Elmo Nüganen stellt sich keine leichten Aufgaben. Als Theaterregisseur ist er eigentlich bekannt für seine Adaptionen estnischer und russischer Novellen, seit 1992 Direktor des Stadttheaters Tallinn. Seit seinem Film "Nimed marmortahvlil" (zu deutsch: "Die Namen auf der Marmortafel", Estland 2002) könnte er als Chefkoordinator bei der Verbildlichung estnischer Geschichte gelten. Damals, weit vor dem 100.Jahrestags des Kriegsbeginns, war zumindest die deutsche Öffentlichkeit noch nicht eingestellt auf die estnische Variante des Kriegsausgangs: am Ende stand, nach hartem Ringen und mit dem Glück vom Zusammenbrechen zweier übermächtig scheinender Kriegsgegner profitieren zu können, die Unabhängigkeit Estlands.
Heute ist Nüganen einer der bekanntesten Regisseure Estlands. Aber er ist auch Schauspieler: erst kürzlich wurde "Mandarinen" (Mandariinid) für den Oscar nominiert, eine georgisch/estnische Koproduktion, in dem Nüganen eine Hauptrolle spielt; der Film schaffte es immerhin bis in die Endrunde der letzten fünf. Jetzt könnte Nüganen dieses Ziel als Regisseur erneut anvisieren: sein neuer Film "1944" (deutscher Arbeitstitel "Brüder / Feinde") wurde von Estland für die 88th "Academy Awards" 2016 vorgeschlagen.
Hintergrund des Films sind die Ereignisse bei den "Blauen Bergen" auf der Halbinsel Sõrve (Sworbe) auf Saaremaa (Ösel) gegen Ende des 2.Weltkriegs. Die Halbinsel war Schauplatz erbitterter Schlachten zwischen der deutschen Wehrmacht und der sowjetischen Roten Armee. 1944/45 beim Rückzug der Wehrmacht fanden tausende Soldaten hier den Tod. "Vend vena vastu" - ein Motto des Films: Brüder gegen Brüder.
Esten, die bei den Deutschen
mitkämpfen mussten, Esten die auf der Seite der Sowjets standen. In diesem Fall die Geschichte von Karl und Juri. Der Filmtrailer stellt heraus: "Esten, in einem Krieg der anderen." So mögen sich manche Esten gefühlt haben, zwischen den Mühlsteinen der Großmächte, nach damals gerade mal zwei Jahrzehnten eines unabhängigen Landes. Möglichst objektiv wolle der Film das Schicksal diesser Männer darstellen, ihre Hoffnungen, Ziele, ihre Vorlieben und Träume. Kinobesucher dürfen gespannt sein - denn bei anderen filmischen Versuchen gerieten die filmischen Geschichten nur allzu oft entweder zu unscharfer Kriegsheldenverehrung, oder zur knatternden und knallenden Show von Spezialeffekten. Einseitige estnische Rechtfertigung nach dem Motto "unsere Motive waren stets ehrenhaft" wäre sicherlich ebenso fehl am Platze.
Seit Kinostart im Februar 2015 hatten den Film in Estland bereits nach 40 Tagen über 100.000 Menschen gesehen. Ein nach estnischen Maßstäben vergleichbares Debut legten nur Nüganen's "Marmorfafeln" hin. Der deutsche Titel "Brüder - Feinde" klingt noch ein wenig vorläufig und holprig: einfacher und schlichter wäre "feindliche Brüder". Produziert haben den Film die estnische "Taska Film", gegründet von Kristian Taska, Sohn des estnischen Filmemachers Ilmar Taska. Partner ist "MRP Matila Röhr Productions" aus Finnland. Die Realisierung wurde unterstützt vom Estnischen Filminstitut,dem estnischen Verteidigungsministerium, und privaten Sponsoren.
In der Sowjetzeit waren auf Sõrve Raketen stationiert. Ich persönlich hätte mir dieses Thema auch gut als estnisch-russische Koproduktion vorstellen können - aber nein, wie schade. Gegenwärtig sind Vergleiche der Auswüchse des Machtstrebens von Hitler und Stalin leider in Russland wenig in Mode. Einige im Internet eingestellte Ausschnitte bieten Anlaß für Diskussionen (zumindest Fragezeichen): ob Überschriften wie "Waffen SS in action" wirklich den Sinn des Filmes wiedergeben? Solange ich den Film nicht selbst gesehen habe fehlt allerdings die Vergleichsmöglichkeit, ob diese Szenen wirklich aus dem Nüganen-Film stammen. Die Reaktionen der "User" stimmen ebenfalls nachdenklich, zum Beispiel diese: "Whoah! An actual movie that shows how useless Russian actually were and how accurate Germans are."Bewunderer des "MG-42" melden sich dort ebenfalls zu Wort. Ähnliche Ausschnitte werden im Internet auch unter dem Schlagwort "battle on Tannenberg line" publiziert - natürlich nur mit solchen Teilen, die vermeintlich heroisch für die deutsche Seite enden. Von estnischer Seite sind einige "Making-off"-Szenen zu sehen, in denen besonders die Musik herausgestellt wird: Voldemar Kuslap und sein 'Lied von der fernen Heimat' (Laul kaugest kodust). Andere Szenen stammen offenbar von Privatpersonen. Und das Portal "PCGames" stilisiert den Film als "Antikriegsdrama". Auf "FilmTV" schreibt Jessica Neumayer: "Ein Anti-Kriegs-Drama, das vor allem durch seine
Emotionalität punktet. Der Gewissenskonflikt der Soldaten, die auf ihre
eigenen Landsleute schießen müssen wird so deutlich, dass man ihn fühlen
kann. Brüder Feinde ist kein gewöhnlicher Kriegsfilm, weil er von allem
etwas hat. Fans der Kriegsfilmreihen kommen auf ihre Kosten, aber
ebenso ist der Film sehr gefühlvoll und hat auch ein paar kleine Witze
bereit. Also wer etwas Ernsthaftes, zum Nachdenken sehen und dabei gut
unterhalten werden möchte, ist hiermit gut bedient."
Im Internet ist die Diskussion um diesen Film offenbar schon ein paar Schritte weiter als in den Kulturspalten der Tageszeitungen.
Anfang Oktober kommt der Film auch in die deutschen Kinos.
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