Mittwoch, Oktober 31, 2007

Grenz - Meditationen

Grenzen wecken schnell Emotionen, besonders wenn sie nicht leicht passiert werden können.
So war es an der deutsch-polnischen Grenze und den kilomterlangen LKW-Staus vor über 10 Jahren. Die Warteschlangen am damals engen polnisch-litauischen Übergang sind vielen Betroffenen noch in Erinnerung.
Und 1991 war vorübergehend der Übergang von Russland nach Estland dicht. Von Ivangorod nach Narva. Daraus lassen sich leicht Schlagzeilen machen:
"Nieder mit der Grenze" titelte in einem Beitrag DER SPIEGEL 52/1992 in der Serie: Die Leiden der Russen. LKWs wurden bei nicht ganz formal richtigen Papieren zurückgeschickt, die Wartedauer war lang von russischer nach estnischer Seite:

Nicht wenige in Russland äusserten ihre Angst wegen des Warenabflusses Richtung Baltikum. Das hat sich nun geändert. 2007 stauen sich die LKWs auf estnischer Seite. Und es sieht so aus als seien die Gründe ähnlich wie damals nach Polen und Litauen. An der Landesgrenze wurde erst spät investiert. Mit steigendem Gütervolumen leiden die Fahrer am meisten.
Hier das Meditationsvideo, aufgenommen von Narva bis zum Ende der Warteschlange, von Pudrumulk:

via Larko, der darauf hinweist, dass auch in Finnland die gleiche Situation herrscht. Also "normale" europäische Zustände, wie wir sie von früher kennen.

Samstag, Oktober 27, 2007

Harte Schule des Lebens

Wenn in dieser Woche der Film "Klass" ("Die Klasse") von Ilmar Raag auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck gezeigt werden, sollten sich die Besucher/innen auf einen harten Stoff gefaßt machen. Und wer bisher keinen persönlichen Kontakt zum Thema "Gewalt an Schulen" hatte, der wird nach dem Film sicher einen nachhaltigen Eindruck mit nach Hause nehmen.

Mir ging es so, dass ich vom Verlauf der Story doch etwas überrascht wurde. Gut, also dass es Außenseiter in einem Klassenverband gibt, dass diese oft gemobbt, gemieden und ungerecht behandelt werden - wer kennt das nicht. Auch Schlägereien gibt es hier und da. Ursache für Gewaltanwendung wird aber oft entweder bei "schlecht erzogenen" oder sozial benachteiligten Jugendlichen gesucht.
Hier treten aber zwei Filmhelden auf, die beide aus ihrer Abneigung zum Thema Gewalt eigentlich keinen Hehl machen. Der eine, Joosep, als Neuling in der Klasse benachteiligt, mag sich so überhaupt nicht wehren gegen die Gewalt - einen muskelstarken, aber psychisch schwachen Vater zu Hause vor Augen, der es gerne anders hätte. Dann Kaspar, der die Haltung "alle gegen einen" nicht lange mitmacht, aber durch Tricks und Hinterhältigkeiten gerade der Urheberschaft der Prügeleien angeschwärzt wird - jedenfalls gegenüber seiner ängstlichen Oma, die zu Hause abseits aller Schulrealitäten auf ihren "guten Jungen" hofft. Beide "Gewaltlosen" wandeln sich dann im Laufe des Films zu denjenigen, die das blutige Ende herbeiführen - nicht ohne einen großen Teil der Sympathien der Zuschauer mitzunehmen.

"Wie kam es dazu?" das ist ja die beliebte Frage, wenn international blutige Ereignisse in Schulen durch die Nachrichten geistern. Ilmar Raag läßt seinen Film nicht einfach mit einem simplen Schuß und einem mahnenden Zeigefinder enden. Es breitet sich ein quälendes Szenario aus, das auch den Aspekt mit beleuchtet, dass eben mit einem Schuß nicht alles zu Ende und die Erleichterung der Täter vollkommen wäre. Da gibt es Verletzte, zufällig Getroffene, aus Versehen Erschossene und am Schluß einen ratlosen Kaspar, der vor seiner schwer verletzten Freundin am Ende doch die Entschlossenheit zu nur einer einzigen Lösung verliert.

Die Menschen in Ländern, wo "die Klasse" gezeigt
wird, werden sich jeweils an die dunkelsten und blutigsten Stunden auf Schulhöfen und in Universitäten erinnert sehen. Auch der New York Times fällt natürlich das Massaker auf dem Gelände der Columbine High School ein, und für Deutschland steht zum Beispiel der Name Erfurt. Auch Diskussionsbeiträge und Blogs zum Film gibt es in estnischer Sprache einige. Darunter sind auch Beiträge, die sich dafür aussprechen den Film in die Lehrmaterialien an allen Schulen aufzunehmen.

Ilmar Raag (Foto rechts) war auch schon in vielen anderen Funktionen für den estnischen Film aktiv. Für die estnische Filmstiftung, als Direktor des Estnischen Fernsehens ETV. Nun bekam Raag ein besonderes "Ehrenzeichen" von seinem Heimatland: Estland hat "Klass" für die Oskar-Verleihung 2008 anmelden lassen. Kontakt zu Raag aufzunehmen dürfte ebenso nicht schwer sein: er pflegt seinen eigenen Blog.

"Class" bei den Nordischen Filmtagen Lübeck 2007

New York Times

Liste der für den Titel "bester ausländischer Film" (Oscar 2008) eingereichten Filme

Blogbeitrag von Thalia Kell zu "Klass" (engl.)

Ilmar Raag's Blog (estnisch)

Mittwoch, Oktober 24, 2007

Nõmme in Tallinn


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Originally uploaded by kalevkevad
Kalevkevad ein Norweger aus Stavanger, der viel Zeit in Tallinn verbringt, hat einen Rundgang durch die Hauptstadt unternommen. Und zwar durch den Stadtteil Nõmme. Eine eigenartige Mischung. Es erinnert stark an Berlin-Tegel und dort zum Beispiel an Hermsdorf. Die breiten Straßen und die Architektur. Hier ist sie etwas anders, östlicher und doch mit vielen Vergleichsbeispielen wie Anlehnungen an das Bauhaus. Hier ist die Slideshow.

Montag, Oktober 22, 2007

Reden über Estland

Geschichtsbetrachtungen aus stalinistischen Zeiten, sie kehren wieder in den Medien-Auseinandersetzungen zwischen Estland und Russland mit einem Echo in Deutschland.
Darüber handelten die letzten beiden Posts. Aber wann können wir endlich weitergehen, jenseits der Faschismusvorwürfe? Zum Beispiel: Estland sei eine Diktatur gewesen 1939. Demnach egal, ob es befreit oder besetzt wurde. Aber so können wir nie diskutieren, warum die Vapsid, der Freiheitskämpferbund, versuchten die Macht in Estland, die Regierungsmacht, zu übernehmen Mitte der 30er. Die Vapsid, die Annäherungsversuche der nationalsozialistischen Deutschen in Estland ablehnten. Präsident Päts führte dann selbst eine autoritäre Staatsführung ein, um die Vapsid, den Freiheitskämpferbund fernzuhalten.
Alles zu kompliziert, ja.
Jetzt ist 2007 und die interessantesten Diskussionen über Estland und seine Minderheiten finden in der englischsprachigen Blogosphäre statt. Flasher_T,ein russischsprachiger Este verweist auf den nun folgenden Schulbuchstreit: This Place needs a chill. Er verlinkt dort auf sein "Estland steht noch" vom Mai diesen Jahres.
Und ein Link zu Stralau-Blog "Schöner sterben am Wasser", der unsere Linkpolitik kritisiert, und der noch aus erster Hand berichten kann, aus der DDR.

Mittwoch, Oktober 17, 2007

Warum Sozialisten so erfolglos sind ...

Es wäre ja so schön gewesen: alle Menschen werden Brüder (oder Schwestern), und linke Utopien wirken so schön sympatisch. Es hat wirklich eine Berechtigung, sich Gedanken zu machen über Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten in dieser Welt, um an Verbesserungen zu arbeiten.
Wenn da nicht so ein riesiges Loch klaffen würde zwischen schönen Sprüchen und realem geistigen Vermögen der Politikerinnen und Politiker, die vorgeben, solch edles Ansinnen umsetzen zu wollen. Statt Menschen mit ihren Erfahrungen zuzuhören, reisen Politiker eben oft gerne einfach durch die Welt, engstirnig und selbstherrlich, um nach so einer Schnellkur in interkulturellen Fast-Food-Erlebnissen anschließend vor die Presse zu treten und unbedacht dahergeredeten Müll zur neuen Erkenntnis zu erklären.
Anschauliches Beispiel ist seit dieser Woche die PDS/Linke-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke.

Warum sind Sozialisten so erfolglos, und wirken so weltfremd? Die Bezeichnung "Sozialisten" wird in den baltischen Staaten angesichts einschlägiger politischer Erfahrung mit denjenigen identifiziert, die erstens 1991 den Putsch gegen Gorbatschow unterstützten, und zweitens heute meinen, die Est/innen, Lett/innen und Litauer/innen würden immer noch den früher angeblich so angenehmen Errungenschaften des Sowjetsystems nachtrauern. Der Umbruch, die Wiedererlangung der Freiheit Estlands, Lettlands und Litauens, nur ein Irrtum extremistisch veranlagter Nationalisten?
Nun gut, momentan scheinen die "Balten" fast erstarrt in fest fixiertem Glauben in eine konsumorientierte Wohlstandsgesellschaft, Zehntausende Wanderarbeiter sind inzwischen in Irland oder England, und der baltische Mainstream ist weit davon entfernt, den Fortschritt beim Ausgleich sozialer Härten anzupacken. Aber entschuldigt das eine derart politische Blindheit, die historische Fakten ignoriert, und Esten, Letten und Litauer rücksichtslos vor den Kopf stößt?

Wer ein eigenes Hausorgan wie die "Junge Welt" hat, kann es sich wohl leisten (die so schön vorgaukelt, das Organ einer jungen frischen Generation zu sein - Leserbriefe zu schreiben, wird wohl kaum etwas nützen).

So kann man eben mal frisch behaupten:

- es gäbe kein demokratisches Parteiensystem in den baltischen Staaten. Hier zitiert Frau Jelpke sogar Quellen: das Buch "Aktuelle Probleme postsozialistischer Länder. Das Beispiel Lettland", erschienen im Verlag Wilhelm Surbir, Wittenbach. Autor ist der deutsche Politikwissenschaftler Axel Reetz. Allerdings scheint Frau Jelpke das Buch - das ansonsten sehr lesenswert ist - nur als Lektüre für den Rückflug benutzt zu haben. "Postsozialistisch" - das klingt so schön nach den Nachwehen vergangener Zeiten (war das Sowjetsystem eigentlich "postfreiheitlich" oder "postdemokratisch", bezogen auf die baltischen Staaten?). Es kann nur zu einem geraten werden: fragen Sie den Autor selbst, was er tatsächlich gemeint hat, denn er spricht tatsächlich fließend Estnisch und Lettisch und analysiert die Entwicklung in den baltischen Staaten schon lange (Kontakt kann vermittelt werden).

- Frau Jelpke meint, der "breiten Masse" (die sie selbstverständlich auf ihrer politischen Geschäftskurzreise ausführlich kennengelernt hat) gehe es "schlechter als zuvor". Was ist bitte "zuvor", Frau Jelpke? Ist es nicht vielmehr so, dass in den baltischen Staaten das Sowjetsystem beinahe schon vergessen scheint, nach 17 Jahren eigenständiger und demokratischer Entwicklung? Gerade deshalb muss die Erinnerung wach gehalten werden: das "Sowjetsystem" war eben keine angenehme Alternative zur faschistischen Besatzungszeit. Wer das im Zusammenhang mit den baltischen Staaten nicht begreifen will, dem fehlen schlicht alle fünf Sinne. Man kann den baltischen Staaten vorwerfen, zu leichtgläubig gegenüber einer konsumorientierten kapitalistischen Welt daherzukommen, und mit großem Risiko (viele müssen private Kredite aufnehmen!) auf eine gemeinsame Entwicklung im demokratischen Europa zu setzen. Aber wer ihnen einfach mal so erzählen möchte, Massendeportationen, Überwachungssystem, Okkupation und zwangsweise Zugehörigkeit zum Sowjetsystem habe es nie gegeben - der muss eben einfach nur schnell wieder wegreisen. Aber wenn dann nur solche Leute als "Linke" identifiziert werden, dürfte man sich nicht einmal über "Rechtsdrall" in der baltischen Politik beklagen. Auch linke Politik kommt nicht ohne Glaubwürdigkeit aus.

- im Land herrsche Antikommunismus und Russenhass. Ein Wunschtraum der deutschen Stalinisten, dass dies gleichzusetzen wäre! Tatsache ist: wer so blöde daherkommt, wie Frau Jelpke, kann keine Sympathien ernten. Dazu kommt die gebetsmühlenartige Wiederholung der Behauptung, die Rote Armee habe "das Baltikum befreit". Wer sich nur halbwegs mit politisch linken Ideen identifiziert, wird vor so viel stalinistisch angehauchtem Blödsinn peinlich angeekelt sein. Werbung für die Linke ist das nicht.

- die Sowjetunion hat ja wohl nicht die baltischen Staaten annektiert, um sie "vor den Nazis zu schonen". Danke, würden wir da wohl lieber sagen: wir entscheiden gerne selbst! Frau Jelpke wundert sich, dass die Geschichte in den Museen der baltischen Staaten völlig anders dargestellt wird. Da kann nur empfohlen werden: noch mal hinfahren, und ein wenig mehr Lernbereitschaft und weniger ideologische Verblendung mitbringen!

- und noch eine Korrektur:
"nach der Auflösung der UdSSR durch die von Michail Gorbatschow, damals Generalsekretär der KPdSU, ins Leben gerufene Perestroika erklärten die baltischen Nationen ihre Unabhängigkeit" erklärt Frau Jelpke. Ganz falsch, Frau Oberlehrerin, und auch hier liegt der Kern dessen begraben, was zur Basis des Verständnisses der baltischen Staaten heute gehört: Estland, Lettland und Litauen stellten ihre Unabhängigkeit wieder her, die ihnen 1940 und 1945 genommen worden war. Hier handelt es sich nicht um Demokratien von Russlands Gnaden! Das ist jüngste Vergangenheit, und jeder Este, Lette und Litauer, der es mit erkämpft hat, kann das bestätigen.

- Frau Jelpke bemängelt die mangelnde Aufarbeitung von Holocaust, Judenmord und Kollaboration mit den Nazis. Eine der vielen Gedenkstätten, die daran erinnern, hat sie offensichtlich nicht besucht. Die Berichte der baltischen historischen Kommission offensichtlich auch nicht gelesen. Aber sicher, wer so offensichtlich die "einseitige Verurteilung des Stalinismus" im Baltikum beklagt - also Mord, Deportation und politischer Verfolgung das Wort redet - wird auch gerade mal besserwisserisch "fehlende Aufarbeitung" in fremden Ländern bemängeln dürfen. Herzlichen Glückwunsch, ein Bärendienst!

- Frau Jelpke bemängelt es, dass es Prüfungen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft gibt, in deren Rahmen auch Geschichtskenntnisse abgefragt werden. Wer noch an deren Notwendigkeit zweifeln sollte, braucht ja nur Jelpkes Artikel zu lesen! Aber noch einmal: die Tatsache, dass einige Einwohner sich immer noch nicht zur Erlangung der lettischen oder estnischen Staatsbürgerschaft entscheiden mögen, heißt eben nicht, dass alle so denken wie unverbesserliche Stalinisten (oder Frau Jelpke). Im Gegenteil: Russen sprechen zunehmend Estnisch oder Lettisch im Alltag, und im Gegenzug geht das Russische nicht verloren. In Estland haben auch "Nicht-Staatsbürger" kommunales Wahlrecht, und damit mehr als in Deutschland. Frau Jelpke deutete es einfach um: das Zusammenleben "funktioniere besser, als von der Politik beabsichtigt". Na also!

- doch nun kommt es: im Rausch des Eintretens für "Migranten" plädiert Frau Jelpke sogar für die Öffnung der baltischen Arbeitsmärkte für Billiglohnkräfte aus Osteuropa! Und hier färbt die Innenpolitikerin durch und vergleicht Immigrationspolitik in Deutschland mit dem Arbeitskräftemangel in den baltischen Staaten. "Große Firmen" seien auf den Zuzug von Arbeitskräften aus Osteuropa angewiesen - ein verstecktes Plädoyer für die globalisierte Wirtschaft? Können Sie sich damit zu Hause noch sehen lassen, Frau Jelpke?

- Frau Jelpke meint Meinungsumfragen zitieren zu müssen, die "EU-Skepsis" zeigen. Tatsächlich ist das momentane Bild aber sehr indifferent: während die EU-Zustimmung der Litauer bei über 70% liegt, die der Esten moderat darunter, erweisen sich momentan nur die Letten als EU-Skeptiker. Oder wollte hier jemand unterstellen, alle Balten seien "heimlich gegen das System"? Worauf dann wieder jemand kommen könnte, um sie gegen ihren Willen zu "befreien"?

- Freund/innen hat Frau Jelpke wohl keine Freund/innen gefunden in den baltischen Staaten, nicht einmal politisch (linke). Schon die Aufzählung der kathegorisch zersplitterten Parteienlandschaft fällt offensichtlich schwer und macht schon beim lettischen Politiker Janis Jurkans halt, der inzwischen längst nicht mehr Leitfigur ist. Andere bestimmen das Bild, aber hier ein wenig mehr zu analysieren, fällt wohl schwer. Es würde kein gutes Bild abgeben für die Linke!

- als es die Sowjetunion noch gab, da "gab es das Recht auf eigene Wohnung und einen wirksamen Kündigungsschutz" (Jelpke). Selten so gelacht! Glück hat, wer diese brüchigen Wohnungsbauprojekte Ende der 80er Jahre noch erlebt hat: von zentrale Zuweisungen, endloser Bürokratie, aufgeschobenen Reparaturen, Zwangs-Kommunalkas - davon hat die "Westpflanze" Jelpke wohl noch nie etwas gehört.

Bei so viel offensichtlicher Unkenntnis fallen auch die wenigen richtig angesprochenen Schwachpunkte (z.B. Datenschutz, oder verschäfte Sicherheitspolitik) leider nicht mehr ins Gewicht.

Der bessere Verträglichkeit dieses Beitrags zugunsten wird an dieser Stelle auf eine illustrative Darstellung unserer "Heldin" oder viele Links verzichtet. Vergessen werden wir diesen Beitrag aber nicht ("Junge Welt", 17.10.07). Sollte nochmals ein/e deutsche/r Politiker/in kurzfristig eine Dienstreise in die baltischen Staaten planen, und Illusionen darüber haben, Deutsche könnte sich dort nicht blamieren: lesen Sie Jelpke!

Geschichtsmythen in Deutschland


Nearby Pronkssodur
Originally uploaded by Jens-Olaf
Sahra Wagenknecht, eine der bekanntesten Vertreterinnen der Linkspartei, hatte diese Behauptung auf ihrer Webseite:
"Mündliche Anfrage der Europaparlamentarierin Sahra Wagenknecht (Linkspartei.PDS) an die EU-Kommission bezüglich der »geplanten Zerstörung sowjetischer Denkmäler in Estland, d..."


Zerstörung schreibt sie , obwohl es um die Versetzung eines Denkmals ging.

Und Ulla Jelpke legt jetzt in Junge Welt nach. Sie "ist Mitglied der Bundestagsfraktion von »Die Linke« und deren innenpolitische Sprecherin"

"Dabei verdanken Litauen, Lettland und Estland ihre Existenz als selbständige Staaten dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk aus dem Jahr 1918 zwischen dem Deutschen Kaiserreich und Sowjetrußland."


Verdanken? 1918? Den Unabhängigkeitskrieg gibt es wohl nicht und den Friedenschluss mit der Sowjetunion, die Estland auf ewig anerkannte, auch nicht.

"Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, 1939, gab es im geheimen Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag eine Aufteilung der Interessensphären, wonach Litauen, Lettland und Estland von den Nazis verschont bleiben sollten."


Verschont? Regierungsmitglieder. Parlamentarier fast alle wichtigen Persönlichkeiten, Politik und Militär des estnischen Staates wurden festgenommen, deportiert, ermordet oder flohen rechtzeitig, bevor die Nazis kamen. Im Sommer 1941 rollten die Güterzüge mit willkürlich Verhafteten und nicht wenigen Kindern,Richtung Sibirien.

"Im August 1940 entschieden sich die Bürger der drei baltischen Staaten in Volksabstimmungen für den Anschluß an die UdSSR als sozialistische Sowjetrepubliken."


"Entschieden sich die Bürger"? Jeder, der es wissen will, kann nachlesen, dass Gegenkandidaten ausgeschlossen wurden, war da nicht auch Militär? Sowjetisches. Durch die Sowjetunion verschont? Finnland wird sich ebenfalls für den Winterkrieg bedanken oder was?


Das Foto stammt oben vom Soldatenfriedhof in Tallinn, wo jetzt in der Mitte der umstrittene Bronzene Soldat steht. Wenig daneben zum Beispiel der abgebildete Gedenkstein. Der Friedhof ist gleichzeitig einer der wichtigsten Bestattungsorte für estnische Militärangehörige.
Um bei Geschichtsklischees zu bleiben. Einer der ersten Symphonien, die ich mir als Schallplatte gekauft habe, war die Leningrader von Schostakowitsch. Zuerst wird das "friedliche" Vorkriegsleben in der Sowjetunion gezeichnet, um sich musikalisch mehr in einen Militärmarsch zu verwandeln. Der Überfall der Wehrmacht. Am Ende wird dieser Gegner auch in der Melodie besiegt. So einfach war das.
Nur 1939 waren "17 Millionen" Menschen in der Sowjetunion vermisst.
The Census Bureau had just enough time to put an announcement in Izvestia saying that 17 Million people were missing, before the census-makers themselfs were shot.

Norman Davies "Europe At War", zitiert hier Robert Conquest.

Update: Ein Zeitungsartikel aus Moskau News vom Juli 1991. So wurde berichtet,als der Zugang zu den Archiven möglich wurde. In der Sowjetunion, in Moskau: "Hand in Hand mit der Gestapo. Stalins Geheimdienst hat Hunderte Antifaschisten nach Deutschland abgeschoben." von Irina Schtscherbkowa

Montag, Oktober 15, 2007

Magnus der Film - und die künstlerische Freiheit

Magnus ist ein estnischer Film. Idee und Drehorte stammen von hier, siehe letzte Posts. Aber der Film kann nicht in allen Theatern laufen. Weil jemand sich in den Filmszenen wiedererkennt. Eine Parallele zu Maxim Biller und seinem Roman Esra. Seit 2003 ist das Verfahren in der Schwebe in Deutschland. Die FAZ berichtet regelmässig, jetzt heisst es bei Nils Minkmar:
Leider vermischen sich auch in der Debatte um Maxim Billers verbotenen Roman „Esra“ die Empfindungen über den Autor als Zeitgenossen mit der Würdigung des literarischen Gehalts des Buches. Denn der Fall „Esra“ wäre gar kein Fall, wenn dies nicht ein so gutes Buch wäre. All die anderen Bücher, die in den letzten Jahren im Zuge von solchen Persönlichkeitsrechtsprozessen bekannt wurden, hat man mehr oder weniger zu Recht vergessen. In diesem Fall liegen die Dinge völlig anders: Wer dieses Buch gelesen hat, wird es nie vergessen: Ein so von Liebesschmerz, Liebesglück und allgemeinen Liebeswirren durchdrungenes und dabei kompromisslos modernes, ja in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch hat es in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gegeben. Es reicht dabei tief in die dunkelsten Ecken der Liebe und schildert virtuos die ganz leichte Alltagsoberfläche des Münchens der frühen neunziger Jahre, die sich wie Staub über das Drama legt. Biller ist es gelungen, ein Deutsch zu finden, das wie eben erzählt klingt und doch sorgsam komponiert und treffend, teuflisch suggestiv wirkt.

Das Verfassungsgericht hat endgültig gegen das Buch entschieden. Weil es "intimste Details" enthält. Bei Magnus ist das nicht der Fall, und die Geschichte ist künstlerisch verfremdet.
Kadri Kousaar hat eine Filmsprache gefunden, die auch jenseits von gewöhnlichen Alltagsbeschreibungen liegt. Nach den Cannes-Vorführungen hat es Variety.com so formuliert:
Kousaar's talent is enhanced by the good judgment of not being too timid with her creative gambles or overusing them as many first-timers do.

Montag, Oktober 08, 2007

Kadri Kõusaar II

Sie ist Jahrgang 1980, hat mit 13 Jahren angefangen journalistisch zu arbeiten, auch fürs Radio, schreibt während des Internationalen Film Festivals in Korea Kolumnen für das wichtigste estnische Wochenmagazin Eesti Ekspress, selbst von Korea aus, hat schon mehrere Bücher veröffentlicht. Aber in Busan stellt sie ihren ersten Film vor. Wahrscheinlich ist Filmemachen der nächste Schwerpunkt ihrer Projekte. Und mit ihrem Film war es die erste estnische Produktion, die in Cannes, ebenfalls in diesem Sommer, jemals als unabhängig produzierter Film aus dem immer noch recht unbekannten und nördlichen Land vorgestellt wurde.
Kousaar
"Hinter der Leinwand" bedeutet häufig so eine Szene: Die Estin, eine Filmpromoterin mit ihrer Tochter, ein Fotograf und zwei Interviewerinnen. Das sind die Pflichten, die bei einem Festival als Beteiligter absolviert werden müssen.
Kousaar II
Ausserdem ist sie eine der Wenigen, die jetzt noch schwimmen gehen in Busan. Wüßte nicht, dass noch andere Filmdirektoren das Wasser getestet haben. Außer ein paar Surfern, war nichts mehr los. In der Mitte des Fotos einer der Haupttreffpunkte des Filmfestivals, der Piff Pavilon.

Kousaar - film director
Trotzdem, Wald und Wasser und Abgeschiedenheit sind für viele Esten wichtig. Eine der wichtigsten Szenen neben dem offiziellen Programm findet hier statt, vielleicht eine Idee für zukünftige Produktionen:

Und wenn schon 10 000 km entfernt über Estland gesprochen wird. Wir haben dieselben Menschen kennengelernt und darüber berichtet, wie zum Beispiel die erwähnte "Magnetnaine" aus einem der letzten Posts.
Update: 9.10.2007
Und so sieht das Ergebnis des Interviews in der Tageszeitung Pusan Ilbo aus.
Kadri Kousaar Pusan Ilbo
Zahlenspiele: Diese Tageszeitung hat eine Auflage von 600 000. Damit dürfte sie für eine zeitlang die bekannteste Estin in dieser Gegend sein. Die größte estnische Tageszeitung hat übrigens eine Auflage von etwa 68 000. Nur mal so zum Vergleich. Und gerechterweise angemerkt, die Zahlen sagen nichts über die Qualität einer Zeitung aus. Aber wem sag ich das.
Update 11.10.2007
Der estnische Film hat einen festen Platz bei diesem Festival. Nimed Marmortahvlil zum Beispiel, oder Shop of Dreams 2005, The revolution of pigs.
Nur Magnus hat ein Problem, die Vorstellung des Films in Busan war am Dienstag.
Die kann als Erfolg verbucht werden, wichtige Tageszeitungen in Korea werden berichten, allerdings hat die Sache einen Haken. Gegen den Film “Magnus” läuft ein Verfahren in Estland. Er wurde gedreht nach einer wahren Begebenheit und obwohl Namen und alles geändert wurden, hat sich eine darin verwickelte Person wiedererkannt und persönlich bloßgestellt gefühlt. So traut sich kaum ein Kinobetreiber diesen Film aufzuführen, und man kann damit auch nichts verdienen, eine vertrackte Situation. Drei Jahre Arbeit stecken bereits in diesem Projekt

Nachtrag 25.10., hier ein Video über das Zusammenteffen einiger koreanischer Mittelstufen-Schülerinnen mit der estnischen Filmdirektorin.

Freitag, Oktober 05, 2007

Kadri Kõusaar


Kadri Kõusaar
Originally uploaded by Jens-Olaf
Ist ihr aktueller Film Magnus auf dem Index in Estland oder nicht?. Mit Jahrgang 1980 eine beachtliche Leistung. In Busan, Korea, wird der Film während des Pusan International Film Festival aufgeführt. Unter einer neuen Rubrik: Flash Forward.
Sie war der erste Newcomer der Esten überhaupt in Cannes 2007,
gegen Ende des folgenden Festivals werden Updates folgen.

Kadris Homepage.

Aus den director's notes von der Webseite "Magnusfilm":
Once I asked a famous author how does one recognize the day when one has to write the first sentence of the first novel. The author replied that when this day comes, one would just recognize it, like you'll understand when you're in love when you're in love. It really is so.
I recognized my first love, my first book and... my first film.
The idea about Father and Son grabbed me totally and wouldn't set me free. I would have liked to have my writer's idyll back: to sip tea and write on the laptop in my cosy kitchen. Now, in addition to having tea and typing on the laptop, I had to beg for money, support and advice, I had to organize, run around, explain WHY.


Und weiter:
I was lucky to meet Donal Fernandes, who was sufficiently good-willing, crazy and bold to do something what hundreds of other film buffs hadn't dared to do – to produce the first Estonian independent feature film.


Das heisst, die ersten Tage des Filmfestivals hat sie viele repraesentative Aufgaben wie Interviews und Stellungnahmen uebernommen. Die Busan Ilbo, die Tageszeitung der 4 Millionenstadt wird ebenfalls berichten. Ein seltener Fall, dass das Wort Estland fallen wird. Die Vorstellung des Films beim Festival wird mitte naechster Woche sein.

Montag, Oktober 01, 2007

Alles Junkies, die Deutschen!

Nun geht es also doch nicht ganz allein, als "Gutsherrenprojekt" zwischen Ex-Kanzler Schröder und dem "lupenreinen Demokraten" Putin angekündigt. Hat da jemand den beiden Gas-Kumpeln mit einem dicken Strich einfach mal eine Pipeline auf die Ostseekarte gemalt? Was anfangs allein als Projekt zwischen Russland und Deutschland (und den entsprechenden Energiekonzernen) angekündigt war - inzwischen müssen eine Reihe weiterer Ostseeanrainer einbezogen werden. Als Paradestück deutschen Renomées im Ostseeraum steht es jedenfalls keinesfalls mehr da.

(Foto: TAZ / DPA) Deutschland hänge "wie ein Junkie" am russischen Erdgas - diese Äußerung der estnischen Parlaments- präsidentin Ene Ergmaa meldet AFP am 30.9. (AFP / Verivox). Die TAZ geht schon einen Schritt weiter, und erklärt den Zeitplan für den Pipelinebau als ins Wanken geraten (TAZ). Anlaß ist die Weigerung Estlands zur Erlaubnis von "Voruntersuchungen" in estnischem Seegebiet: vor Estland wäre der Meeresboden flacher, und gleichzeitig tiefer gelegen. Eine Route über Finnland würde umfangreiche Sprengungen erfolgen. Letzteres würde unüberschaubare Folgen für die Fisch- und Vogelpopulationen haben, zitiert die TAZ Jorma Jantunen von der Umweltbehörde der Provinzverwaltung im finnischen Uusimaa.

Das NordStream-Konsortium selbst (an dem die russische GazProm 51%, E-ON Ruhrgas und Wintershall je 25% Anteile halten) gab am 21.August die Verlegung der Pipeline-Route nördlich der dänischen Insel Bornholm bekannt - angeblich, um noch am Meeresboden befindliche Munitionsreste aus dem 2.Weltkrieg zu umgehen. Nun ist die neue Route aber nahe den schwedischen Gewässern, und dortige Fischer geraten bereits in Aufregung.

Die Ukraine, Litauen und Polen sind gleichfalls abgeschreckt von dieser Strategie (erst Baubeginn bekannt geben, dann Einzelheiten verhandeln). Da kann auch nicht die Zusicherung deutscher Politiker trösten, man könne ja jederzeit das Gas dann aus Deutschland beziehen, denn für den Bau einer Energiebrücke zwischen Polen und Litauen ist bereits ebenfalls grünes Licht gegeben.

Schon tauchen aber auch Kostenargumente in der Diskussion auf. Der Bau der Pipeline wird immer teurer; angeblich ist der Gasbedarf niedriger, als bei Abschluß des Vertrages zwischen Putin und Schröder kalkuliert. Andererseits ist klar, dass die strikte Weigerung Estlands gegen Voruntersuchungen zur Pipeline die estnisch-russischen Beziehungen nicht verbessern helfen kann. Dem entsprechend zitiert die russischsprachige Presse auch regierungskritische Pressestimmen in Estland: da wird etwa die Ausgabe von "Eesti Päevaleht" vom 20.9. zitiert, in der die Regierungsentscheidung als "hinsichtlich der langfristigen Interessen Estlands" als "dumme und kurzsichtige Politik" kommentiert worden sei. Oder "Postimees" vom 24.9.: "Die Innenpolitik wird zunehmend von traumatischem Nationalismus, Russenhass, Populismus sowie von einem Kult apokalytischer Szenarien und Bedrohungen geprägt." Und „Pöhjarannik“ habe am 24.09. geschrieben: "Nun wird das Rohr auf der finnischen Seite verlegt (…) Estland wird sich indes in europäische Sackgasse verwandeln." (Aussagen zitiert in: RIA NOVOSTI vom 28.9.07).

Aus deutscher Sicht muss sicherlich erinnert werden, dass Estland eher als "Ölschieferjunkie" dasteht (wenn man solche Vergleiche schon bemüht), oder auch, zusammen mit den baltischen Nachbarn, als "Atom-Jünger" (in Litauen soll ein neues, teures Atomkraftwerk gebaut werden, ganz im Sinne immer wiederkehrender Lobpreisungen natürlich besser, sicherer und effektiver als alle AKWs vorher ...)

Oder erkundigen wir uns doch mal selbst, was "unser Mann bei Gazprom & Nordstream" so macht. Die Handynummer von NordStream-Manager Jens Müller ist die folgende: +41-792959608.