Mittwoch, Juni 28, 2017

Musikalischer Grundstein

Arvo Pärt ist schon heute der wahrscheinlich weltweit bekannteste Komponist Estlands. Diese Anerkennung äußert sich auch dadurch, dass schon 2010 begonnen werden konnte, seine Werke zu archivieren und zu einem musikalischen Kreativzentrum werden zu lassen. Am 19. Juni wurde nun der Grundstein gelegt auch für ein neues Gebäude:unter Glockenklängen, und in Anwesenheit einiger Gäste aus der estnischen Kultur und Politik, ja sogar versehen mit dem Segen eines orthodoxen Priesters wirkte es fast wie eine religiöse Zeremonie - ein feierliches Versprechen.

So wird das kleine Örtchen Laulasmaa, knapp 35 km westlich von Tallinn an Estlands nordwestlicher Küste gelegen, künftig wohl nicht nur viele Sommergäste haben, sondern es werden auch viele Musikinteressierte und Pärt-Fans kommen. Nach drei Jahren Bauzeit soll dann das von den spanischen Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano entworfene Gebäude fertiggestellt sein. Künftig wird auf 2,348 m2 dort das Archiv, eine Halle mit 140 Zuschauerplätzen, ein Ausstellungsgelände, eine Videohalle, Klassenräume für Studierende wie auch die Räumlichkeiten für die Angestellten zu finden sein.

Der "Grundstein", eine verschließbare Metallbox, wurde vorher noch mit Inhalt gefüllt: Anu Kivilo, Geschäftsführerin des Arvo Pärt Zentrums, befüllt es mit Hilfe des Meisters selbst mit einer Ausgabe der Kulturzeitschrift "Sirp", einem Bronzeglöckchen, einer Liste der Mitarbeiter des Zentrums - und einem Memorystick mit besonderen Inhalt: hierauf gespeichert die Uraufführung des Stücks "Tabula rasa" vom 30.September 1977, aufgeführt von  Tatiana Grindenko, Gidon Kremer, Alfred Schnittke und dem Kammerochester des Estnischen Theaters unter Leitung von Eri Klas.

Architekt Enrique Sobejano stellte zu Pärts Musik Vergleiche an: "Ruhe, Schönheit und Geometrie - das gilt auch für die Architektur." Auch Ministerpräsident Jüri Ratas nahm an der Zeremonie teil. Das neue Haus strebt eine Eröffnung noch 2018, zu Estlands 100.Geburtstag, an. (ERR)

Arvo Pärt Zentrum

Donnerstag, Juni 01, 2017

Tallinn, Europas Mitte

Estland ist bereit. Vielleicht wird sich mancher noch an die schwierigen Zeiten Anfang der 1990iger Jahre erinnern - damals hätte man sich nicht vorstellen können, dass ganz Europa die wichtigsten Konferenzen ausgerechnet in Estlands Hauptstadt - die manche älteren Deutschen hartnäckig "Reval" nennen - veranstalten würde. Heute ist die Perspektive sogar  beinahe umgekehrt: damals konnten sich die meisten Menschen gar nicht vorstellen, dass ein Land wie Estland erstens eine Existenzberechtigung hat und zweitens zu Europa wie selbstverständlich dazugehört. Heute blicken viele Europa-Freunde hoffnungsvoll an die östliche Ostsee: hier scheinen die entschlossensten Europäer überhaupt am Werk zu sein.

So gibt denn Estland ab dem 1. Juli sogar einen Teil der Tagesordnung vor. Wer sich die estnische Selbstdarstellung der EU-Präsidentschaft anschaut, wird vielleicht im ersten Moment an eine Variante der vom US-Präsidenten Trump bekannten Sprüche denken: Estonia first? Nein, "Estonia will be in the focus" ist hier ganz anders gemeint. Europa schaut nach Estland. Bereits in den vergangenen Wochen überflutete die deutschsprachige Presse eine Welle von Beiträgen über das moderne digitale Estland (siehe Rheinische Post, Bayernkurier, Tagesspiegel, Die Presse, FAZ, BerlinValley, Weserkurier, Thüringische Landeszeitung, Der Standard, Wirelesslife). Deutsche Politiker sprachen von ihrem eigenen Land als "digitales Entwicklungsland", und auch der 10.Jahrestag eines russischen Cyberangriffs auf Estland fand Beachtung (siehe Netzpiloten, NZZ).

Die estnischen Verantwortlichen benennen 5 Themenfelder, zu denen die internationale Aufmerksamkeit auf Estland gelenkt werden soll:Kultur, Wirtschaft, Informationstechnologie, Tourismus und Wohnen, sowie Bildung und Wissenschaft. Regierungschef Jüri Ratas gab kürzlich Pläne für eine europäische Digitalkonferenz bekannt, die Ende September / Anfang Oktober stattfinden soll (Termin steht noch nicht fest, ERR). In Brüssel dagegen war es Kulturminister Indrek Saar, der Schwerpunkte der estnischen EU-Präsidentschaft vorstellte - auch hier war die Rede von audiovisuellen Medien und der "digitalen Revolution". Andere Themen: Verbesserung des Zugangs zur Kultur und dem Kulturerbe, die Rolle von Trainern im Sport, und die Gesundheitsförderung.Zu den Kosten heißt es, 75 Millionen Euro seien eingeplant - davon allein 41 Millionen für Personal, und 23 Millionen für Veranstaltungen. Eines haben sowohl Estland wie die Europäische Union auf jeden Fall gemeinsam: blaue Luftballons reichen aus, sie symbolisieren beides.

Die größten und zentralen Veranstaltungen während der Präsidentschaft sollen übrigens im "Kulturikatel" in Tallinn stattfinden; der Ort hat eine interessante Vergangenheit: nicht dass sich hier ehemals ein Heizkraftwerk befand, sondern hier wurden auch Aufnahmen für Andrei Tarkovskys Kultfilm „Stalker“ gemacht.
Zu den kulturellen Glanzpunkten soll die Europatour der Folkband "Trad.Attack!" zählen,"Streetart in verschiedenen europäischen Hauptstädten" (wo genau, vielleicht Teil der Überraschung?), Paavo Järvi geht mit einem estnischen Festivalorchester auf Tournee, in London gibts die estnische Designausstellung "Size doesn't matter", in Brüssel gibts eine Kunstausstellung und eine Ausstellung estnischer Musikinstrumente, Mitte November präsentiert sich estnischer Jazz eine Woche lang in Belgien, die estnische Nationaloper wird auf Tour nach Finnland gehen, inn Helsinki gibt es eine Konferenz zum Thema "virtuelle Realität", und den Abschluß macht Ende Januar 2018 ein Arvo-Pärt-Festival. Dann kann es mit dem Feiern gleich weitergehen - 100 Jahre Estland.

Mehr Infos:
Estnischer Ratsvorsitz (auch Infos in Deutsch)
Infos zum Ratsvorsitz (Englisch / Estnisch / Russisch)
Estnisches Kulturministerium
Estnisches Parlament "Riigikogu" zur EU-Präsidentschaft