Mit alten Autos durch verlassene, oft schlammige Landschaften brausen: das war schon immer die Leidenschaft der estnischen Provinz. Und wer damit nicht genug hatte, konnte jederzeit mal rüber nach Lettland oder Litauen fahren - dort gilt Ähnliches.
Für Gäste aus Europas Westen, für die einsame, gut erhaltene Naturlandschaften die beste Motivation für einen Besuch in Estland darstellen, stellen diese Querfeldein-Raser manchmal die reinste Horrorvision dar - ähnlich wie die Motorschlitten im Winter ist auch im Sommer ein Spektakel aus Motorenlärm möglich, das sich unter großen Beifall der Zuschauer durch die Landschaft wälzt. Unfälle gehören dann ja sowieso dazu, manchmal auch Verletzte und sogar Tote - erst vor einer Woche starb im litauischen Akmene Ilgonis Ašmanis aus Lettland (siehe "
Delfi", "
Focus"). 2012 erwischte es den lettischen Rallyfahrer Igors Bartaščenoks bei der Rally in Madona im Nordosten Lettlands (siehe "
Kas jauns"). Wie es bei estnischen Rallyes zugeht, lässt sich im Internet auf vielen
selbst gedrehten Filmchen begutachten: Schlamm und Schotter auf den Strecken, hohe Büsche und dichter Wald, fast keine Absperrungen, so kündigt der Streckenposten mit einem schrillen Pfiff jedesmal den nächsten herbeirasenden Wagen an. Und ein Publikum, dass offenbar seinen größten Spass dabei hat, von der Straße gerutschte Fahrzeuge wieder auf die Strecke zu ziehen.
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Abgase schnüffeln als Volkssport: Rallye-Erfahrungen in Estland (c/o JPeltsi) |
Es muss also heißen: "Rallyesport entdeckt Estland" - und nicht etwa umgekehrt - wenn in diesen Tagen zum ersten Mal die
Estland-Rallye auch Teil der Europameisterschaft ist. Allerdings ist auch die Karriere des bisher bekanntesten estnischen Rallye-Fahrers, Markko Märtin, von den rasant schnellen Wechseln zwischen sportlichen Leistungen und lebensgefährlichen Risiken geprägt. Seit 1997 war Märtin in der Rallye-WM aktiv, 2004 wurde er Dritter. 2005 prallte er am letzten Tag der Rallye Wales gegen einen Baum, sein Beifahrer Michael Park starb noch an der Unfallstelle. - Aus heutiger Sicht schreiben Rallye-Magazine wie "
Motorsport-total", bezogen auf Märtin, lediglich von seinem "Rücktritt".
Einige Esten sehen sich vielleicht eher nach positiveren Schlagzeilen zu estnischen Formel-1-Träumen. Manche estnische Motorsportler waren da schon nah dran: vor einiger Zeit war Kevin Korjus schon mal Testfahrer bei Renault, Marko Asmer war schon mal bei BMW Sauber aktiv (siehe "
Motorsport"). Karl-Oscar Liiv war auch schon mal in der sogenannten "
Formel Renault" erfolgreich, und Tristan Viidas gewann 2012 den
Formel-BMW-Talent-Cup.
Als größtes estnisches Motorsporttalent galt auch einmal Marko Asmer. 2008 wurde er bei BMW als möglicher Nachrücker für Nick Heidfeld oder Robert Kubica benannt, zu einem Zeitpunkt als ein Sebastian Vettel ebenfalls nur als "talentierter Nachwuchsfahrer" galt. Damals schrieb "
Motorsport-Total" über die Schwierigkeiten einer Motorsportkarriere noch: "Denn Estland ist zwar Motorsport begeistert, aber Sponsoren sind für aufstrebende Renntalente nur schwer zu finden." Da half dem Bekanntheitsgrad außerhalb Estlands wohl auch nicht, dass Vater Asmer 10mal estnischer und 6mal sowjetischer Meister gewesen war, nach der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit erfolgreich West-Autos verkaufte, und von 1999 bis 2002 sogar Minister für Regionalentwicklung im Kabinett von Mart Laar war. Angeblich verkaufte Vater Asmer zu Gunsten der Motorsportkarriere seines Sohnes sogar sein Haus, damit der Sohn weiter Rennen fahren konnte.
Tja, die Esten. Wenn sie sich erstmal etwas in den Kopf gesetzt haben .... - aber selbst Vater Asmer musste zwei Jahre später enttäuscht zugeben: "Die Situation ist nicht gerade rosig und dabei geht es einzig und alleine um Geld. Das ist halt noch immer extrem wichtig. Der schmerzhafteste Rückschlag war, als wir Sauber verlassen haben. Im Prinzip war das der Anfang vom Ende".
Ein Wochenende lang (17.-19.Juli) ist Estland nun Gastgeber für viele Rallye-Fans auch aus anderen Ländern. Ex-Profi Markko Märtin unterstützt heute Ott Tänak, einer von mehreren estnischen jungen Rallyesport-Hoffnungen.Zwischen Tartu und Otepää sollten alle, die eher Ruhe und Einsamkeit suchen, nicht allzu verwundert sein angesichts dessen, was
die Veranstalter versprechen: "3 action-packed days, 15 exciting special stages, 235 breath-taking kilometres, 400 daredevil men! Smooth and fast gravel roads with numerous jumps and curves in beautiful South-Estonian nature." Und wer sich dann noch langweilen sollte: auch eine "Women's area".ist im Angebot.
Wer sich für die sportlichen Ergebnisse interessiert, sollte mal ins TV-Programm bei "Eurosport" schauen.