Beliebt bei estnischen Politikern: blaue Krawatten |
Im Windschatten internationaler Schlagzeilen der baltischen Nachbarn steuert Estland auf die am 1.März stattfindenden Parlamentswahlen zu. Während die Agenda der europäischen Nachbarn gegenwärtig von der lettischen EU-Präsidentschaft bestimmt wird, während die Wirtschaft als Neuigkeitsfaktor dieser Region allenfalls noch die Euro-Einführung Litauens zur Kenntnis nimmt, ist der große Rest der Meldungen in den Medien vom Ukraine-Konflikt bestimmt. Und in diese Richtung wird auch fündig, war nach estnischen Wahlkampfthemen sucht. "Wir sind keine dumpfen Ost-Untermenschen"! Das verkündete der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves der Zeitung "Die Welt", die offenbar gern diese Funktion der "Präsidenten-Hauspostille" übernimmt und vor Bedrohung aus Russland warnt. Aber die Ilves-Allergie, zu den "dummen Osteuropäern" gezählt werden zu können, ist nicht neu: bereits 2012 erregte er mit ähnlichen Anschuldigungen Aufsehen (siehe "Die Presse")
Die "estnische Angst" gegen die "Russland-Versteher" - wer sich auf diese "Alternativlosigkeit" einlässt, und Estland nur als Mosaiksteinchen russischer Machtpolitik versteht (oder wahlweise auch der CIA oder NSA), dem kann natürlich die estnische Innenpolitik aus dem Blickfeld geraten. Wer Tallinn in etwa geographisch-politisch heute dort einordnet, wo Berlin zu Zeiten des Kalten Kriegs war, der scheint aus Sicht estnischer Präsidentenaugen der einzige Realist heute zu sein. Schon 2011 meinte Ilves, nach der Art der Beziehungen Estlands zu Russland gefragt, dies mit "freundliche Gleichgültigkeit" benennen zu können (siehe "Die Presse").
Tere, Edgar! Am coolen Image muss noch gearbeitet werden ... |
Der inzwischen 64-jährige Edgar Savisaar, Bürgermeister von Tallinn, ist zwar inzwischen von seiner Frau geschieden, nicht aber von seiner (Zentrums-)Partei: er ist erneut Spitzenkandidat. (Seine Frau Vilja allerdings verließ auch die Partei - und wechselte 2013 ausgerechnet zur Reformpartei).
Auch Anschuldigungen, Savisaar habe geheime Konten in der Schweiz, konnten ihn (politisch) bisher nicht erschüttern.Seine Fans werden vielleicht längst ein 2013 veröffentlichtes Buch "Die Wahrheit über Estland" zu Hause stehen haben. Aufsehen erregte der Inhalt aber allenfalls bei den lettischen Nachbarn, denen Savisaar vorwarf ihre Volkszählung manipuliert zu haben, um statistisch in der Bevölkerungszahl über 2 Millionen bleiben zu können.
Sozis tragen grau |
Für weit weniger Aufsehen sorgt Regierungschef Taavi Rõivas."Ein neues nordisches Land" soll Estland werden, so Rõivas. "Besser geschützt, wohlhabend, wachsend" - so seine Vorstellung. Ist das neu? Nicht gerade ein Visionär. Oder ebenfalls beeinflusst von seiner Frau - einer Popsängerin (Luisa Värk). Immerhin sind heute, nur 12 Monate nachdem Rõivas ziemlich plötzlich als Nachfolger von Andrus Ansip ins Amt gehoben wurde, kaum Stimmen zu vernehmen die meinen, er sei die falsche Person dafür gewesen - bis zum Wahlabend am 1.März zumindest. Jürgen Ligi, Parteifreund und Ex-Finanzminister, meint sich zumindest vom derzeitigen Koalitionspartner, den Sozialdemokraten, abgrenzen zu müssen: "Wir brauchen keine sozialdemokratischen Werte, wir wollen innovativ sein." Und weiter: "Es gibt auch eine Menge negativer Aspekte in den nordischen Ländern." Konkret gemeint ist damit unter anderem eine progressive Besteuerung der Einkommen - ein Vorschlag, der immer mal wieder von der Opposition eingebracht wird. Für einen Mindestlohn von 1000 Euro - eine Verdreifachung des gegenwärtigen Niveaus - sammelte die Zentrumspartei jetzt Unterschriften. Populismus oder Wagemut?
Sven Mikser war mal Opposition - jetzt ist er Verteidigungsminister, also momentan Aufrüstungsminister. Immerhin - mit den Augen Ligis gesehen - Sozialdemokrat. Angesichts der viel beschworenen Bedrohungslage ist es wohl auch gut, für die Verteidigung des Vaterlandes zuständig zu sein. "Auf Einkaufstour bei den Waffenhändlern", das schrieb kürzlich das Luxemburger "Tageblatt" über ihn.
Da könnte der Wahlkampf doch jetzt mal losgehen. Doch halt: er endet gerade eben. Dem reformierten estnischen Wahlgesetz zufolge darf es 40 Tage vor der Wahl keine Wahlwerbung mehr im öffentlichen Raum, an Fahrzeugen oder Gebäuden geben. Wer dagegen verstößt, muss mit Strafen zwischen 400 und 1300 Euro rechnen. Am 23.Januar wird die estnische Wahlkommission die endgültigen Wahllisten herausgeben: 876 Kandidatinnen und Kandidaten für 101 Parlamentssitze.
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