Mittwoch, Dezember 23, 2015

Schachgeburtstag

2016 wird ein Keres-Jahr! So ist es in estnischen Medien zu lesen, und offenbar ist es auch in der deutschen Schachwelt schon angekommen: die "Schachnachrichten" weisen besonders auf die 2-Euro-Gedenkmünze hin, die in Kürze erscheinen wird (ERR). Paul Keres, geboren am 7.Januar 1916 in Narwa, gestorben am 5.Juni 1975 in Helsinki, war - wie die Schachwelt weiß - einer der stärksten Schachspieler des 20.Jahrhunderts. Obwohl er nie Weltmeister war, hat er aber gegen neun amtierende oder ehemaligen Weltmeister Turnierspiele gewonnen. Paul Keres war auch Estlands Sportler des Jahres 1959 und 1962. Ganz oben an die Weltspitze kam er nie, daher nannten ihn manche auch "der ewige Zweite". Fast vierzig Jahre gehörte Keres zu den besten Schachspielern der Welt, auch bekannt durch seine Bücher mit brillianten Analysen. In der Straße Vene tänav 29 in Tallinn befindet sich das "Paul-Keres-Schachhaus".
Estland ehrte ihn schon zu Zeiten der estnischen Krone (1992 - 2010) mir einer Abbildung auf dem 5-Krooni-Schein. Vom 8.Januar an wird nun eine Gedenkmünze im Handel sein, in einer Auflage von 500.000 für den normalen Gebrauch als 2-Euro-Münze, 5.000 Stück werden speziell für Sammler in Sonderauflage produziert. (Eesti Pank). Den ausgeschriebenen Wettbewerb zur Gestaltung der Münze gewann Riho Luuse. 2016 werden auch eine Reihe von Schachturnieren in Gedenken an Paul Keres durchgeführt werden.

Montag, November 16, 2015

E-Estonia - englisches Estland

Estland ist stolz auf die Englisch-Kenntnisse der Estinnen und Esten. Nach der aktuellen Vergleichstabelle des "English Proficiency Index" (EPI) rangiert Estland auf einem sehr guten Platz 7. Ein Vergleich: Litauen liegt auf Platz 26, Lettland 22, Deutschland auf Platz 11. Vorn rangiert nahezu der gesamte skandinavische Block: Schweden (1), Dänemark (3), Norwegen (4) und Finnland (5). Dazu kommen die vielreisenden Niederländer (2) und mit Slowenien der erste Vertreter Osteuropas (6).

Die Macher des EPI, die 1965 in Schweden gegründete "Education First", nach eigenen Angaben "die größte privatwirtschaftliche Bildungsinstitution der Welt", gaben kürzlich zum fünften Mal die Vergleichszahlen zu den Englischkenntnissen in Europa heraus. "English first" ist hier die Devise - ob in Indonesien, Russland, China oder in Düsseldorf. Berechnet wird der EPI nach Englischtests, die in allen Ländern, in denen die Organisation tätig ist. Mindestens 400 Testteilnehmer pro Land sind nötig, jeder kann kostenlos an den Tests teilnehmen.

Natürlich werden die Englischkenntnisse nach diesem Verfahren speziell bei diejenigen überprüft, die auch Englisch lernen wollen. Wer gar kein Englisch kann und es auch nicht lernen will, wird nicht berücksichtigt. Also, man könnte auch sagen: wer bei EPI vorn liegt, ist Sieger unter den Eifrigen.

Gute Englischkenntnisse spiegeln ein höheres Einkommen wieder, meinen die Macher. Außerdem schneiden Frauen durchschnittlich besser ab als Männer. Für das estnische Außenministerium bedeutet EPI offenbar auch einen Indikator für die West-Orientierung: zwar konnte man den Platz gegenüber dem Vorjahr verbessern, betont das Ministeriums in einer eigenen Pressemitteilung, aber an den ehemals erreichten vierten Platz möchte man doch gerne wieder heran.
Einige Kommentare in den gängigen Internetforen (ERR) wiesen darauf hin, dass in vielen Ländern mit angeblich guten Englisch-Kenntnissen diese angeblichen Sprachkundigen auf den Straßen nicht wiederzufinden seien. Und: auch englisch Muttersprachler weisen darauf hin: sprecht so gut Englisch wie ihr wollt, wenn ihr nur auch euer Estnisch erhaltet!

Samstag, Oktober 31, 2015

Der schönste Mann

Bei den Estinnen und Esten sind eher Präsdent Ilves und Ex-Regierungschef Andrus Ansip beliebt, bei Russen in Estland eher Edgar Savisaar oder Vladimir Putin - soweit, so wenig überraschend. Wer aber ist Märt Avandi? Das estnische Umfrageinstitut EMOR TS fragte nach dem idealen Mann - und dieser war der meist genannte. Außerhalb Estlands vielleicht noch nicht so bekannt, aber das kann sich vielleicht bald ändern.

Freund der Kinder, starker Partner für die Frauen - aktuell
beeindruckend auch für die Estinnen (Abb.: Zorro-Film)
Märt Avandi - der estnische Til Schweiger? In der Pressemeldung zur Umfrage (ERR) ist davon die Rede, die "durchschnittliche estnische Frau" bevorzuge intelligente, gutherzige Männer. Avandi - der Name klingt für Unwissende ein wenig nach Autovermietung oder Italo-Restaurant - könnte aber zumindest auch deutschen Filmfans bald ein Begriff werden. Avandi ist aktuell der Hauptdarsteller in der finnisch-estnischen Koproduktion "Miekkailija" ("Vehkleja"), der bereits im Juni auf dem Filmfest München zu sehen war und im Dezember unter dem Titel "Die Kinder des Fechters" auch in die deutschen Kinos kommt (siehe Trailer).In Deutschland sind der Bayrische Rundfunk und ARTE Partner, also in diesen Programmen wird der Film wohl auch Platz finden. Für Regisseur Klaus Härö ist dieser Film bereits die vierte Nominierung (Vorschlag) Finnlands für den besten ausländischen Film bei den US-Acedemy Awards (Oscars). Auf diese Weise - denn es ist ja der Vorschlag Finnlands - gibt es jetzt zwei estnische Kandidaten: der estnische Vorschlag ist "1944" (siehe Blog).

Märt Avandi spielte bereits auf den Bühnen der Theater in Rakvere, Pärnu und Tallinn, trat auch als Sänger, Moderator und Comedian auf.2009 bekam er am estnischen Schauspielhaus den "Großen Ants" ("Suur Ants") verliehen, ein Preis für die Rolle des Asaf in dem Stück „Because ehk mängud tagahoovis“ ("Because", oder "Spiele im Hinterhof"). 2013 bekam er den Oskar Luts Preis für Humor. Auch Gastgeber der TV-Show "Estland sucht den Superstar" war Avandi schon. Ein viel beschäftigter Schauspieler ist Avandi sowieso. Und glücklich verheiratet ist er auch - mit Ehefrau Liis-Katrin, Tochter des Musikers, Komponisten und Sängers Tõnis Mägi; zur Familie gehören noch Sohn Herman und Tochter Helmi.

Aber was kümmert das die Verehrerinnen, wenn er dennoch in Filmclips sich weiterhin so exklusiv präsentiert wie gegenwärtig als Werbefigur für das Kinderspektakel "Pardiralli" - in einer Badewanne, allein. Mit einem ernsten Hintergrund: Märt und Liis-Katrins erster Sohn Albert starb 2012 an Krebs - das Festival wird zugunsten der Krebsforschung und der Behandlung von Krebskranken veranstaltet. Die Avandis engagieren sich auch für die estnische Vereinigung der Eltern von Krebspatienten (Eesti Vähihaigete Laste Vanemate Liit). Da scheint die Vorbildfunktion doch vielfach verdient, sicher nicht nur in den Augen der estnischen Frauen.

Freitag, Oktober 09, 2015

Nordlichter

Foto: Kalmer Saar/Minupilt.err.ee
Auch Norddeutsche nennen sich ja manchmal selbstbewußt "Nordlichter" - aber was Estland am vergangenen Dienstag an wahren Nordlichtern bzw. Polarlichtern (estn. "Virmalised") aufzubieten hatte, das lohnt den häufigeren Blick zum Himmel.
Ein gewaltiger Sonnensturm habe verursacht, dass es in ganz Estland ähnliche Farbfantasien am Himmel gegeben habe (ERR).

Wer mag da noch behaupten, ein Besuch in Estland lohne sich nur im Sommer?

Die "Naturmaler" des "Looduskalender"
Einige der schönsten Schnappschüsse des Naturphänomens hat auch "Estonian World" zusammengestellt. Wer in Estland vielleicht auf die Idee kommt, die Abendstimmung mit einem kühlen Bierchen zu "veredlen", könnte sich sogar mit "Virmalised-Bier" versorgen.

Oder man macht es wir die Macher des "Looduskalender" (Naturkalender), die zusätzlich zu den Himmelslichtern auch noch mit langzeitbelichteten Fotos experimentieren. 

Freitag, Oktober 02, 2015

Was ist los mit Savisaar?

Nachdem seit Ende der 1980iger Jahre in Estland eigentlich jede und jeder glaubte, Edgar Savisaar, der kantige, stets präsente Mann, der aus der nordwest-estnischen Gegend von Harku stammt, sei für das politische Leben in der kleinen Republik ebenso unvermeidlich wie einst diejenigen von Ungern-Sternberg für das Dorfleben eben dieser Gemeinde. Nun, die Ungern-Sternbergs sind in Deutschland gerade eben in Person einer jungen Nachrichtensprecherin wieder aufgetaucht - während es um die Sympathisanten Saavisaar's fast so einsam wird als hätte sich dieser auf eine Insel (estn. = saar) zurückgezogen. Oder er sei - wie Zyniker es sehen - an den Ort seiner Geburt zurückgekehrt (= ins Gefängnis).

Ausschnitt aus einem Werbespot des "Keskerakond":
Savisaar aller Orten ...
Eigentlich hatten sich die meisten Menschen in Estland bereits damit abgefunden, dass der Ex-Historiker, Philosoph, sozialistischer Parteigenosse, Wirtschaftsminister, Ministerpräsident, Bürgermeister und dreifach getraute Gatte wohl auf absehbare Zeit aus dem die Szene bestimmenden Leben nicht wegzudenken wäre - Rücktritte, Entschuldigungen oder Rückzug ins Privatleben stand eigentlich nicht auf der Agenda von Estlands erstem Edgar.

Nun kommt es aber "knüppeldick", wie man gerne sagt. Einerseits erhebliche Gesundheitsprobleme, zuletzt eine Operation an den Herzkranzgefäßen, und vor einigen Wochen bereits eine schwere Infektion, die letztlich zur Amputation eines Teiles des rechten Beines führte. Savisaar war danach zwar als Stadtbürgermeister zurückgekehrt, aber am 22.September mit der Anklage durch den estnischen Generalstaatsanwalt (Prokuratuur) konfrontiert, der ihn nicht nur in mehreren Korruptionsfällen für ausreichend verdächtig hält, sondern auch seine Entfernung aus dem Bürgermeisteramt fordert. Es soll um Vorgänge aus den Jahren 2014 und 2015 gehen und um Gelder - Summen jenseits der 100.000 Euro - die illegal auf Savisaar's Konto landeten. Ebenso angeklagt sind Ex-Politiker Vello Reiljan sowie fünf weitere estnische Geschäftsleute. Die Vorgänge sind wohl so fundiert, dass einige Medienschlagzeilen bereits lauten: "Savisaar's letzte Schlacht" (bbn).

Parteivorsitzender, Parlamentarier, Bürgermeister: der 65-jährige Politiker, der bereits einige Skandale fast unbeschadet überlebte, galt als ebenso politikbesessen wie rastlos. Nun fürchten aber bereits Parteifreunde der von Savisaar geführten Zentrumspartei (Keskerakond) bereits eine Ausweitung der Anklage wegen Bestechlichkeit auch gegen die Partei selbst.
Allerdings noch wagt sich niemand aus der (parteipolitischen) Deckung: am 29.November steht der Parteikongress der "Zentrumspartei", aber auch von den bisher für wahrscheinlich gehaltenen Nachfolgern, Jüri Ratas oder Kadri Simson, hat niemand bisher eine Kandidatur bekannt gegeben: gegen Savisaar möchte niemand antreten. Und wer weiß: manche hoffen immer noch auf dieselbe Dynamik wie bisher immer: Savisaar kehrte immer zurück.

Auch das Wahlergebnis zum Stadtrat zeigte wie dominant Savisaar bisher war: von etwa 115.000 Wahlberechtigten, die beim vergangenen Mal Zentrumspartei wählten, offenbarten sich allein 40.000 als Savisaar-Unterstützer, 25.000 persönliche Stimmen vereinigte der Politiker auf sich. Edgar Savisaar weist bisher alle Anschuldigungen des Gerichts als völlig unbegründet zurück und erklärte seine Unschuld.

Mittwoch, September 23, 2015

Ehrenrettung zwischen den Fronten?

Elmo Nüganen stellt sich keine leichten Aufgaben. Als Theaterregisseur ist er eigentlich bekannt für seine Adaptionen estnischer und russischer Novellen, seit 1992 Direktor des Stadttheaters Tallinn. Seit seinem Film "Nimed marmortahvlil" (zu deutsch: "Die Namen auf der Marmortafel", Estland 2002) könnte er als Chefkoordinator bei der Verbildlichung estnischer Geschichte gelten. Damals, weit vor dem 100.Jahrestags des Kriegsbeginns, war zumindest die deutsche Öffentlichkeit noch nicht eingestellt auf die estnische Variante des Kriegsausgangs: am Ende stand, nach hartem Ringen und mit dem Glück vom Zusammenbrechen zweier übermächtig scheinender Kriegsgegner profitieren zu können, die Unabhängigkeit Estlands.

Heute ist Nüganen einer der bekanntesten Regisseure Estlands. Aber er ist auch Schauspieler: erst kürzlich wurde "Mandarinen" (Mandariinid) für den Oscar nominiert, eine georgisch/estnische Koproduktion, in dem Nüganen eine Hauptrolle spielt; der Film schaffte es immerhin bis in die Endrunde der letzten fünf. Jetzt könnte Nüganen dieses Ziel als Regisseur erneut anvisieren: sein neuer Film "1944" (deutscher Arbeitstitel "Brüder / Feinde") wurde von Estland für die 88th "Academy Awards" 2016 vorgeschlagen.

Hintergrund des Films sind die Ereignisse bei den "Blauen Bergen" auf der Halbinsel Sõrve (Sworbe) auf Saaremaa (Ösel) gegen Ende des 2.Weltkriegs. Die Halbinsel war Schauplatz erbitterter Schlachten zwischen der deutschen Wehrmacht und der sowjetischen Roten Armee. 1944/45 beim Rückzug der Wehrmacht fanden tausende Soldaten hier den Tod. "Vend vena vastu" - ein Motto des Films: Brüder gegen Brüder.
Esten, die bei den Deutschen mitkämpfen mussten, Esten die auf der Seite der Sowjets standen. In diesem Fall die Geschichte von Karl und Juri. Der Filmtrailer stellt heraus: "Esten, in einem Krieg der anderen." So mögen sich manche Esten gefühlt haben, zwischen den Mühlsteinen der Großmächte, nach damals gerade mal zwei Jahrzehnten eines unabhängigen Landes. Möglichst objektiv wolle der Film das Schicksal diesser Männer darstellen, ihre Hoffnungen, Ziele, ihre Vorlieben und Träume. Kinobesucher dürfen gespannt sein - denn bei anderen filmischen Versuchen gerieten die filmischen Geschichten nur allzu oft entweder zu unscharfer Kriegsheldenverehrung, oder zur knatternden und knallenden Show von Spezialeffekten. Einseitige estnische Rechtfertigung nach dem Motto "unsere Motive waren stets ehrenhaft" wäre sicherlich ebenso fehl am Platze.

Seit Kinostart im Februar 2015 hatten den Film in Estland bereits nach 40 Tagen über 100.000 Menschen gesehen. Ein nach estnischen Maßstäben vergleichbares Debut legten nur Nüganen's "Marmorfafeln" hin. Der deutsche Titel "Brüder - Feinde" klingt noch ein wenig vorläufig und holprig: einfacher und schlichter wäre "feindliche Brüder". Produziert haben den Film die estnische "Taska Film", gegründet von Kristian Taska, Sohn des estnischen Filmemachers Ilmar Taska. Partner ist "MRP Matila Röhr Productions" aus Finnland. Die Realisierung wurde unterstützt vom Estnischen Filminstitut,dem estnischen Verteidigungsministerium, und privaten Sponsoren.

In der Sowjetzeit waren auf Sõrve Raketen stationiert. Ich persönlich hätte mir dieses Thema auch gut als estnisch-russische Koproduktion vorstellen können - aber nein, wie schade. Gegenwärtig sind Vergleiche der Auswüchse des Machtstrebens von Hitler und Stalin leider in Russland wenig in Mode. Einige im Internet eingestellte Ausschnitte bieten Anlaß für Diskussionen (zumindest Fragezeichen): ob Überschriften wie "Waffen SS in action" wirklich den Sinn des Filmes wiedergeben? Solange ich den Film nicht selbst gesehen habe fehlt allerdings die Vergleichsmöglichkeit, ob diese Szenen wirklich aus dem Nüganen-Film stammen. Die Reaktionen der "User" stimmen ebenfalls nachdenklich, zum Beispiel diese: "Whoah! An actual movie that shows how useless Russian actually were and how accurate Germans are."Bewunderer des "MG-42" melden sich dort ebenfalls zu Wort. Ähnliche Ausschnitte werden im Internet auch unter dem Schlagwort "battle on Tannenberg line" publiziert - natürlich nur mit solchen Teilen, die vermeintlich heroisch für die deutsche Seite enden. Von estnischer Seite sind einige "Making-off"-Szenen zu sehen, in denen besonders die Musik herausgestellt wird: Voldemar Kuslap und sein 'Lied von der fernen Heimat' (Laul kaugest kodust). Andere Szenen stammen offenbar von Privatpersonen. Und das Portal "PCGames" stilisiert den Film als "Antikriegsdrama". Auf "FilmTV" schreibt Jessica Neumayer: "Ein Anti-Kriegs-Drama, das vor allem durch seine Emotionalität punktet. Der Gewissenskonflikt der Soldaten, die auf ihre eigenen Landsleute schießen müssen wird so deutlich, dass man ihn fühlen kann. Brüder Feinde ist kein gewöhnlicher Kriegsfilm, weil er von allem etwas hat. Fans der Kriegsfilmreihen kommen auf ihre Kosten, aber ebenso ist der Film sehr gefühlvoll und hat auch ein paar kleine Witze bereit. Also wer etwas Ernsthaftes, zum Nachdenken sehen und dabei gut unterhalten werden möchte, ist hiermit gut bedient."
Im Internet ist die Diskussion um diesen Film offenbar schon ein paar Schritte weiter als in den Kulturspalten der Tageszeitungen.

Anfang Oktober kommt der Film auch in die deutschen Kinos.

Mehr über Elmo Nüganen / FilmTrailer deutsche Fassung

Montag, August 17, 2015

Zwischen Chemie und Alter Liebe: mit den Esten über die Elbe

In der Sommer- und Ferienzeit ist im deutschen Verkehrsfunk eine Durchsage über einen Stau an der Fähre Wischhafen-Glückstadt die Regel - und verkehrstechnisch bezeichnen viele, die nach Schleswig-Holstein wollen, auch den Weg durch Hamburg als "Nadelör".

Neben Hamburg, Bremerhaven, und auch Wilhelmshaven ist Cuxhaven eher als Kurort bekannt: auf der einen Seite das familien- und kinderfreundliche flache Wasser des Nationalparks Wattenmeer, auf der anderen Seite ein wenig Romantik um den Leuchtturm "alte Liebe", einen Helgoland-Anleger, die Reste des früher zu Hamburg gehörenden alten Amerikahafens, ein ziemlich heruntergekommender Fischereihafen, und eine Menge Alterswohnsitze für küstenliebende Rentner.
Diese leicht verschlafene "Halbinsel-Atmosphäre" scheint jetzt ein wenig aufgefrischt zu werden: schon die Investition von SIEMENS in ein Rotorenwerk für Windräder ließ aufhorchen, nun scheint auch eine schnelle Elbquerung wieder zu einem wirtschaftlich attraktiven Modell zu werden. Zwischen Cuxhaven und Brunsbüttel, einer Strecke von (wg. der Strömungsverhältnisse nautisch anspruchsvollen) 17 Seemeilen (ca. 30 km) wird eine neue Fährverbindung eingerichtet. Die Betreiberin, die neu gegründete ELB-LINK-Reederei ist eine Tochter der estnischen "Saaremaa"-Reederei, Christian Schulz der Geschäftsführer. Irritationen entstanden durch Presseberichte, dahinter stehe auch der estnische TALLINK-Konzern - was dieser aber angeblich dementierte, berichtet "Schiffe-und-Kreuzfahrten.de".

Wer Teele Viira noch nicht kennen sollte: vielleicht
braucht jemand in Cuxhaven noch eine
Galionsfigur?
Das hindert die Betreiber jedoch nicht, die Eröffnung in Cuxhaven ausgiebig ESTNISCH zu feiern: auftreten sollen am Mittwoch, den 19.August in Cuxhaven die Folkband "Viirelind", die Akkordeonspielerin Reet Lõugas von der Insel Saaremaa, sowie die Popsängerin Teele Viira und ihre Band (Mai Agan, Ain Agan) (Cuxhavener Nachrichten).
Zur Eröffnung hat sich neben den beiden Wirtschafts- und Verkehrsministern aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen auch Vjatseslav Leedo von der "Saaremaa Laevakompanii" angesagt. Angeblich soll es am Nachmittag auch Ansprachen geben von Arnold Rüütel, Ex-Präsident Estlands, und Viljar Arakas vom Estnischen Unternehmer-Verband. Ein echter Estland-Stützpunkt in Deutschland also - vielleicht bei Erfolg der Fährlinie ausbaubar in Richtung einer Städtepartnerschaft? 

Die Wirtschaftsförderung in Cuxhaven hatte ein Verkehrsaufkommen für die neue Linie von jährlich 265.000 Pkw, 48.000 Lkw sowie 625.000 Passagieren vorausgesagt. Wie es heißt, soll sich besonders die Chemieindustrie in Brunsbüttel über die neue Verbindung freuen - denn die beiden Fährschiffe "Grete" und "Anne-Marie" (Ex "MV Saaremaa" und "MV Muhumaa") werden auch Waren aller Art, wie es heißt sogar Gefahrgut, transportieren. Die Schiffsnamen nehmen angeblich Bezug auf eine Cuxhavenerin, die zwischen 1919 und 1938 bereits einen Fährverkehr zwischen ihrer Heimatstadt und Brunsbüttel betrieben hatte (siehe "SHZ", Cux-Wiki - "Anne-Marie" war damals ein als Fähre umgebauter Fischkutter, die damalige "Grete" ein Krabbenkutter).
24 Fährfahrten pro Tag, das ergibt einen Abstand von 1 1/2 Stunden zwischen den einzelnen Abfahrten. Pro Fähre sollen 160 Pkw (oder 52 Pkw plus 16 LKW) Platz finden, dazu 600 Personen. Ohne Fahrzeug gelangt man schon für 5 Euro auf die andere Elbseite, eine Person plus Fahrrad kommt mit 8 Euro aus - eine Option also auch für Touristen und Reiseradler.
Dennoch: es gibt auch kritische Kommentare. Frank Behling weist in den "Kieler Nachrichten" auf die unterschiedlichen Fahrpreise hin: während man seinen PKW in Glückstadt / Wischhafen für 5 Euro über die Elbe bringen kann, sind es in Cuxhaven 25 Euro. Ob die Verhältnisse dann so bleiben, dass in Wischhafen die Autoschlangen teilweise stundenlang warten müssen und in Cuxhaven "Fährplatz frei" meldet, muss abgewartet werden. Für den Betrieb der Linie Cuxhaven-Brunsbüttel hatte es aber auch andere Interessenten gegeben: die Bremer "Naval Consult Lasse und Pache GmbH" hatte erst Anfang des Jahres ihr Projekt "Elbe-Ferry" vorgestellt. Diese Schiffe sollten mit schadstoffarmem verflüssigtem Erdgas betrieben werden, das Projekt fand jedoch keine Investoren.
Der letzte bisherige Versuch des Bremer Unternehmers Egon Herbert Harms mit seiner "Elb Ferry" dauerte nur 19 Monate, von 1999 bis 2001. Ob es unter estnischer Regie erfolgreicher sein wird? Vielleicht bringen die Esten ja auch noch ein paar "e-Lösungen" (e-Elbe von e-estonia?) mit nach Art der mobilen Cuxhaven-Info bei "Geocatching" - wundern würde mich es nicht. Eine Online-Buchungsmöglichkeit gibt es jedenfalls schon jetzt.

Einladung zur Eröffnung (PDF) / Webseite Elb-Link / Facebookseite Elb-Link/
Elb-Link auf Twitter
Berichte zur Eröffnung auf Estnisch:
meiemaa.ee / Saarte Hääl

Samstag, Juli 18, 2015

Öfter mal nachmessen!

Die Landesgrenze wurde neu vermessen - aber dass
deshalb auch die estnischen Euro-Münzen neu
geprägt werden müssen, bleibt vorerst nur
ein Gerücht ...
Estland wächst um fast 100 qkm! Wie geht das? Es wurde mal genauer nachgemessen. Die zuständigen Landvermessungsbehörden gaben jetzt bekannt, dass bisher auf Vermessungsdaten zurückgegriffen wurde, die mehr als 20 Jahre alt waren. Man hat neu vermessen lassen, und siehe da: nicht mehr 45.227 qm groß soll die Landesfläche Estlands sein, sondern 45.339 qm ist die neue Zahl.
Die meisten Korrepturen habe man bei der genauen Landgrenze die an die Ostsee grenzt vornehmen müssen. Manchmal habe es Ungenauigkeiten von mehr als 50m gegeben.(ERR).

Donnerstag, Juli 09, 2015

Estnische Sorgen

Die Aufnahme von Flüchtlingen in Estland könnte den Nationalstaat und seine Souveränität beeinträchtigen - in Estland braucht es keine zwielichtigen "Pegida"-Versammlungen, um solche Ansichten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen; es war der ehemalige Präsident Arnold Rüütel, der sich in den estnischen Medien so äusserte (zitiert bei ERR).

Es ist ein seltsames Thema. Wer sich in der estnischen Geschichte nicht so gut auskennt, dem wird sicherlich sehr viel erzählt werden über estnische Flüchtlinge in der ganzen Welt, Estland zwischen zwei Diktatoren und dem langen Warten auf die wieder erkämpfte Unabhängigkeit. Sind Estinnen und Esten nur dorthin geflohen wo Menschen mit ähnlicher Lebensauffassung und Traditionen wohnten? Sicher nicht. Wer vor Krieg und Verfolgung flieht, hat wahrscheinlich andere Sorgen.

Regierungschef Taavi Rõivas, Verteidigungsminister
Sven Mikser und Sozialminister Margus Tsahkna
bei einer gemeinsamen Pressekonferenz
zum Flüchtlingsthema
Estnische Politiker allerdings nicht. Sie glauben offenbar fest daran, Flüchtlinge in irgendeiner Art und Weise "sortieren" zu können, bevor sie estnische Grenzen passieren. "Wir würden christliche Migranten bevorzugen", so läßt sich Sozialminister Margus Tsahkna, frisch gewählter Vorsitzender der konservativen IRL, zitieren. Andere Vorbehalte klingen folgerichtig: die Argumente versuchen von eigenen Schwächen abzulenken: "Man müsste den Esten erklären, warum Flüchtlinge eine Krankenversicherung haben, unsere Arbeitslosen aber nicht", meint Ohtuleht.

Ex-Kommunistenführer Rüütel, heute Ehrenvorsitzender der estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE), appelliert offenbar immer noch im Bewußtsein der Unkenntnis in der Welt gegenüber estnischen Verhältnissen: "Wir haben bereits einen der größten Anteile von Nicht-Einheimischen in ganz Europa." EKRE behauptete schon vor Monaten, die estnische Regierung plane eine "Massenimmigration" von bis zu 50.000 Asylanten innerhalb der nächsten fünf Jahre.
Nicht-Einheimische? Da wird eine Doppeldeutigkeit estnischer Politik deutlich: einerseits tut die estnische Regierung alles, um die "Normalität" der estnischen Verhältnisse darzustellen - Russen als gleichberechtigte Mitbürger, entweder auf den Wartelisten zur Einbürgerung, oder als selbstgewählte Sonderlinge mit "Nichtbürgerpass". Alles ganz normal. Aber wenn es um die Belastbarkeit dieser "Normalität" geht, sind gebürtige Russen - egal ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft - plötzlich wieder "Nicht-Einheimische". Und das 25 Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit.

Zukünftige Szenen in Estland? Eine Bildmontage
eines estnischen Bloggers
Aussenministerin Keit Pentus-Rosimannus sucht derweil Rat in Schweden. "Flüchtlingen bei der Jobsuche zu helfen, kann ihre Integration in die Gesellschaft beschleunigen," meint sie vor der Presse, sagt aber nicht dazu, ob damit Jobs in Estland gemeint sind. Im nordestnischen Vao wurde inzwischen ein ganzes Flüchtlingsheim "vorsorglich" geräumt, weil Proteste dagegen befürchtet wurden. Regierungschef Taavi Rõivas, Verteidigungsminister
Sven Mikser und Sozialminister Margus Tsahkna versuchten Bedenken entgegenzutreten: "Das Gerede von einem 'Trojanischen Pferd' durch Flüchtlinge ist absolut haltlos", so der amtliche Regierungston. Es gäbe auch estnische Unternehmer, die gerne bereit wären Flüchtlingen Arbeit zu geben. Die estnische Regierung hatte sich bereits energisch gegen feste Aufnahmequoten von Flüchtlingen ausgesprochen, deutete aber an, eine Aufnahme von 200 Personen innerhalb der nächsten zwei Jahre wäre möglich. Diese Flüchtlinge sollen dann "über ganz Estland verteilt" werden, angeblich um die Bildung von "Ghettos" zu vermeiden (siehe ERR). Ministerpräsident
Rõivas äusserte seine Überzeugung, diese Flüchtlinge würden auch Estnisch lernen wollen.

Freitag, Juni 05, 2015

Kinderbetreuung landesweit ungleich

Auch in Estland machen die Erzieher/innen und Mitarbeiter in Kindergärten und Betreuungseinrichtungen für Estlands Nachwuchs mobil. 16.000 Unterschriften wurden kürzlich gesammelt, um gegen die landesweit sehr ungleiche Bezahlung zu protestieren. Ein eindrucksvolles Beispiel nennt die Nachrichtenagentur ERR: während eine Angestellte eines Kindergartens in dem kleinen südost-estnischen Städtchen Kallaste mit 427 Euro monatlich lediglich knapp über dem vorgeschriebenen Mindestlohn liegt, zahlt man für die gleiche Arbeit auf der Insel Vormsi 1.132 Euro. Reiche estnische Gemeinden würden ihre Mitarbeiter/innen von armen Gemeinden systematisch abwerben, so der Vorwurf. In den Kinderbetreuungseinrichtungen solle dasselbe System wir in estnischen Schulen eingeführt werden, so die Forderung. Dort gilt ein Mindestlohn von brutto 900 Euro.

Insgesamt fehlt es in vielen estnischen Gemeinden an Kindertagesstätten, gerade in größeren Städten wie Tartu und Tallinn. Mit Hilfe des EU-Sozialfonds soll es nun finanzielle Unterstützung für Gemeinden beim Aufbau neuer Einrichtungen geben. Untersuchungen zufolge arbeiten etwa 6.000 Estinnen und Esten nur deshalb nicht, weil sie tagsüber keine Betreuung für ihre Kleinkinder finden können. In 93% der Fälle übernehmen dann die Frauen diese Aufgabe. Estnische Gesetze sehen eigentlich eine Garantie für einen Betreuungsplatz vor sobald das Kind 18 Monate alt ist.

Sonntag, Mai 31, 2015

Neu gemixt: ein "echter Ossi"

Wechsel an der Spitze der estnischen Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond): nicht mehr Sven Mikser, sondern Jevgeni Ossinovski ist jetzt der neue Vorsitzende. Geboren 1986 in Kohtla-Järve, Sohn des gegenwärtig reichsten Mannes in Estland, studierte Ossinovski Philosophie und Politik an der "London School of Economics and Political Science", der University of Warwick und Universität Tartu. Seit 2011 Mitglied des Riigikogu (Estnisches Parlament) mit den Arbeitsschwerpunkten Außen- und Europapolitik sowie Russland, war Ossinovski 2014/15 bis zur Neuwahl des estnischen Parlaments ein knappes Jahr lang Bildungsminister.

Immerhin ist Mikser amtierender Verteidigungsminister und war seit 2010 Parteivorsitzender. Im letzten Moment hatte er vor einer Kampfabstimmung die eigene Kandidatur zurückgezogen, so dass Ossinovski 443 Stimmen erhielt, 39 Delegierte stimmten gegen ihn.
Ist das Selbstverständnis des Jevgeni Ossinovski anders? Dem "Spiegel" sagte er einmal im Interview: "Außerhalb des Landes bin ich Este und Europäer, zu Hause sage ich: Ich bin ein Russisch sprechender Este."
Es heißt Ossinovski strebe gegenwärtig kein Ministeramt an - obwohl er bei der Neubildung der Regierung nicht berücksichtigt wurde. Allerdings hält er den gegenwärtigen Koalitionsvertrag für "überarbeitungsbedürftig" (siehe "Postimees"). Ossinovski hatte auch bei der Wahl des Ministerpräsidenten nicht für Taavi Rõivas gestimmt (ERR).

Interessant dürfte auch sein, ob der Konflikt zwischen Ossinovski und dem frisch ernannten Bildungsminister Jürgen Ligi weitergeht - 2014 musste Ligi zurücktreten, nachdem in den sozialen Netzwerken abschätzige Äusserungen Ligi's über Ossinovski bekannt geworden waren. "Die gegenwärtige Koalition wird keine vier Jahre überstehen" - diese Äußerung stammt ebenfalls von Jevgeni Ossinovski (ERR). Estnische Medien spekulieren außerdem darüber, ob sich die Sozialdemokraten nun einer Zusammenarbeit mit der Zentrumspartei nähern könnten, nach dem deren Vorsitzender Savisaar schon seit Wochen im Krankenhaus liegt und sich hier eventuell ebenfalls ein Wechsel an der Parteispitze abzeichnet.

Auch bei der gegenwärtigen Koalitionspartei "Isamaa ja Res Publica Liit" (IRL - "Pro-Patria- und Res-Publica-Union") stehen Änderungen an, die ihren Parteikongress am 6.Juni abhalten wird. Der bisherige Parteichef Urmas Reinsalu kandiert nicht für die Wiederwahl.

Dienstag, April 21, 2015

Kein Brot mehr für den Präsidenten

Kennen Sie Merry Bullock? Hmm, vielleicht hätten Sie sich auch für diese Dame nicht zu interessieren brauchen. Vielleicht wären ihre Fachkenntnisse auf die Zirkel der international vernetzten Psychologen beschränkt geblieben, und nur bei genauerer Betrachtung wäre vielleicht zumindest aufgefallen, dass sie auch schon mal in Estland gearbeitet hat (siehe Virumaa.ee).

Ganz verschwinden aus dem Blickfeld der estnischen
Öffentichkeit wird Evelin Ilves (ex Int-Lambot) sicher auch in
Zukunft nicht
"No time for honeymoon", sagte kürzlich Präsident Toomas Hendrik Ilves, und meinte damit, etwas launisch - wie so oft - nicht sich selbst, sondern die neue Regierung. Nun aber lässt Herr Präsident sich scheiden - und die offiziellen Stellen sehen sich genötigt, neben all dem Klatsch und Tratsch, den die Sache inzwischen schon erzeugt hat, eine offizielle Pressemitteilung herauszugeben. "Ich bin bereit für den Krieg," - auch ein Zitat des Präsidenten, allerdings meinte er wohl damit nicht seine Frau. Am 30.April trete die Scheidung von Evelin in Kraft, verkündet die Nachrichtenagentur ERR. Nicht ohne hinzuzufügen, dass neben der gemeinsamen Tochter Kadri Keiu Ilves (geb. 2003) auch noch zwei weitere Präsidenten-Kinder existieren: Luukas Kristjan (geb. 1987) and Juulia Kristiine (geb. 1992), beide aus erster Ehe von Toomas Hendrik mit eben dieser US-Psychologin Merry Bullock.

Das letzte offizielle gemeinsame Fotos? Herausgegeben
von der Pressestelle des Präsidenten, zum
estnischen Nationalfeiertag am 24.Februar
. Ohne Fliege,
ohne Händedruck
Da blicke noch einer durch - das estnische Leben bei Hofe scheint in Estland momentan nicht ganz unkompliziert zu sein. Oder anders gesehen: beide Frauen hat Herr Ilves offenbar während seiner  außenpolitischer Tätigkeit kennengelernt.

Bisher stellte das Präsidentenbüro, neben der Arbeit des Präsidenten, auch die Aktivitäten von Evelin Ilves ausführlich vor - zum Beispiel mit eigener Webseite.Vielleicht kehrt sie ja in die Werbebranche zurück - schon früher als Mitarbeiterin von "Enterprise Estonia" war sie mit beteiligt an der estnischen Imagewerbung im In- und Ausland (Beispiele: Evelins Brotrezepte, oder auch ihre Teilnahme am Berliner Inline-Marathon 2008). Im August 2014 hatte Evelin Ilves in der estnischen Presse Aufsehen erregt, als Fotos auftauchten, die sie nach einer Party in inniger Umarmung mit einem jungen Franzosen zeigten. „So ist das Leben. Du weißt nie, was geschehen wird. Und das, was geschieht, könnte etwas sein, das du nie erwartet hättest.“ (Zitat Daniela Schadt, deutsche First-Lady, im Gespräch mit Evelin Ilves vor zwei Jahren - FOCUS)

Der eifrige Twitter-Nutzer Toomas Hendrik Ilves ("The man who made E-Estonia" - schrieb der Guardian) war 2011 mit 73 von 101 Stimmen für eine zweite Amtszeit als Präsident Estlands gewählt worden. Ilves wurde in Schweden geboren, studierte in den USA Psychologie und arbeitete für "Radio Free Europe" in München, bevor er 1993 in den diplomatischen Dienst Estlands eintrat (und seine US-Staatsbürgerschaft aufgab). Seine USA-Kenntnisse wurden auch schon mal so beschrieben: "Er kannte Bruce Springsteen, bevor dieser sein erstes Album veröffentlichte." (Observer) Seine Amtszeit als Präsident läuft 2016 aus.

Dienstag, März 31, 2015

Keime, Koalition und Stühlerücken

Ein ganzer Monat ist verstrichen seit dem Tag der estnischen Parlamentswahlen. "Regierungspartei gewinnt die Wahl", so lautete das Resumee vieler Medien (siehe Spiegel, Die Presse, NOZ, Merkur, WDR). Aufmerksamkeit zog auch der erneut erhöhte Anteil derjenigen auf sich, die "per Internet", (E-Voting) ihre Stimme abgegeben haben (Heise.de, Finanztreff). Und einige Tage später kam noch die Feststellung: "Regierung verliert Mehrheit" (FAZ, Süddeutsche, Stern, Kurier). Gestern fand bereits die erste Stitzung des neu gewählten Parlaments statt - aber wie die Regierung genau aussehen wird, und mit welchem Koalitionsprogramm sie antreten will ist noch immer unklar. Noch bevor die neue Regierung gebildet werden kann, hat sich in Estland bereits politisch sehr viel verändert.

Die Veränderung liegt allerdings nicht nur in zähen Koalitionsverhandlungen. Fast ebenso einschneidend war eine schwere Krankheit des Tallinner Bürgermeisters und Vorsitzendem der Zentrumspartei, Edgar Savisaar. Die Pressestelle der Uniklinik Tartu sprach von einer "Infektion" (mit Streptokokken), und als Folge musste Savisaar ein Bein teilweise amputiert werden (ERR). Die Zentrumspartei hatte bei den Wahlen am 1.März 24,8% der Stimmen und 27 Sitze errungen - einer davon ging mit einer Rekordzahl von 25.057 Stimmen an Savisaar. Zum Vergleich: Regierungschef Taavi Rõivas vereinigte 15.881 Stimmen auf sich (siehe estn. Wahlkomitee).
Nun wird bereits darüber spekuliert was nach einem möglichen Rückzug Savisaars aus der Politik passieren könnte.

Möglicherweise das "neue Gesicht" der estnischen
Zentrumspartei: Kadri Simson, die an der Uni Tartu
und am University College London studiert hat und sich auf
ihrer Facebook-Seite als Rolling-Stones- wie auch
Paavo-Järvi-Fan ausgibt
Bisher war die Frage einer möglichen Erhöhung oder Abstufung der Einkommenssteuer am meisten als Hinderungsgrund für eine Einigung auf eine neue Regierungskoalition genannt worden. Die Reformpartei will die Steuern lieber senken und dafür das Kindergeld erhöhen.

Drei Wochen lang mühte sich Taavi Rõivas (Reformpartei), vier Parteien in die Gespräche einzubeziehen: die beiden bisher regierenden Reformpartei und Sozialdemokraten, die konservative IRL (Pro-Patria- und Res-Publica-Union), und auch die neu gebildete "Freiheitspartei" (Eesti Vabaerakond). Sollten sich bisher drei als unausweichlich unverzichtbare Partner der Reformpartei gesehen haben - denn die Zentrumspartei schlossen ja alle als Regierungspartner aus - so könnte sich das nun, mit möglicherweise neuer Führung der Zentrumspartei auch ändern. Einerseits könnten sich mögliche Partner der Reformpartei veranlasst sehen, für ihre "Treue" mehr zu fordern. Andererseits steht die estnische Parteienlandschaft möglicherweise an der Schwelle zu unerwarteter Flexibilität und Veränderung.

Steht diese Dame möglicherweise bald schon "zwischen"
diesen beiden Herrn?
(vlnr: Taavi Rõivas, Kadri Simson, Sven Mikser)
Kurzfristig am meisten Profit zieht offenbar die neue (von der IRL abgespaltene) "Freiheitspartei", deren Ausrichtung ja ohnehin noch mit vielen Fragezeichen versehen werden muss. Neueste Umfragen zufolge sehen die Partei bei 12% (ERR). Ginge es nur nach Umfragen - dann sahen auch schon mal angeblich 78% der Befragten die Freiheitspartei als Teil der neuen Regierung (was nun wahrscheinlich ja nicht eintritt). 

Ein Rücktritt von Savisaar könnte aber auch zur Bildung einer neuen, möglicherweise radikal pro-russischen Partei führen, meinen einige. Andere spekulieren bereits jetzt über ein mögliches vorzeitiges Ende der Koalition, die jetzt erst noch gebildet werden muss. Die Zentrumspartei dem gegenüber nominierte Franktionschefin Kadri Simson als vorläufige Parteichefin - eine Idee, die einige Parteimitglieder schon vor den Wahlen gerne vollzogen hätten.

Montag, März 02, 2015

Auftrag für Drei

Kurz nach Mitternacht (estnischer Zeit) steht das vorläufige amtliche Ergebnis der Parlamentswahlen fest:

Reformpartei (Eesti Reformierakond) - 27,7% - 30 Sitze (- 3)
Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) - 24,8% - 27 Sitze (+1)
Sozialdemokraten (Sotsiaaldemokraatlik Erakond) - 15,2% - 15 Sitze (- 4)
Vaterlandspartei / Res Publika (Erakond Isamaa ja Res Publica Liit IRL) - 13,7% - 14 Sitze (- 9)
Freie Partei (Eesti Vabaerakond) - 8,7% - 8 Sitze (/ )
Konservative Volkspartei (Eesti Konservatiivne Rahvaerakond) - 8,1% - 7 Sitze ( / )

Entgegen einiger Voraussagen schaffte es damit die Reformpartei von Regierungschef Taavi Rõivas auch stärkste Partei zu werden. Allerdings schaffen es Sozialdemokraten und Reformpartei nicht zu zweit, die notwendige Stimmenmehrheit von mindestens 51 Sitzen zusammenzubekommen. Eine Drei-Parteienkoalition ist also wahrscheinlich, offen bleibt aber, welche. Rõivas schloss in einer ersten Reaktion nur eine Koalition mit der Zentrumspartei aus.
Die Wahlbeteiligung lag bei 64.2%, damit ungefähr gleich hoch wie 2011 (63,5%).
Zwei neue Parteien schafften den Sprung über die 5%-Hürde: die "Freie Partei", erst kürzlich gegründet von Andres Herkel, Ex-Mitglied der IRL, und die rechtspopulistische "Konservative Volskpartei" und deren bekanntesten Mitgliedern Mart und Martin Helme, die mit EU-Kritik und Sprüchen gegen Einwanderer zu punkten versuchen.
 
19,6% der abgegebenen Stimmen wurden elktronisch per E-Voting abgegeben. 

Auch die Stimmverteilung nur des E-Votings wurde gesondert bekannt gegeben: dabei ist vor allem die Abneigung der Wähler der Zentrumspartei gegenüber der elektronischen Stimmabgabe augenfällig.

E-VOTING:  Reform Partei 37.5%   /   IRL 17.2%  /  Sozialdemokraten 16.9%   / Freie Partei 12.0%
Zentrumspartei 7.7%   /  Konservative Volkspartei 6.9%

Mandatsverteilung im neuen estnischen Parlament

Estnische Wahlkommission

Sonntag, Februar 22, 2015

Hoffen auf den doppelten Champagner

Nie wurde in Estland gespannter ein festlicher Abend der US-amerikanischen "Academy of Motion Picture Arts and Sciences" erwartet wie am kommenden Wochenende. Wenn nach estnischer Zeitrechnung in der Nacht von Sonntag auf Montag die diesjährigen OSCARS vergeben werden, könnten die Estinnen und Esten im Falle positiver Nachrichten gleich die nächste Nacht zum 24.2. weiter durchmachen, wenn der 97.Jahrestag der estnischen Unabhängigkeitserklärung gefeiert wird.

Es steht zu vermuten, dass neben einigen Fläschchen Champagner auch etliche Kilo Mandarinen bereitgestellt werden, denn seit der gemeinsame Film des Georgiers Sasa Uruschadse mit dem estnischen Co-Produzent Ivo Felt im Bereich "bester ausländischer Film" für einen Oskar nominiert wurde, befindet sich fast ganz Estland in gespannter Erwartung, auch die Facebookseite zum Film hat bereits über 6000 Fans. "Zum ersten Mal hat es ein kleines Land mit 1,3 Millionen Einwohnern geschafft für einen Oskar nominiert zu werden!" jubelt die estnische Presse (ERR). Es scheint sehr wahrscheinlich, dass Sonntagnacht eine Menge privater Treffen organisiert werden und viele Estinnen und Esten bei einer Direktübertragung aus L.A. mitfiebern.

Allerdings schätzen die Filmproduzenten selbst ihre Chancen als eher gering ein. Der Film (engl. Titel "Tangerines") hatte bisher noch keinen Vertrieb in den USA gefunden, ist dort also eher unbekannt. Erst vor wenigen Tagen sicherte sich "Samuel Goldwyn Films" die US-Rechte. Allerdings lief "Mandariinid" schon auf etwa 30 internationalen Festivals, und räumte Preise ab unter anderem in Warschau und Mannheim/Heidelberg, dazu eine Golden Globe Nominierung.

Einiges an Symbolik wurde schon in den Film hineingedeutet: von "Esten als Konfliktmediatoren"(ERR) bis "Mandarinen als Friedenssymbol". Sehr zeitaufwändig war die Produktion nicht: zwei Wochen soll Uruschadse für das Drehbuchschreiben benötigt haben, die Dreharbeiten dauerten ganze zwei Monate. 60% der Projektkosten in Höhe von 650.000 Euro kamen aus estnischen Fördertöpfen. Zusätzliches Geld floss in eine weitere PR-Kampagne, begleitend zur Oskar-Nominierung. Wenigstens als erster der drei baltischen Staaten möchte Estland nun einen OSKAR für sich verbuchen.

Hier ein letztes Interview - natürlich per "Skype" nach Estland übertragen - der "Mandariinid-Helden", live aus L.A., kurz vor der Preisverleihung. 22.495 Euro hat die estnische Regierung (als Kostenzuschuß) allein dafür bereit gestellt, dass die Filmemacher bei der OSKAR-Verleihung dabei sein können. Vielleicht bringts Sympathie-Punkte für die Parlamentswahl? Abwarten.

Freitag, Februar 20, 2015

Geburtstag vorfeiern

Eigentlich sollten Gratulationen ja nicht vor dem Festtag erfolgen - Estland bildet auch hier eine Ausnahme. Drei Jahre dauert es noch, bis der estnische Staat 100 Jahre alt wird - 2018 ist es soweit. Aber schon jetzt wurde in Tallinn eine regierungsamtliche Geburtstags-Jubelseite vorgestellt: >EV100.ee<.

Vielleicht soll es vom gegenwärtig laufenden Wahlkampf ablenken? Schon jetzt das Highlight der kommenden Wahlperiode announcieren? Und nicht nur das: die Feiern sollen sich keinesfalls auf das eine Jahr beschränken, sondern man kündigt Aktivitäten von April 2017 bis Februar 2020 an. Das reicht vom Pflanzen von 100 Eichen bis zu "Uma Pidu", dem Festival der Region Võro. Die verlängerte Zeitperiode weist dabei auf zwei weitere historische Ereignisse hin: die Vereinigung aller Teile Estlands (zunächst zu einer "Provinz"), und den 100.Jahrestags des Friedens von Tartu am 2.Februar 2020.

Samstag, Februar 07, 2015

In Tallinn fährt Frau Tramm

Anna, Annika, Eerika, Elise, Jaanika, Kadri, Karmen, Katariina, Koidula, Lydia, Linda, Maarika, Maria, Moonika, Paula, Teele, Tiina, Triin and Viivika - vielleicht die beliebesten Frauennamen Estlands, demnächst aber auch die Namen der neuen Straßenbahnen in Estlands Hauptstadt Tallinn (ERR). 16 neue, von der spanischen CAF ( Construcciones y Axiliar de Ferrocariles) gebaute Niederflurbahnen mit 78 Sitzplätzen leistet sich Tallinn im Jahr 2015, plus vier weitere 2016.

Die Tallinner Verkehrsgesellschaft Tallinna Linnatranspordi AS hatte per Umfrage die besten Namen gesucht und Preise dafür ausgesetzt. Das in der vergangenen Woche in Tallinn vorgestellte Modell "Urbos AXL" ist für die Spurbreite von 1067mm konzipiert, soll speziell für die klimatischen Bedingungen Estlands konzipiert sein (bis Temperaturen von -40°) und ist in der Lage, die Bremsenergie zur Verwendung beim Anfahren zu speichern.
Das deutsch-schweizer Unternehmen Stadler Bussnang AG/Stadler Pankow GmbH hatte ebenfalls ein Angebot abgegeben, die estnischen Hauptstädter zogen aber die Spanier vor.

Freitag, Februar 06, 2015

Wahl-o-mat auf Estnisch

Wer sich für Parteien in Deutschland interessiert, aber Schwierigkeiten beim Lesen der teilweise langen Wahl- und Parteiprogramme hat, dem werden schon seit einiger Zeit die sogenannten "Wahl-o-mat"en als Hilfestellung angeboten. Dabei werden zentrale Aussagen der politischen Diskussion zur Beantwortung gestellt, ohne das zunächst die Parteien genannt werden, die sich dafür oder dagegen ausgesprochen haben. Nach Beantwortung aller Fragen bekommt der/die Teilnehmer/in dann eine Analyse, wie stark die eigenen Präferenzen mit denen der zur Wahl stehenden Parteien übereinstimmt.

Etwas Ähnliches haben jetzt die estnische Rundfunk- und Fernsehgesellschaft (ERR) zusammen mit der Universität Tartu zusammengestellt: den VALIJA-KOMPASS. 30 Fragen wurden zusammengestellt, und wer sie beantwortet, soll etwas mehr Orientierung bekommen zu den zur Wahl stehenden Parteien. Bereits 2011 hatte es Ähnliches gegeben: angeblich nutzen damals 110.000 Menschen das Angebot.

Montag, Januar 26, 2015

E-Jubiläum

Trotz anhaltender Kritik blickt das estnische Wahlamt stolz auf ein Jubiläum: bereits seit 10 Jahren kann in Estland per Internet gewählt werden. Eine neue an der Universität Tartu angefertigte Studie weist aus, dass E-Wählerinnen und -Wähler aus allen gesellschaftlichen Schichten kommen: einen "typischen Internetwähler" gäbe es nicht, sagt die Studie. 30% aller Wahlberechtigten werden voraussichtlich bei den kommenden Wahlen ihre Stimme elektronisch abgeben (siehe ERR).

Elektronische Wählersuche
Bald wieder in der Praxis:
Estnisches E-Voting
Kristjan Vassil und Mihkel Solvak, Politikwissenschaftler und Autoren der Studie, beschäftigen sich bereits seit längerem mit dem Thema des E-Votings. So war Vassil Autor eines Thesenpapiers zur Frage, ob Wahlen in Estland anders ausgehen würde, wenn es keine Internetwahlen gäbe. Ihr Untersuchungsergebnisse sagen unter anderem auch, dass Anhänger der "Zentrumspartei" (Keskerakond) verhältnismäßig wenig per Internet abstimmen, dagegen Anhänger von "Reformpartei"(Eesti Reformierakond) und "Pro Patria / Res Publica" (Erakond Isamaa ja Res Publica Liit) vergleichweise aktiv beim E-Voting dabei sind. Dennoch sei nur durch das Bereitstellen von Wahlmöglichkeiten keine Änderung im Wählerverhalten festzustellen - manche wechseln eben eher die Methode, wie sie abstimmen, als ihre politische Präferenz.
Die Zentrumspartei allerdings verstand diese Untersuchungsergebnisse offenbar anders, und begab sich zweitweise in Wahlkämpfen auch schon mal auf die Seite der E-Voting-Gegner.

Jung, neureich, Internet? 
Zu Anfang, bei den Wahlen 2005, schien das noch anders zu sein. 9.800 Menschen beteiligten sich damals per Internet, und die Annahme schien zu stimmen, dass es eher junge, gut ausgebildete und gut verdienende Leute waren. Zumeist Männer. E-Voting, nur ein Spielzeug der Eliten? Inzwischen ist aber klar, dass es zwar bei den Parteien unterschiedlich viele E-Voting-Fans gibt, aber seit den Wahlen 2009 sind E-Wähler in allen Gesellschaftsschichten zu finden, auf dem Dorf wie in der Stadt, bei Alten wie bei Jungen. "Heute könnten wir nicht einmal vorhersagen, wer am E-Voting teilnehmen wird und wer nicht," sagt Solvak. Allerdings steige die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme mit der Entfernung zwischen Wohnort und Wahlkabine, so die Wissenschaftler. Untersuchungen zufolge leben in Estland 70% der Wahlberechtigen in einer Entfernung von nicht weiter als eine halbe Stunde Lauf-Entfernung zum Wahllokal.Bei den letzten Wahlen war bereits jeder Dritte ein E-Wähler (2005 jeder 50ste). Wenn ein Este oder eine Estin erst einmal beim E-Voting teilgenommen habe steige die Wahrscheinlichkeit, dass der Weg zum Wahllokal beim nächsten Mal eingespart bleibe. Zudem steigere die bloße Möglichkeit der Kontrolle, ob die eigene Stimme auch gezählt worden sei, das Vertrauen ins System, meinen zumindest Solvak und Vassil.

Gegner des E-Voting in Estland habe sich auch längst positioniert. Eine Kritikergruppe unter Beteiligung des US-Wissenschaftlers J. Alex Halderman unterhält eine eigene Internetseite, und präsentierte 2014 eigene Untersuchungen, die beweisen sollen das estnische System sei manipulierbar. Auch in der deutschsprachigen Fachpresse wurde das diskutiert (siehe "Heise online"), auch die estnische Wahlkommission verfasste eine Stellungnahme dazu. Wie das estnische Wahlamt betonte, nehme man jede Kritik sehr ernst. Man sei aber selbst der Auffassung beim E-Voting inzwischen ein höheres Maß an Sicherheit erreicht zu haben als bei Wahlen mit Papier. An der kritischen Studie seien keine neuen Arten möglicher Bedrohungen festgestellt worden, und zudem sei es nicht realistisch, dass die beschriebenen Bedrohungen realistisch von jemand durchgeführt werden könnten. Selbst von der Webseite der Kritiker könne nicht entnommen werden, wo konkret das estnische System Schwächen habe. Auch die Veröffentlichung der kritischen Statements ausgerechnet zwei Tage vor den Europawahlen habe keinen Grund nahegelegt, diese Wahlen abzusagen.
Ein Slogan der E-Voting-Gegner
von "www.papierwahl.at"
Anto Veldre, IT-Experte der Behörde die das estnische Informationssystem organisiert (RIA), rechnet die Kritiker daher auch eher zu den "Experten für Public Relation", da sie nur auf den Effekt und die Internet-Klicks aus seien, die ihnen eine möglichst fundamentale Kritik des estnischen Systems bringt. "Der Beweis dafür, dass es sich um eine PR-Strategie handelt liegt darin, wenn sie versuchen zu behaupten, eben ALLES sei kaputt, während sie den Betreibern keinerlei technische Information liefern dazu." Und Karoliina Raudsepp ergänzt seitens des estnischen Ministeriums für Wirtschaft und Kommunikation: "Falls es Angriffe auf das estnische E-Voting-System geben wird, dann werden sie wahrscheinlich eher von der politischen Seite kommen als von der technischen."

Reparaturarbeiten am estnischen Image
Nun ja, auch die estnischen Regierungsbehörden sind PR-Spezialisten. Für die estnische Tourismuswerbung scheint die Sache einfach: insgesamt sei allein durch die E-Wähler der Parlamentswahlen von 2011 insgesamt soviel Zeit eingespart worden dass es 11.000 Arbeitstagen entspreche, oder umgerechnet 504.000 Euro an Mindestlöhnen. Demokratie als Zeitersparnis? Wählen Sie per Internet, und Sie sparen Zeit sich mit Politik zu beschäftigen? Hmm - ein Vorbild am deutschen System mit Zehntausenden freiwilliger Wahlhelfer/innen will sich Estland offenbar nicht nehmen.
Leider wurde aber die Wahlbeteiligung durch die elektronischen Neuerungen nicht gesteigert - sagt zum Beispiel der in den USA tätige Politologe Meelis Kitsing, der für das "Journal of Politics" auch Matthew Hindman's Buch "Die Mythen der digitalen Demokratie" rezensierte. Kitsing meint unter anderem, dass der Theorie der Befürworter zufolge durch den Einsatz des Internets die Wahlbeteiligung um 10-15% steigen sollte - dem wiederspreche aber die Realität.

Neuigkeiten zur Internetsicherheit in Estland gibt es (englisch) auch hier:

Estonian Cyber Security News Aggregator

Sonntag, Januar 25, 2015

Mittwoch, Januar 21, 2015

Wahlkampf-Ende, freundlich gleichgültig

Beliebt bei estnischen Politikern:
blaue Krawatten

Im Windschatten internationaler Schlagzeilen der baltischen Nachbarn steuert Estland auf die am 1.März stattfindenden Parlamentswahlen zu. Während die Agenda der europäischen Nachbarn gegenwärtig von der lettischen EU-Präsidentschaft bestimmt wird, während die Wirtschaft als Neuigkeitsfaktor dieser Region allenfalls noch die Euro-Einführung Litauens zur Kenntnis nimmt, ist der große Rest der Meldungen in den Medien vom Ukraine-Konflikt bestimmt. Und in diese Richtung wird auch fündig, war nach estnischen Wahlkampfthemen sucht. "Wir sind keine dumpfen Ost-Untermenschen"! Das verkündete der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves der Zeitung "Die Welt", die offenbar gern diese Funktion der "Präsidenten-Hauspostille" übernimmt und vor Bedrohung aus Russland warnt. Aber die Ilves-Allergie, zu den "dummen Osteuropäern" gezählt werden zu können, ist nicht neu: bereits 2012 erregte er mit ähnlichen Anschuldigungen Aufsehen (siehe "Die Presse")

Die "estnische Angst" gegen die "Russland-Versteher" - wer sich auf diese "Alternativlosigkeit" einlässt, und Estland nur als Mosaiksteinchen russischer Machtpolitik versteht (oder wahlweise auch der CIA oder NSA), dem kann natürlich die estnische Innenpolitik aus dem Blickfeld geraten. Wer Tallinn in etwa geographisch-politisch heute dort einordnet, wo Berlin zu Zeiten des Kalten Kriegs war, der scheint aus Sicht estnischer Präsidentenaugen der einzige Realist heute zu sein. Schon 2011 meinte Ilves, nach der Art der Beziehungen Estlands zu Russland gefragt, dies mit "freundliche Gleichgültigkeit" benennen zu können (siehe "Die Presse").

Tere, Edgar! Am coolen Image muss noch
gearbeitet werden ...
Darüber kann man denken was man will - aber gibt für Estinnen und Esten auch andere Themen? Nach dem Wechsel von Ansip auf Rõivas bleibt das Spitzenpersonal in diesem Wahlkampf dasselbe: Taavi Rõivas führt die Wahlliste der Reformpartei an, bei den Sozialdemokraten bleibt es Sven Mikser.
Der inzwischen 64-jährige Edgar Savisaar, Bürgermeister von Tallinn, ist zwar inzwischen von seiner Frau geschieden, nicht aber von seiner (Zentrums-)Partei: er ist erneut Spitzenkandidat. (Seine Frau Vilja allerdings verließ auch die Partei - und wechselte 2013 ausgerechnet zur Reformpartei).
Auch Anschuldigungen, Savisaar habe geheime Konten in der Schweiz, konnten ihn (politisch) bisher nicht erschüttern.Seine Fans werden vielleicht längst ein 2013 veröffentlichtes Buch "Die Wahrheit über Estland" zu Hause stehen haben. Aufsehen erregte der Inhalt aber allenfalls bei den lettischen Nachbarn, denen Savisaar vorwarf ihre Volkszählung manipuliert zu haben, um statistisch in der Bevölkerungszahl über 2 Millionen bleiben zu können.
Sozis tragen
grau

Für weit weniger Aufsehen sorgt Regierungschef Taavi Rõivas."Ein neues nordisches Land" soll Estland werden, so Rõivas. "Besser geschützt, wohlhabend, wachsend" - so seine Vorstellung. Ist das neu? Nicht gerade ein Visionär. Oder ebenfalls beeinflusst von seiner Frau - einer Popsängerin (Luisa Värk). Immerhin sind heute, nur 12 Monate nachdem Rõivas ziemlich plötzlich als Nachfolger von Andrus Ansip ins Amt gehoben wurde, kaum Stimmen zu vernehmen die meinen, er sei die falsche Person dafür gewesen - bis zum Wahlabend am 1.März zumindest. Jürgen Ligi, Parteifreund und Ex-Finanzminister, meint sich zumindest vom derzeitigen Koalitionspartner, den Sozialdemokraten, abgrenzen zu müssen: "Wir brauchen keine sozialdemokratischen Werte, wir wollen innovativ sein." Und weiter: "Es gibt auch eine Menge negativer Aspekte in den nordischen Ländern." Konkret gemeint ist damit unter anderem eine progressive Besteuerung der Einkommen - ein Vorschlag, der immer mal wieder von der Opposition eingebracht wird. Für einen Mindestlohn von 1000 Euro - eine Verdreifachung des gegenwärtigen Niveaus - sammelte die Zentrumspartei jetzt Unterschriften. Populismus oder Wagemut?

Sven Mikser war mal Opposition - jetzt ist er Verteidigungsminister, also momentan Aufrüstungsminister. Immerhin - mit den Augen Ligis gesehen - Sozialdemokrat. Angesichts der viel beschworenen Bedrohungslage ist es wohl auch gut, für die Verteidigung des Vaterlandes zuständig zu sein. "Auf Einkaufstour bei den Waffenhändlern", das schrieb kürzlich das Luxemburger "Tageblatt" über ihn.

Da könnte der Wahlkampf doch jetzt mal losgehen. Doch halt: er endet gerade eben. Dem reformierten estnischen Wahlgesetz zufolge darf es 40 Tage vor der Wahl keine Wahlwerbung mehr im öffentlichen Raum, an Fahrzeugen oder Gebäuden geben. Wer dagegen verstößt, muss mit Strafen zwischen 400 und 1300 Euro rechnen. Am 23.Januar wird die estnische Wahlkommission die endgültigen Wahllisten herausgeben: 876 Kandidatinnen und Kandidaten für 101 Parlamentssitze.