Estland ist es wieder einmal gelungen, einen neuen Anstoss für das Image des Landes zu geben, so wie es inzwischen zumindest in Westeuropa gesehen wird: klein, aber flexibel und modern. In dieser Richtung weist auch die Ankündigung, Estland werde die "digitale Staatsbürgerschaft" einführen.
Morgen, am 1.Dezember, wird die erste ID-Card an einen "virtuellen Staatsbürger" (engl. "E-Residency", estn. "e-residentsuse") überreicht: es ist der britische Journalist Edward Lucas (siehe ERR, delfi.lt). Er berichtete 1990 bis 1994 über die zusammenbrechende Sowjetunion aus dem Baltikum, 1998-2002 leitete er das Moskau-Büro des "Ecomomist". Einen Pluspunkt kann er auf jeden Fall für sich verbuchen: außer Englisch spricht er auch Litauisch, Polnisch, Tschechisch, Russisch und Deutsch.
In der deutschen Presse ist Lucas auch mit anderen Themen bekannt: die TAZ stellte ihn als überzeugten Fan des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA vor, der die Enthüllungen Edward Snowdens für "eine Katastrophe" hält ("die Enthüllungen, nicht das Enthüllte" stellt die TAZ klar). In seinem Buch „The New Cold War“ stelle Lucas die Herrschaft des russischen Präsidenten Putin als Regime der organisierten Staatskriminalität dar, so resumiert die TAZ. Die Erstauflage dieses Buches stammt allerdings schon aus dem Jahr 2008. Oder man kann es so sehen: während manche heute die Neuauflage eines Kalten Kriegs fürchten - Edward Lucas redete und schrieb in geradezu herbei. 2008 hielt ein Rezensent des Deutschlandradios den Lucas-Titel "The New Cold War" noch "eher für ein Geschichtsbuch". - Aber eine ähnliche Auffassung über "das System Putin" verkündete kürzlich die litauische Staatspräsidentin Grybauskaitė öffentlich - ebenfalls eine Lucas-Leserin? Jedenfalls kam sie damit zumindest schon mal in die Schlagzeilen der BILD-Zeitung.
So unterschiedlich fallen eben Image-Fragen aus. Während die einen froh sind, neue Quellen für die fest gefasste eigene Weltsicht zu bekommen, stehen die anderen staunend vor einem Fan der Abhöraktion gegen Angela Merkels Mobiltelefon.
Edward Lucas ist nicht zufällig der erste, der eine "digitale Staatsbürgerschaft" aus den Händen von Staatspräsident Ilves empfangen wird. Er habe "eine Menge Publizität" für Estland gebracht, so lobt Innenminister Hanno Pevkur. Die Einführung der digitalen Staatsbürgerschaft (auch "Digi-ID" genannt) nennt Pevkur "den Wandel Estlands zu einem e-business-Center".
Angesichts der Wahl von ausgerechnet Edward Lucas zum "Digi-ID-Vorbild" könnte man allerdings auch auf den Gedanken kommen, das Innenministerium sähe die Inhaber der ID-Cards als etwas Ähnliches an wie Facebook-Nutzer - oder, in der Sprache von Unternehmen ausgedrückt: digital angeschlossene Kunden als Empfänger für die interne Firmenwerbung.
Grundlage für das neue Angebot der estnischen Regierung sind angeblich etwa 4000 verschiedene Serviceleistungen, die per Internet zugänglich sind. Manche estnische Stellen nennen die Zahl von 10.000 neuen Firmengründern, die man unter den neuen "E-Bürgern" zu finden hofft (siehe bbn).
In der deutschsprachigen Presse werden durchweg so etwas wie "Gebrauchsanweisungen" abgedruckt, die sich fast so lesen wie eine Empfehlung 50 Euro in estnischen Aktien anzulegen. (Behördenspiegel, Tageblatt, ORF, N-TV, Computerbild, Manager-Magazin, Handelszeitung, Netzwertig). Angeblich soll es bereits 100.000 Antragsteller geben, die sich für eine digitale estnische Staatsbürgerschaft interessieren.
Hinsichtlich des "Digital Ersten" aber scheinen sich zumindest Esten und Litauer einig zu sein. Der Inspirator der Präsidentin, Edward Lucas, erhielt kürzlich in Vilnius die Ehrendoktorwürde verliehen.
Zweifellos hat Edward Lucas viel fuer Estland gemacht, ob es immer das richtige war, wage ich zu bezweifeln.
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