Dienstag, März 31, 2020

Home office Estland

Alles digital in Estland? Es gibt immer noch Überraschungen. Gerade bei politischen Entscheidungen zeigten sich in der vergangenen Woche Lücken: es stand die Wahl des Parlamentsvorstands an, die einmal im Jahr erfolgen muss - und die Abgeordneten wählten nicht etwa von zu Hause aus (ERR). Dabei waren Überraschungen kaum zu erwarten, denn alle drei bisherigen Amtspersonen traten zur Bestätigung bzw. Wiederwahl an: Vorsitzender Henn Põlluaas (EKRE), als Stellvertreter Helir-Valdor Seeder (Isamaa) und Siim Kallas (Reform). Oder hätte die Spannung darin gelegen, dass derjenige Vize mit den meisten Stimmen sich "1.Stellvertreter" nennen darf, der andere aber nur "2.Stellvertreter"? Man sollte meinen, es gäbe derzeit wichtigere Dinge zu entscheiden in Estland.

Es wurde zu einem langwierigen Ritual: sechs Wahlurnen wurden im Parlament aufgestellt, und wer nur im Hof mit dem Auto vorfahren wollte (maskiert und mit Handschuhen), dem wurde die Abstimmungsbox noch ans Autofenster gehalten. Aber analog musste es wohl sein.(ERR)

Das Gesundheitswesen, das auch in Estland gerade gewaltige Lasten schultern muss, fällt dagegen durch die bekannten elektronischen Lösungen auf. Angesichts der aktuellen Krisensituation wurde in Estland ein weiterer Schritt in Richtung der elektronische Krankenakten getan (deren Einführung in Deutschland für 2021 geplant ist / BGM). Seit dem 16. März ist es in Estland möglich, sich online krank zu melden. Die dafür nötige Krankenakte (Haigusleht) kann ebenfalls online ausgefüllt werden, die Daten werden dann dann zur Versicherungsfond, dem Hausärzteverband und dem estnischen Gesundheitszentrum weitergeleitet. Erst im nächsten Schritt meldet sich dann ein Arzt, um Symptome und Zustand des Patienten zu klären (Haigekassa). Auch über die Länge einer eventuellen Krankschreibung entscheidet dann der Arzt.

Um diese Schritte online zu erledigen, werden entweder die estnische ID-Karte oder die mobile ID verwendet, die in Estland die meisten Menschen bereits besitzen und nutzen. Genutzt wird dabei ein nationales Patientenportal (Digilugu.ee). Bereits eine Woche nach der Einführung hatten 12.000 Estinnen und Esten die Möglichkeit der Online-Krankenakte genutzt (ERR).
Mit diesem Schritt soll vor allem die Belastung für die Hausärzte verringert werden.

Mittwoch, März 18, 2020

Krisen-Estland

Wenn in Estland die Schulen geschlossen werden - bekommen Schüler*innen und Schüler ihre Hausaufgaben digital, auch die Eltern sind darüber (digital) informiert. Sogar die Notengebung ist ins digitale System einbezogen (siehe: EKool). Der "Youthreporter" berichtete noch vor kurzem von einer in Estland kurz vor der Umsetzung stehenden Vorschrift, dass alle Schulmaterialien jetzt auch digital vorliegen müssen.

Seit dem 16. März meldet Estland: beginnend mit dem heutigen Tag bleiben unsere Schulen geschlossen. Das Lernen wird daher komplett online ablaufen.

Und damit nicht genug: Estland bietet Erfahrungen des digitalen Lernen anderen Ländern zur Nutzung an - so zumindest verkündet es eine Informationsseite des estnischen Bildungsministeriums. Diese beruft sich auf die estnischen Firmen "99math.com", "Lingvist.com", "Clanbeat.com", "Speakly.me", "ALPA Kids", und "DreamApply.com", die sich bereit erklärt hätten, ihre Lösungen auch auf internationaler Ebene kostenfrei zugänglich zu machen. Eine Liste dieser Angebote stellte das Ministerium ebenfalls online. Auch "Estonianworld" stimmt in den begeisterten Chor ein: "Estland bietet seine digitalen Werkzeuge zur Unterstützung anderer Länder in der Krise an."

Allerdings ist es wie so oft, wenn Apps kostenfrei angeboten werden: im Kleingedruckten ist dann doch das wirklich Kostenfreie sehr begrenzt.So bietet sich die Sprachlern-Software "Lingvist" zum Beispiel als "in den Zeiten der Krise einen Monat lang für Schulen kostenfrei" an. Wer genauer nachliest, erfährt hier auch, dass LINGVIST schon bisher als kostenlose Software angeboten war - aber gegenwärtig ein Abomodell einführen will, um Einnahmen generieren zu können. Also: hier will das Ministerium wohl eher estnischen Startups einen Anschub aufs internationale Parkett geben, als wirklich altruistisch in der Krise Hilfe leisten zu wollen."Lingvist" weist inzwischen einen Preis von etwa 20 Euro pro Monat für die Nutzung aus - da kommt der Verdacht auf, hier den beschenkten Schulen dringend ein Gefühl für den Wert des Geschenks geben zu wollen - ähnlich den Supermärkten, die erst ihre Preise erhöhen, um dann wöchentliche "Sonderaktionen" auszurufen.

Andere der genannten Firmen, wie z.B. "Clanbeat", gehen mit dem Kostenlos-Angebot noch offensiver um und machen es zur aktuellen Haupt-Schlagzeile. Hier kommt die Info allerdings Englisch daher, und die Frage kommt auf: dürfen in Deutschland interessierte Lehrer*innen nun einfach hemmungslos runterladen und anwenden, entscheidet das die Schulleitung? Oder vielleicht wird auf Anordnungen des zuständigen Ministeriums gewartet? - Und auch bei "Clanbeat" ist die "Kostenlos-Taktik" nicht ohne Tücken: ob hier die Nutzung Sinn macht, oder nicht, ob es Alternativen gibt - natürlich suchen wir unabhängige Beratung vergeblich. "We will send instructions" verspricht das Unternehmen, setzt also darauf, dass erst mal "kostenlos bestellt", und erst danach das Nachdenken über Sinn und Unsinn einsetzt. Zudem gibt es Unterschiede je nach Infoquelle - teilweise wird hier auch nur von "kostenlos bis zum Ende des Schuljahres" gesprochen (education-nation). Und das kommt schon bald.

Angesichts der Begeisterung auf estnischer Seite nach dem Motto "Estland hilft kostenlos der ganzen Welt" bleibt doch offenbar etwas Zurückhaltung angebracht. Wir erinnern uns: Hände waschen, Panik vermeiden. Das gilt offenbar auch in digitalen Dingen.