Samstag, Mai 14, 2005

Kriegserinnerungen - Vor dem Unterzeichnen des Grenzvertrags mit der Russischen Förderation am 18.Mai 2005

Estnischer Panzerzug Nr.3 im Unabhängigkeitskrieg 1918-1920

Dies sind Aufzeichnungen über die Kriegswirren 1914-1920 im Baltikum. Bisher unveröffentlicht. Von E.Lüdtke über ihren Vater Verner Palmberg. 1920 wird der Friedensvertrag, der auf ewig gelten sollte,mit der Sowjetunion abgeschlossen.  Posted by Hello
Werner Palmberg 1913
Im August 1914 brach der 1.Weltkrieg aus. August, ein Freund meines Vaters, schrieb auf offener Karte auf Deutsch: “Es lebe der Krieg, mögen es die Deutschen büßen!³ Wahrscheinlich ironisch gemeint. Verner trug die Farben der nichtschlagenden Verbindung ESTONIA, nannte sich stud.chem. und machte viele Radtouren in Mittelestland. 1915/16 wurde die Universität nach Moskau verlegt, bedingt durch die vordringenden deutschen Truppen. Er muss sich aber nur kurz in Moskau aufgehalten haben, da es dorthin nur wenige Briefe gibt. Bis zum August 1916 studierte er im Rigaer Polytechnischen Institut, Chemische Abteilung, dann wurde er in das russische Heer eingezogen und kam in die Offiziersschule nach Odessa. Leider hat mein wortkarger Vater nur sehr wenig vom Kriege erzählt. Nur von Odessa schwärmte er: vom schönen Strand und den weißen Häusern an der Küste. Nach seiner Ausbildung als Fähnrich der Infanterie bekommt er Heimaturlaub und wird anschließend gleich hinter den Ural nach Sibirien - Irbit versetzt. Die Fahrt des frischgebackenen Fähnrichs ging erstmal von Reval - St.Petersburg - Moskau, zusammen mit seinem Schulkameraden John, nach Kasan. Dort wurde ihnen das 168. Reserve Infanterieregiment in Irbit zugewiesen. Er untersteht dort dem Regimentsstab der 8. Kompanie. Das Leben in Sibirien war recht eintönig. Im Sommer hoffen sie in den wildreichen Wäldern, auf Jagd gehen zu können. Ein Höhepunkt war der jährliche Fellmarkt, mit 10. Millionen Goldrubeln Umsatz. Ein Bekannter verkaufte 15 000 Eichhörnchenfelle. Eigentlich wollte mein Vater in seinen Erinnerungen noch ausführlich über Irbit schreiben: In der Umgebung die vielen Kriegsgefangenen, Bären, das angefrohrene Ohr im Sturm, essen von Zedernnüssen, Tataren - und endlich auch die ersten Demonstrationen mit angehefteten Rosetten im März 1917. In diesem Jahr ereignen sich in Russland große Dinge. Der Zar dankt ab und wurde mit seiner ganzen Familie verhaftet. Kerenski übernahm die provisorische Regierung. Es wurde der gregorianische Kalender statt des julianischen eingeführt. Verner war nun plötzlich am 3.11 statt am 22.10.1895 geboren. Am 13.April 1917 wurde er ins Sibirische Reserve-Pontonbataillon in Jaroslaw versetzt. Die Fahrt führte wieder endlos über Jekaterinenburg - Perm - Wjotka - Wolodja. 6 Monate führte er dort wieder, wie damals, das typische Soldatenleben in der Reserve: Sprengarbeiten auf der Wolga, Brückenbau, Kartenspielen im Offizierskasino.
WWI Russian officers on a pontoon
Am 15 Oktober 1917 begleitete er mit Remmel (Schulkamerad) ein Kommando Soldaten für das 12. Pontonbataillion nach Dorpat. Er durfte zu einem 6-tägigen Urlaub nach Reval. Ende Oktober fuhr er wieder über Dorpat zurück zu seiner Kompanie, die in Hoppenhof bei Walk an der späteren lettischen Grenze stand. Dort wohnte er auf dem Bauernhof Krewan im Laizenschem Landbezirk. In November war aber nun die bolschewischtische Revolution ausgebrochen. Kerenski war gestürzt worden, Lenin und Trotzki hatten die Herrschaft ergriffen und im Dezember mit Deutschland einen Waffenstillstand geschlossen. Die russische Armee befand sich in Auflösung.
Der Oberkommandierende des russischischen Heeres, der Matrose Krylenko befahl, alle Offiziere zu Soldaten zu degradieren. Am 7.12.1917 wurden allen Offizieren die Epauletten abgeschnitten. In Estland wurde der Belagerungszustand ausgerufen und eine Welle von Verhaftungen des deutschen Adels und der estnischen Intelligenz begann. Verner wurde mit allen gewesenen Offizieren einer ärztlichen Durchmusterung unterworfen. Er wurde aus Krankheitsgründen freigestellt und fuhr zu einem 6-monatigen Urlaub nach Hause zu seinen Eltern nach Reval in die Dörptsche Straße. Von dieser Musterung³ in Dorpat erzählte uns meine Mutter Näheres: Bevor Verner vor dem Militärarzt antrat, wäre er mehrfach im Dauerlauf um Dorpat gerannt. So trat er schweißüberströmt mit wild klopfendem Herzen zur Untersuchung an. Der “Herzfehler³, der ihm bescheinigt wurde, verhalf ihm zum Heimaturlaub. Aber nicht immer ging es so gut ab. Offiziere wurden auch erschossen, die Deutschen in Turnhallen, Kinos, Gefängnisse und im Hafen interniert und nach Sibirien verschleppt. Die Front der deutschen Truppen rückte immer näher. Am 23.2.1918 verlassen die roten Garden Reval fluchtartig. Am 24.2.1918 veröffentlicht der estnische Ältestenrat ein Manifest an alle Völker Estlands zur Rettung des Landes und erklärt Estland zur selbstständigen Republik. Die in der Nacht gebildete Regierung konnte nicht mehr zusammentreten, da am 25.2. die deutschen Truppen Reval einnehmen und andere Gremien zur Verwaltung des Landes einsetzen. Während dieser Zeit arbeitet Verner als Student in der chemischen Fabrik R.Mayer.

Im November 1918 brach in Deutschland die Revolution aus. Die deutschen Truppen zogen sich aus Reval zurück und die roten kommunistischen Truppen strömten über Narva und Petseri wieder ins Land. Aber nun nahmen die Esten ihr Schicksal selber in die Hand. Die bürgerliche Regierung kehrte ins Amt zurück. Die Republik Eesti wurde ausgerufen, die Landesfahne war blau-schwarz-weiss. Im Dezember erscheint ein englisches Geschwader im Revaler Hafen. Die Deutschen hatten die estnische Regierung nicht anerkannt. Ihre Vorstellungen gingen dahin, das Baltikum als Großherzogtum unter Friedrich von Mecklenburg zu vereinnahmen. Nachdem nun auch England die Republik anerkannt hatte und Waffen lieferte, mußte das Deutsche Reich es auch tun. Im Blitztempo wurde in Estland ein Heer aufgestellt, unterstützt durch finnische Freiwillige. Verner wurde als einer der Ersten eingezogen. er stellte sich als einfacher Soldat vor (die Roten hatten ihn ja degradiert). Dies war wieder typisch mein Vater. Uniformen, Orden und Ehrenzeichen waren ihm suspekt. Natürlich wurde er sehr schnell von seinen alten Kameraden geoutet. Ausserdem brauchte das estnische Heer dringend Offiziere, da die meisten von den Roten in ihr Heer vereinnahmt worden waren. Zuerst machte Verner Dienst im Ingenieurbataillon. Mitte 1919 wurde er zum Chef des Wachkommandos der 1. Division bestimmt. Im Mai diente er in der 5. Kompanie des Reservebataillons der Panzerzüge in Südestland. 50 Jahre später, nach einer eindrucksvollen Vorführung des Breitwandfilms “Dr. Schiwago³ in Berlin, wurde mein Vater gesprächig. Von den wunderschönen Aufnahmen von Sibirien animiert, erzählte er mir von seinen Erfahrungen als Offizier in einem Panzerzug (im Film kommen Episoden vor, die die Panzerzugszenen mit dem berühmt-berüchtigten roten General Strelnikow beinhalten). Als er im Panzerzug diente, gerieten sie in einen Stellungskrieg mit den Roten. Sie lagen in vorderster Linie in Schützengräben. Es war kalt und sehr neblig. Ihm unterstanden alle estnischen Soldaten, und er hatte die Verantwortung. Da tönten plötzlich Lautsprecher über das Niemandsland: “Genossen, kommt rüber zu uns, wir haben Schnaps in Mengen!³ Wie gesagt es war dunkel und der Nebel immer dicker. Im Laufe der Nacht dezimierte sich seine Mannschaft immer mehr. Es wurde für ihm immer ungemütlicher. - Ende seiner Erzählung. Ich daraufhin ganz aufgeregt: “Ja, mein Gott, was war dann - Pappi?³ “ Am nächsten Morgen waren sie alle wieder da.³ “Aber - wieso denn?³ “Noh, Wodka war drüben alle !³
Kama WWI Russia
Die Baltendeutschen bildeten freiwillige Baltenregimenter und kämpften zusammen mit den Esten für ihre Heimat. Am ersten Jahrestag der Unabhängigkeit war Estland freigekämpft.
In Lettland waren die Verhältnisse ganz anders. Es bildete sich eine baltische Landeswehr, die zum Teil mit der Eisernen Division (Restbestände aus dem deutschen Heer) zusammen gegen die einmarschierenden Roten und zur Befreiung von Riga kämpften. Dies war sehr verständlich und nötig, da die baltische Bevölkerung fürchterlich unter dem roten Terror litten. Leider unternahm der Kommandeur der baltischen Landeswehr v. Manteuffel einen Staatstreich. Er setzte in Libau die neugebildete lettische Regierung ab und eroberte Riga. Die Roten waren endgültig geschlagen. Er wollte die Macht der baltischen Barone zurückgewinnen. Nun kamen aber die Esten den Letten zu Hilfe. Am 22. Juni 1919 standen sich bei Wenden die Esten und die baltische Landeswehr gegenüber. In einer sehr blutigen Schlacht siegten die Esten. Wenden wurde ein nationales Symbol. Zum ersten Mal seit 700 Jahren hatten die Esten erfolgreich gegen die baltischen Barone gekämpft und gesiegt. Diese Ereignisse haben jahrzehntelang das baltischdeutsch-lettische Verhältnis in Lettland belastet, während die Esten weit lockerer zu ihren Baltendeutschen standen. Leider wurde gerade die Enteignung des Großgrundbesitzes beschlossen, als die Nachricht vom Sieg bei Wenden eintraf. Daher auch die Festlegung der Restgüter auf 50 Hektar. Trotzdem: die estnische Regierung erließ 1925 ein Minderheitenstatut, das im Völkerbund als vorbildlich zitiert wurde. Die Deutschen erhielten eine Kulturselbstverwaltung und etwas, das einmalig in Europa und auf der Welt war: Jeder Bürger konnte seine Nationalität selber bestimmen und sich in das entsprechende Nationalregister eintragen.
Zurück zum Jahre 1920. Gott sei Dank war mein Vater schon am 2.4.1920 im Zuge der Demobilisierung zur Beendigung seines Studiums freigestellt. Am 2.8.1920 wurde er endgültig aus dem estnischen Heeresdienst entlassen.

Anmerkung:
1920 wird durch den Friedensvertrag in Tartu die Grenze zur Sowjetunion festgelegt und die Republik Estland von Moskau anerkannt.
1939 arbeitet Verner Palmberg bei der Abteilung Gasschutz/Chemische Kriegsführung des Verteidigungsministeriums der estnischen Regierung in Tallinn. Ihm wird von seinen Vorgesetzten dringend geraten, das Land vor dem Einmarsch der Roten Armee zu verlassen (Hitler-Stalin-Pakt). Er wandert bereits im Oktober 1939 zusammen mit den Baltendeutschen aus. Zurückbleibende estnische Offiziere werden nach Besetzung des Baltikums durch die Sowjetunion 1940 nach Sibirien deportiert und dort zum Teil hingerichtet.
Vor über zwei Jahren kam ein Film in die estnischen Kinos. Ein Film über das Entscheidungsjahr 1918 und die Rolle der Tartuer Studenten im Unabhängigkeitskrieg. Es wurde der bis dahin erfolgreichste Kinoerfolg: Nimed Marmortahvlil, hier der Trailer. Anmerkung: Das Eesti Sõjamuuseum, Estonian War Museum, hat über die Jahre ein Projekt verwirklicht. Eine Liste mit der Laufbahn aller etwa 10 000 Offiziere des Landes von 1918 bis 1940. Unter ohvitser ist Verner Palmberg aufgelistet. Er diente auf dem Panzerzug Nummer 3. Ausserdem wurden unzählige Fotos aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges auf der Seite des Rahvusarhiivs veröffentlicht. The National Archives of Estonia. Darunter viele Fotos mit dem Panzerzug Nr. 3 im Sommer 1919. foto, soomusrong nr 3, suurtüki platvorm "Onu Tom" esiplaanil 75 mm õhutõrje suurtükk., KLM FT 1105 F 1105:41, Eesti Sõjamuuseum - Kindral Laidoneri Muuseum, http://www.muis.ee/en_GB/museaalview/113897 Eesti Sõjamuuseum - Kindral Laidoneri Muuseum

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen