Donnerstag, Juli 09, 2015

Estnische Sorgen

Die Aufnahme von Flüchtlingen in Estland könnte den Nationalstaat und seine Souveränität beeinträchtigen - in Estland braucht es keine zwielichtigen "Pegida"-Versammlungen, um solche Ansichten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen; es war der ehemalige Präsident Arnold Rüütel, der sich in den estnischen Medien so äusserte (zitiert bei ERR).

Es ist ein seltsames Thema. Wer sich in der estnischen Geschichte nicht so gut auskennt, dem wird sicherlich sehr viel erzählt werden über estnische Flüchtlinge in der ganzen Welt, Estland zwischen zwei Diktatoren und dem langen Warten auf die wieder erkämpfte Unabhängigkeit. Sind Estinnen und Esten nur dorthin geflohen wo Menschen mit ähnlicher Lebensauffassung und Traditionen wohnten? Sicher nicht. Wer vor Krieg und Verfolgung flieht, hat wahrscheinlich andere Sorgen.

Regierungschef Taavi Rõivas, Verteidigungsminister
Sven Mikser und Sozialminister Margus Tsahkna
bei einer gemeinsamen Pressekonferenz
zum Flüchtlingsthema
Estnische Politiker allerdings nicht. Sie glauben offenbar fest daran, Flüchtlinge in irgendeiner Art und Weise "sortieren" zu können, bevor sie estnische Grenzen passieren. "Wir würden christliche Migranten bevorzugen", so läßt sich Sozialminister Margus Tsahkna, frisch gewählter Vorsitzender der konservativen IRL, zitieren. Andere Vorbehalte klingen folgerichtig: die Argumente versuchen von eigenen Schwächen abzulenken: "Man müsste den Esten erklären, warum Flüchtlinge eine Krankenversicherung haben, unsere Arbeitslosen aber nicht", meint Ohtuleht.

Ex-Kommunistenführer Rüütel, heute Ehrenvorsitzender der estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE), appelliert offenbar immer noch im Bewußtsein der Unkenntnis in der Welt gegenüber estnischen Verhältnissen: "Wir haben bereits einen der größten Anteile von Nicht-Einheimischen in ganz Europa." EKRE behauptete schon vor Monaten, die estnische Regierung plane eine "Massenimmigration" von bis zu 50.000 Asylanten innerhalb der nächsten fünf Jahre.
Nicht-Einheimische? Da wird eine Doppeldeutigkeit estnischer Politik deutlich: einerseits tut die estnische Regierung alles, um die "Normalität" der estnischen Verhältnisse darzustellen - Russen als gleichberechtigte Mitbürger, entweder auf den Wartelisten zur Einbürgerung, oder als selbstgewählte Sonderlinge mit "Nichtbürgerpass". Alles ganz normal. Aber wenn es um die Belastbarkeit dieser "Normalität" geht, sind gebürtige Russen - egal ob mit oder ohne Staatsbürgerschaft - plötzlich wieder "Nicht-Einheimische". Und das 25 Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit.

Zukünftige Szenen in Estland? Eine Bildmontage
eines estnischen Bloggers
Aussenministerin Keit Pentus-Rosimannus sucht derweil Rat in Schweden. "Flüchtlingen bei der Jobsuche zu helfen, kann ihre Integration in die Gesellschaft beschleunigen," meint sie vor der Presse, sagt aber nicht dazu, ob damit Jobs in Estland gemeint sind. Im nordestnischen Vao wurde inzwischen ein ganzes Flüchtlingsheim "vorsorglich" geräumt, weil Proteste dagegen befürchtet wurden. Regierungschef Taavi Rõivas, Verteidigungsminister
Sven Mikser und Sozialminister Margus Tsahkna versuchten Bedenken entgegenzutreten: "Das Gerede von einem 'Trojanischen Pferd' durch Flüchtlinge ist absolut haltlos", so der amtliche Regierungston. Es gäbe auch estnische Unternehmer, die gerne bereit wären Flüchtlingen Arbeit zu geben. Die estnische Regierung hatte sich bereits energisch gegen feste Aufnahmequoten von Flüchtlingen ausgesprochen, deutete aber an, eine Aufnahme von 200 Personen innerhalb der nächsten zwei Jahre wäre möglich. Diese Flüchtlinge sollen dann "über ganz Estland verteilt" werden, angeblich um die Bildung von "Ghettos" zu vermeiden (siehe ERR). Ministerpräsident
Rõivas äusserte seine Überzeugung, diese Flüchtlinge würden auch Estnisch lernen wollen.

1 Kommentar:

  1. Der Artikel ist sehr gut, aber noch zu harmlos. EKRE braucht nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, es sind die schlimmsten Xenophoben, die sich dort versammelt haben. Aber es geht noch schlimmer, wie das Beispiel von Kristina Ojuland, ehemalige Aussenministerin und EU-Abgeordnete, zeigt.

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