Das ist er."

Gut, wer einen "Kratt" zum Ratgeber hat; zumindest dies lernen wir aus diesem Film. Ein "Kratt", so wie es nur Estinnen und Esten haben, wie es Andres Kivirähk schreibt. Das kann ein Rest eines Gartengeräts sein, oder die feurigen Kohleaugen eines Schneemanns. Ein Kratt nimmt Sorgen und Wünsche entgegen - aber seine Ratschläge zu befolgen, das ist auf eigenes Risiko. "Brau mir einen Trank, der eine Frau mich lieben macht." - "Nimm deine eigene Scheiße, deinen Schweiß und Blut, und schon hast Du so einen Trank." Natürlich ist die Wirkung verheerend - der Liebhaber muss mit einer spitzen Gabel in seinem Rücken fliehen.

Nach zwei Stunden Film bleiben Zuschauer zurück, die vielleicht demnächst nicht mehr ganz fantasielos sind, sollten jemand mal einsam durch einen Wald gehen. Vielleicht aber auch mit mehr Verständnis fürs einfache bäuerliche Leben der Vergangenheit, als Bäuerin oder Bauer noch als Leibeigene, ohne Schreib- oder Lesekenntnisse versuchen mussten die Welt zu verstehen. Menschwerdung ist schwierig - aber möglich.

Kritiken zu "November":
EPD Film / Filmfestival GoEast / Estnische Filmdatenbank / Neues Deutschland / Mephisto / Tagesspiegel / Jumpcut / New York Times /