Sonntag, Dezember 30, 2007

Jaan Kross und die Deutschbalten

Einige zentrale Figuren in Jaan Kross Lebenswerk sind Deutschbalten. Die führende Gesellschaftsschicht in Estland bis 1918. Trotz schwedischer und später russischer Herrschaft blieben sie die "Herren" im Lande. Der Rückgriff auf die Gegensätze zwischen Deutschen und Esten wurde bei Kross allerdings in der Sowjetunion oft als Allegorie auf bestehende Verhältnisse gelesen.
Im Moment habe ich noch keine aktuelle Reaktion von deutschbaltischer Seite im Internet gefunden (siehe letzter Post), aber sie sind noch vorhanden, zum Beispiel durch die Baltisch Historische Kommission
Ein anderes Beispiel: Im Jahr 1996 trafen noch beide Seiten aufeinander. Am Rande der Tagung zu 5 Jahre Unabhängigkeit des Baltikums in Münster, wo Jaan Kross eine Lesung hielt. Auszüge aus seinem Roman: Das Leben des Baltharsar Rüssow.
Anmerkung, es gab zeitweise eine Diskussion über das Estnischsein der Zentralfigur des Romans.
Das Foto, links Boris Meissner, geboren in Pscov, Dr. Garleff, und Bernd Nielsen Stokkeby 2. von rechts in Münster 1996.
Deutchbalten

Update 1.1.2008
Nicht mehr überraschend und ein Zeichen der Veränderungen seit 1991: einer der längsten und emotionalsten deutschsprachigen Rückblicke auf Jaan Kross wurde in NeueZürcherZeitung (Schweiz) veröffentlicht:
Auf der Landkarte Europas ein Ort
Die Neuerfindung der Nation – zum Tod des grossen estnischen Erzählers Jaan Kross

Donnerstag, Dezember 27, 2007

Jaan Kross 1920-2007

Ausgrabungen Estnische Ausgabe von 1990

Gegenwärtig der bekannteste Schriftsteller Estlands im deutschsprachigen Raum, Jaan Kross, ist heute gestorben.
Larko mit einer der ersten Reaktionen:

I just heard in the radio and read in the paper that the great Estonian writer Jaan Kross passed away today at the age of 87. He was repeatedly nominated for the Nobel price in literature but was unfortunately never rewarded.


Hendrik Markgraf hat 1990 für die FAZ Jaan Kross besucht. Eine Passage aus "Gedächtnis und Denker der Esten":

In der Großen Batteriestraße wohnte seine Familie. In dieser Straße steht auch das Gefängnis. "Dort habe ich zweimal gesessen", sagt der Schriftsteller, zieht die buschigen Augenbrauen spöttisch hoch und fügt hinzu: "Am 21. April 1944 wurde ich, dem Führer zum Geburtstag, verhaftet."
Von den deutschen Besatzern. Kross, damals Jurastudent, sympathisierte mit der "Dritten Möglichkeit", einer Gruppierung, die sich für ein unabhängiges Estland stark machte. Für eine Republik, in der er am 19. Februar 1920 hineingeboren worden ist, siebzehn Tage nach dem Dorpater Frieden, in dem die Sowjetunion Estland Souverenität garantierte.
Bis 1940. ...

1946 wird er wieder verhaftet. Dieses Mal von den Russen. Und dieses mal dauert die Haftzeit länger als vier Monate. Nicht geändert hat sich der Anlaß seiner Festnahme: Kross' Nähe zur "Dritten Möglichkeit". Der Este als Opfer deutsch-russischer Zusammenarbeit. "Es war, als wollten die Russen mich dafür strafen, wofür die Deutschen keine Zeit gehabt hatten.


Hier ein älterer Post über Jaan Kross und Lennart Meri: Zwei Freunde

Liisas Litblog mit einem Verweis auf einen lesenswerten Artikel über Jaan Kross in der NZZ von 2002.

Ausführlicher Lebenslauf bei Pegasos einer finnischen Literaturseite: Jaan Kross

Sonntag, Dezember 23, 2007

Weg mit der Leitplanke -Schengen Nachtrag

Im letzten Post ist eine Leitplanke als Grenzbefestigung zwischen Lettland und Estland zu sehen. Diese ist nun unter den Augen von Präsident Hendrik Ilves verschwunden. Der Videobericht in der Postimees.

Thousands of people had been gathering through Thursday evening on both sides of the border in Valka, Latvia and Valga, Estonia, awaiting the historic moment.

"Today, we the leaders of two towns stand on the border of Latvia and Estonia," Valka's mayor Unda Ozolina told the crowd minutes before midnight. "This is the moment when Valga and Valka will really start living as one town."

Cameras flashed as the gates went up and people trickled into the border area from Latvia and Estonia. People cheered and clapped as two streams began to merge into a large crowd on the border.

"Good evening, Estonia," one young Latvian man yelled in the crowd crossing the border.


Zitat aus EARTHtimes.

Ein Kanadier aus Finnland hat sich extra auf den Weg dorthin gemacht und war zur eigenen Überraschung einer der letzten, die nach alter Rechtslage die Grenze überschritten: § Valga - Valka : 1 linn, 2 riiki - 1 pilsēta, 2 valstis
Von Martin-Éric Racine
Upon returning to the border, just minutes before midnight, I found myself in the middle of a huge crowd of villagers, police officers, border guards and politicians from both countries - barely getting noticed by anyone. I handed my passport to an Estonian border guard who emotionally commented to a civilian friend of his nearby that, "Wow! That was the last one!", handing me my passport back just as the midnight bells rang and the mayor of the Estonian side started his speech amidst pyrotechnics lining the road.


Larko im Rückblick auf seine früheren Grenzerlebnisse: Valga/Valka twin town.

Aleks von All about Latvia war in Valka und Tallinn: Schengen in Tallinn

Mittwoch, Dezember 19, 2007

Valga/Valka ohne Grenzkontrollen Teil 3

Ein kleiner geschichtlicher Rückblick auf die Grenzziehung zwischen Lettland und Estland nach dem 1. Weltkrieg, Georg von Rauch in "Geschichte der baltischen Staaten". Er nennt die beiden Städte Walk (dt.), aus der Zeit als die beiden Teile noch eine gemeinsame Verwaltung hatten:

Neben Haynasch an der Küste des Rigaeschen Meerbusens und der Insel Runö ging es hierbei vor allem um die Grenzstadt Walk. Nach der Volkszählung von 1897 hatten hier 4453 Letten und 3594 Esten gelebt; bei den Stadtverordnetenwahlen von 1917 erhielten die Letten die Mehrheit der Mandate. Als die Streitfrage wegen Walk 1919 erörtert wurde, wiesen die Esten darauf hin, die lettische Mehrheit sei nur durch die Flüchtlinge zustande gekommen, wogegen die Letten betonten, Walk sei Kreisstadt eines von Letten bewohnten Gebietes, und von den fünf sich hier kreuzenden Eisenbahnlinien kämen drei aus Lettland. Die Entscheidung fiel durch eine von einer gemischten Kommission unter Vorsitz des englischen Oberst Tallents ausgearbeitete Konvention vom 22. März 1920. Die Esten verzichteten auf Haynasch, die Letten auf Runö,Walk wurde zwischen beiden Staaten geteilt.


Runö ist die Insel Ruhno; so blieben die Letten ohne eigene richtige Insel. Aber das ist eine andere Geschichte.

1991 war die neuerliche Trennung vollzogen, noch liefen sowjetische Betriebe weiter, wie diese Fabrik in Valka, aber für die Pendler, die jetzt auf der anderen Seite wohnten, begann die Zeit der zum Teil umständlichen Grenzkontrollen.
Valka 1992 Latvia
Die Kolchosen, deren Skelettbauten nun häufig im Baltikum herumstehen, wurden zum Beispiel von Sägewerken abgelöst:
Valka sawmill
Die alten Schweineställe der Kolchose:
left kolchos

Diese Strassenpartien waren ab jetzt ganz geschlossen, am 21. Dezember wird auch das Historie sein:
Valga border III
Der Blick oben nach Valka in Lettland und umgekehrt nach Valga in Estland auf der gleichen Straße:
Valga border

Jan S. Krogh hat vor Jahren die Grenzmarkierungen fotografiert und teilweise mit Kommentaren versehen: Valga/Valka
Technische Uni Chemnitz beim Besuch des ehemaligen Bürgermeisters von Valka, Vents Krauklis, 2006
Besuch der lettisch-estnischen Grenzstadt Valka-Valga
Und
Valga und Valka - Geteilt durch eine „Berliner Mauer“
von Herle Forbrich
Europa-Universität Viadrina Frankfurt(Oder)2004

Montag, Dezember 17, 2007

Ohne Grenzkontrollen Teil 2

Aleks war schneller mit seinem Post in seinem Blog: All About Latvia. Er hat vor kurzem Valka besucht. Lange Jahre verbrachte er in den USA und ist nun nach Riga zurückgekehrt. Sein Eindruck von Valka, der lettischen Kleinstadt, in der bald die Grenzkontrollen nach Estland wegfallen, A Tale of Two Cities:

Everyone indeed knew everyone. An older gentleman called on a driver by name to stop the bus at a local hospital. People chit-chat about life in the bid city, brushing me with their glances. And I realize before I even say a word, everyone knows I’m a stranger in these parts.


Er meint, jeder kenne jeden, und das ist auch mein Eindruck von Valka der Grenzstadt zu Valga, Estland. 1991 war Schluss mit der Sowjetunion und die Grenzkontrollen waren neu in dieser doppelten Stadt. Obwohl so ganz neu auch nicht, bereits in der ersten Unabhängigkeitszeit bis 1940 war diese Grenze vorhanden.
Eesti Vabariik
Das Schild Eesti Vabariik 1991 gerade neu aufgestellt.

16 Jahre später sieht es so aus. Der Blick auf den lettischen Grenzposten Richtung Valga:
Valga border II

Aber 7000 Einwohner für Valka klingt sehr nach Provinz. Na und! Dafür haben die Einheimischen andere Freizeitbeschäftigungen als die Rigaer oder Tallinner. Zum Beispiel Elche erlegen im Winter. Die nächste Saison ist angebrochen und das deutsche traditionelle Halali findet hier eher nicht statt:
Elk hunting in Latvia
Die Jugend fährt auch gerne Auto jenseits der Zentren, und die Besten nehmen an nationalen Rallymeisterschaften teil:
lesalnieks
Zur Abwechslung fährt man ab und zu nach Valga auf die estnische Seite:
Valga
Valga war mal eine wichtige Bahnstation Richtung Osten. Davon zeugen nicht nur die vielen Gleise sondern auch dieses museale Technikrelikt:
Valga train
Valga hat mehr Einwohner, aber auf den ersten Blick ist das schwer zu erkennen. Die beiden Städte haben kein dichtgedrängtes Zentrum, eine Flussniederung windet sich durch die Ansiedlungen. Die Grenzziehung wird dadurch nur an zwei Strassenzügen auffällig, die Fotos dazu im nächsten Teil.

Samstag, Dezember 15, 2007

Ohne Grenzen- wegfallende Grenzkontrollen Teil 1

Europa ohne Grenzkontrollen, allmählich kommen wir dem Ziel näher. Wieder wird der Schengen-Raum erweitert. Was früher unter den skandinavischen Staaten üblich war und später unter einigen Mitgliedern der EU, dehnt sich jetzt nach Nordosteuropa aus. Zwischen Valka/Lettland und Valga/Estland werden am 21. Dezember feierlich die Grenzkontrollen abgeschafft.
Bis dahin war es ein weiter Weg, und er wurde auch voreilig kritisch begleitet. Mit der Unabhängigkeit der baltischen Staaten stöhnten nicht wenige vorwurfsvoll in Deutschland: "Schon wieder neue Grenzen in Europa und wir (EU) sind dabei sie abzuschaffen".
Unter Umständen ist sowas auch ohne EU- Mitgliedschaft möglich. Aber das haben nur Länder wie Norwegen (kein EU Land) und die anderen drei Nachbarländer Dänemark, Schweden und Finnland schon vor Jahrzehnten untereinander hinbekommen.
Valka und Valga sind die beiden Orte, die 1991 mit zu meinen ersten Baltikum-Erfahrungen gehören. Und diese Grenze zwischen Estland und Lettland ist indirekt schuld daran, dass mir 1992 von einer Behörde in Tallinn eröffnet wurde, dass ich mich seit einiger Zeit illegal im Lande aufhalte. Ein ziemlicher Schreck.
Eingereist war ich nach der Jahreswende 1991/1992 bereits ein zweites Mal, nun mit einem Visa der estnischen Botschaft in Deutschland, das für 3 Monate ausgestellt wurde. Aber merkwürdigerweise erkannte Tallinn gar nicht solche Visa an. Ich hatte es befürchtet. Von Tartu aus war ich des öfteren bei Freunden in Valka/Lettland. Ein Grenzübertritt und ich hätte nur den Pass stempeln lassen müssen nach einer gewissen Zeit, um eine Ausreise anzuzeigen. Einmal fragte ich einen estnischen Grenzposten deswegen, aber er war ahnungslos, er telefonierte mit einem Vorgesetzten und der meinte es sei alles kein Problem. Das Visa sei korrekt. Aber dieser Ausreise-Stempel fehlte dann, ich hatte den Daueraufenthalts-Zeitraum überschritten. Da man das Land damals nur mit einer offiziellen/dokumentierten Einladung betreten durfte (die Grenzkontrollen in Tallinn wurden noch von SU-Vertretern durchgeführt - trotz Unabhängigkeit), musste ich laut Anweisungen in Tallinn eine Strafrunde nach Tartu unternehmen. Denn von dort stammten die Einladungsdokumente. Nachdem ich dort also den Aufenthalt wieder offiziell bestätigt und eine gewisse Gebühr entrichtet hatte, war die Sache bereinigt. Das vorherige dreimonatige Reisevisum war ungültig. Stattdessen hatte ich jetzt eine Aufenthaltsgenehmigung.

Mittwoch, Dezember 12, 2007

Rotermann und das Neue Tallinn

Diese 150 Jahre alte Hausfassade wird stehen bleiben, dahinter ensteht die neue Metro Plaza - mit Glasfassade. Seit Jahren hat Tallinn bereits eine erweiterte Stadtkulisse, neben dem Domberg und Unterstadt nun ein Hochhaus-Viertel. Jenseits der Altstadt werden in den kommenden Jahren ausgedehnte Architekturplanungen vollzogen. Darunter das Rotermann Quartier in Erinnung an den gleichnamigen Industriellen in Tallinn im 19. Jahrhundert.
Hier eine aufwendige virtuelle Tour durch das Viertel, vielleicht 2009.
Über den Umbruch gibt es einen herausragenden Thread mit vielen Photos, bei skyscraper.com: all around estonia .
Kalle Komissarov


Prologue

The Rotermann quarter is like a tiresome relative. You see him infrequently enough that you need not sincerely smile when you meet. At the same time, you have forgotten his mental distress – you don’t remember whom he is now sleeping with, where he works and what might otherwise be wrong with him.
I claim that this quarter is the most thoroughly studied district in the centre of Tallinn, also perhaps in the entire Republic of Estonia. The best resources have been brought in to work on it


in Estonian Architectural Review, The Rotermann Saga.

Samstag, Dezember 08, 2007

„Ehstland“ oder „Ästland“

Wie man dieses Land ausspricht und ob die Sprache nun „Estnisch“ oder „Estisch“ heißt, daß werde ich häufig gefragt. Der Staat, in welchem diese Sprache gesprochen wird, heißt offiziell „Eesti Vabariik“ (Republik Estland) oder auch „Eestimaa“, was die direkte Übersetzung von Estland ist. Auf Estnisch, so heißt diese Sprache, wird das E lang und geschlossen gesprochen, darum halte ich es im Deutschen auch so. Die Aussprache ist jedoch auch eine Frage der deutschen Mundart.

Estnisch ist keine baltische Sprache, wie Lettisch und Litauisch, auch wenn man im Deutschen vom Baltikum spricht, sondern es handelt sich um eine finno-ugrische Sprache, deren nächster Verwandter das Finnische ist. Oft behaupten Esten, man verstünde Finnisch. Sie vergessen dabei, daß sie zu sowjetischen Zeiten via Fernsehen die Sprache erlernt haben. Die Finnen verstehen kein Estnisch, und ich, der ich des Estnischen mächtig bin, verstehe kein Finnisch.

In der Regel schlagen alle immer die Hände über dem Kopf zusammen, wenn ich erwähne, daß das Estnische 14 Fälle hat, dunkle Erinnerungen an Grammatikstunden kommen hoch. Doch dieser Umstand macht keineswegs den Schwierigkeitsgrad der Sprache aus. Die Endungen der Fälle ersetzen nämlich nur, was im Deutschen Präpositionen leisten: so gibt es den „Mitfall“ und den „Ohnefall“. „Koorega“ bedeutet mit Sahne, „Kooreta“ hingegen ohne.

Was die estnische Sprache für den Ausländer zu erlernen anstrengend macht, ist ihre Unregelmäßigkeit. Wie ich zu sagen pflege, die Regel ist die Ausnahme und die Ausnahme die Regel. So ist der Anfänger gezwungen, die ersten drei Fälle des Singulars und den zweiten und dritten Fall im Plural zunächst auswendig zu lernen, denn die Wortstämme ändern sich teilweise grundlegend: „vesi, vee, vett“ bedeutet Wasser. Freilich gibt es Flexionsstrukturen, aber auch diese sind so umfangreich, daß sie so dick sind wie ein Wörterbuch.

Aber dies gilt nicht nur für die Substantive, sondern auch für die Verben. Nicht genug damit, daß es zwei Infinitive gibt, deren Verwendung außerdem noch verstanden werden muß, sondern sie heißen „ma“ und „da“ und sollten eigentlich auch so enden. Doch das ist eben nicht immer so. „Minema“ heißt gehen, aber der da-Infinitiv heißt statt „mineda“ leider „minna“. Die Infinitivendung durch ein N ersetzend wird normalerweise die erste Person Singular gebildet. Ich gehe heißt aber statt „minen“ bedauerlicherweise „lähen“, also ein vollständig anderes Wort. Mit „läksin“ statt „minesin“ gilt dies für die Vergangenheit ein zweites Mal.

In der Rechtschreibung wird der unbedarfte Beobachter registrieren, daß die Esten wie die Deutschen über Umlaute verfügen, allerdings gibt es noch einen Vokal, den die deutsche Sprache nicht kennt: das Õ, das O mit der Tilde. Dieser Buchstabe spricht sich ähnlich dem hartem I im Russischen: „Ы“. Gesprochen wird es, für jene, die sich mit Phonetik auskennen: die Lippen in E-Stellung, die Zunge aber in O-Stellung.

Auffällig auf den Straßenschildern sind ebenfalls die vielen Doppelbuchstaben. Die estnische Sprache kennt drei Lautlängen: kurz, lang und ganz lang. Und dies bezieht sich im Unterschied zum Deutschen auch auf Konsonanten. Lange und ganz lange Laute werden mit zwei Buchstaben geschrieben, so daß man diesen Unterschied einfach kennen muß. Die korrekte Aussprache ist nicht ganz unwichtig, was sich am klassischen Beispiel demonstrieren läßt: „sada“ (siehe 100 EEK mit Lydia Koidula) bedeutet 100. „Saada“ hingegen heißt schicken und „saada“ mit ganz langem A wiederum empfangen.

Die Esten kennen auch Palatalisierungen, also Erweichungen, kennzeichnen diese aber im Gegenteil zu anderen Sprachen nicht. Das bei der Hauptstadt „Tallinn“ das doppelte N und L palatalisiert wird, muß man wissen. Ebenso verhält es sich etwa beim S in „poiss“, Junge.
Überhaupt ist Estnisch sehr vokalreich. Das Estnische Institut wirbt mit dem Begriff „hauaööõudused“, der zwar tatsächlich eine Bedeutung hat, aber denn doch eine eher unsinnige: „Haud“ ist das Grab, „öö“ die Nacht und „õudused“ die Schrecken. Mein Lieblingswort hingegen ist „öötöö“, also vier Ö mit einem T in der Mitte. „Öö“ bedeutet wie erwähnt Nacht, „töö“ ist die Arbeit.
Aber neben allen diesen Besonderheiten gibt es weitere. Das Estnische kennt nämlich kein Futurum. Auch im Deutschen sagt selten jemand „morgen werde ich in die Stadt gehen“, die Benutzung des Adverbs der Zeit genügt. Die Esten sind aber darauf angewiesen und verwenden sonst das Verb „hakkama“, was soviel wie beginnen bedeutet.
Außerdem kennen die Esten kein grammatikalisches Geschlecht, weshalb Esten in der Fremdsprache über dritte Personen berichtend oft zwischen er und sie hin und her wechseln, so daß man am Ende geneigt ist zu sagen, das dies ja alles sehr interessant ist, aber war es nun ein Mann oder eine Frau?
Mich verleitet das immer zu einem Scherz – und da haben auch die Esten genug Humor: die Esten haben kein Geschlecht und keine Zukunft.

Eine Brücke In Tartu

Russland hat gewählt. Ob demokratisch oder nicht überlasse ich anderen. Vielleicht war es tatsächlich der Mehrheitswille.
Für das estnisch-russische Verhältnis bedeutet es wahrscheinlich, dass es so weiter geht wie zuvor. Es bleibt angespannt. Manche der estophilen Blogger fragten, was es denn so an gemeinsamen Symbolen gibt, die beide Länder verbindet. Und an die man anknüpfen könne. Vielleicht diese Brücke, eine der schmerzlich vermissten Architekturen, die seit 1945 fehlen:
Eine Brücke in Tartu
Der Zustand im 1. Weltkrieg:
Tartu bridge

Der Kommentar von Valdo Praust dazu:
The bridge was built after the order of Russian Emperoress Katharine the 2nd between 1776-84. The architects of the bridge were J.C. Siegfrieden and J.R. Zaklowsky.

The bridge was blown up during the WWII in July 1941 a day before the Soviet troops withdrawal from Tartu. The last remains of the bridge was second time blown up in summer 1944 during the German troops withdrawal from Tartu. Now there are the modern pedestrian's bridge instead the historical one.


Und ein Postkartenfund:
Market in Tartu Estonia
Weitere Perspektiven:
Luftbild 1. Weltkrieg
Und stromaufwärts:
Emajögi

Dienstag, Dezember 04, 2007

Estland im Silicon Valley (USA)

Dieses Photo erinnert mich daran, dass Ross Mayfield (links im Photo) einer der Vorbilder war, warum ich selber angefangen habe zu bloggen. Das ist drei Jahre her.
Ross war in der 90ern unter anderem für die Gestaltung der Webseite des estnischen Präsidenten Lennart Meri zuständig. Er ist mit einer Estin verheiratet, (im Photo neben dem estnischen Premierminister Andrus Ansip). Ross lebte einige Zeit in Estland, jetzt ist er ein Unternehmer im berüchtigten Silicon Valley in Palo Alto. Und jetzt kommt alles zusammen. Estland hat eine Art technische Botschaft dort eröffnet. Das schon oft zitierte IT-Land Estonia wird nun noch mehr Resonanz in der Webszene finden.
Ross hat an der Eröffnung teilgenommen und natürlich einen Post dazu verfasst, der mit Techdaten über Estland und zahlreichen Links bestückt ist.
My dinner with Andrus

Daraus zitiert ein Hinweis, welche Vorteile kleine Länder in einer sich schneller entwickelnden Welt haben:
Estonia has long promoted the investment opportunity of using Estonia as a small test market for new products. I believe there is a real opportunity as a test market for new identity services. The infrastructure and consumer preferences of the future are in place there today.



weitere Berichte:
Estonia comes to Silicon Valley
Estonia's prime minister talks business tech

Update 5.11.
Und hier ein Beispiel wie Estland ein reales Modell für "Identity Services" werden könnte. Ross diskutiert das bereits:
Test Market for Identity Services and Policy

Nicht mehr ganz einfach ist Ross erster Post zu finden im Oktober 2002! Wer wissen will, wie damals das Bloggen von ihm beurteilt wurde im Unterschied zum Publizieren vorher, hier der Post:
framing weblogs

Montag, Dezember 03, 2007

Nachtrag zum Welt-AIDS-Tag

Auch wir erkläen uns solidarisch - aber erklären das Problem für längst bekannt: Estland hat im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eine der höchsten AIDS-Infektionsraten in Europa. Eine aktuelle Zusammenfassung der Thematik bringt zum Beispiel der Luthersche Weltbund auf seiner Homepage. 504 Neuinfektionen pro eine Million Einwohner - das sagt die Statistik, und sehr viel mehr Einwohner hat nunmal Estland gar nicht.

Robert von Lucius schrieb allerdings schon vor 2 Jahren in einem Beitrag für die FAZ ganz Ähnliches. Genauso der ZEIT-Beitrag aus 2004. Die Finanzierung für Hilfsprogramme käme meist aus dem Ausland, und in den zuständigen Ministerien werde die Thematik als "Probleme von Randgruppen" verdrängt. Die Krankheit werde aber inzwischen nicht mehr nur durch Drogenkonsum übertragen, sagen aktuelle Analysen. Und die Ärzte in Narwa sagen: "Die Betroffenen wagen nicht offen über ihre Krankheit zu sprechen."

Nun versucht die evangelische Kirche offenbar, ihre Kirchengemeinden in Estland für die Probleme zu sensibilisieren. Im Beitrag des Lutherischen Weltbunds ist von den Schwierigkeiten zu lesen: "Warum sollen wir etwas tun, wenn wir doch keine Erkrankten in unserer Kirchengemeinde haben?" Bei der Diakonie Kurhessen-Waldeck ist zu lesen, dass sich eine estnische Delegation auch schon zum Informationsaustausch in Deutschland befand. Ob es etwas bringt gegen das Totschweigen (schrecklich treffender Begriff in diesem Fall) - vielleicht demnächst an gleicher Stelle zu lesen.

Mehr Infos:
Aktionskampagne gegen Aids

Deutsche AIDS-Stiftung

HIV-inside zu Estland

Infoseite des estnischen Sozialministeriums

Estnisches Gesundheitsinstitut

Analyse estnischer Anti-AIDS-Programme

NGO Aids-Vorbeugezentrum Tallinn