Kaum zu wiederholen sind die vielen unterschiedlichen Meldungen der Tagespresse - aber ein paar Gedanken möchte ich festhalten. Etwas zur Ruhe gekommen, wird es auch um Einschätzungen gehen, was hier eigentlich passiert ist. Mir selbst ist in diesen Tagen sehr Unterschiedliches durch den Kopf gegangen. (Foto: Eesti Express)
1) Etwas hat sich verändert. Zurecht wurde daran erinnert, dass Estland und die baltischen Staaten jetzt schon seit Anfang der 90er Jahre von jeglichen gewaltsamen Unruhen verschont wurden. Damals waren die Ereignisse oft ganz anders in die Weltpolitik eingebunden: als die schwarzen Barette 1991 in Litauen und Lettland losschlugen, schaute die Welt gebannt auf den Irak. Diesmal bestimmte Moskau selbst das Drehbuch: ein Abbruch des Abrüstungsprozesses wurde offen angekündigt. Und Unruhen in Tallinn waren Moskau offensichtlich sehr willkommen.
2) Die geplante Umsetzung des Bronzesoldaten war schon seit Monaten Thema einer eher quälenden Diskussion. Ich gebe zu, auch ich hatte gehofft, dass es mit dem Ende des estnischen Parlamentswahlkampfes endlich wieder ruhiger zugehen würde. Soldatengräber sind eben eigentlich "nur" Soldatengräber, und Toten (egal unter welchem Banner sie kämpften) gebührt ihre Ruhe. Nun diese hektische Aktion, noch bevor erneut "eine Befreiung Estlands" gefeiert werden konnte (wie es die Sowjetnolstalgiker tun), und bevor andere "Russen raus" rufen konnten. Eine Aktion in bester Absicht? Vielleicht ist ja doch irgend etwas verpaßt worden, wenn nur noch Polizeigewalt hilft. Allerdings: nur um dieses Denkmal ging es den randalierenden Jugendlichen wohl kaum.
3) Erstaunlich, wie gut informiert die deutsche Presse berichtete. Kaum Häme, kaum Vorteile oder Vorwürfe. Nicht einmal in den direkten Zusammenhang von US-amerikanischen Raketenträumen und russischem Abrüstungs-Aufkündigung wurden die Ereignisse gestellt. Wahrscheinlich dominierte derselbe schreckliche Gedanke im Hinterkopf - geäussert auch im "Russland-Forum": Kalter Krieg, die Zweite?
Aber der Russland-interne erschreckende Umgang mit Demonstrationsfreiheit und Demokratie hat wohl viele potentielle Russland-Freunde verstummen lassen. Allzu schnell trat in Tallinn auch Zerstörungswut und Lust an der Randale in den Vordergrund. Alle verstummt? Nein, nur Altkanzler Schröder wiederholte auf dümmlichste Art die Headlines der staatlich kontrollierten russischen Staatspropaganda. Kein Ruhmesblatt für einen Deutschen.
4) Estland, das ist Englisch. Jens-Olaf bemerkte schon in diesem Forum, dass auch Regierungschef Ansip "kein Kommunikationstalent" sei. Das, was sich estnische Politiker und Diplomaten im deutschen Fernsehen geleistet haben, war ebenfalls keine Glanzleistung. Einschließlich des estnischen Botschafters. Ja, kann denn hier niemand vernünftiges Deutsch, wenn es darum geht, den Deutschen die eigene Perspektive zu erklären? Damit verglichen, haben die Deutschen erstaunlich viel von der estnischen Perspektive verstanden. Hat jemand die 3sat-Sendung von heute gesehen ("Kulturzeit"), wo ein estnischer Künstler, befragt nach den Ereignissen und einer Einschätzung, minutenlang augenrollend vor sich hin stammelte?
5) Estland, das ist Internet. Ja, aber nicht alles läßt sich so schön allgemeinverständlich wie anonym vorbereiten, dass es andere dann nur noch wortlos ablesen müssen. Liebe Esten, redet mit uns! Oder besser noch: redet mit den Menschen in Estland; möglichst mit allen. Es können doch nicht alles nur Technokraten, Handyfuzzies und Börsenspekulanten sein?
6) Russland wütet. "Liebe Russen," möchte man am liebsten sagen, "habt ihr wirklich den kapitalistischen Konsumrausch jetzt schon so satt, dass ihr blind drauflos wütet, berauscht vom billigen Fusel alles zerschlagt - war es das, was gemeint war?"
Die russische Politik nutzt es weidlich aus. Im Deutschlandradio heute ein guter Bericht zu jungen russischen Nationalisten, die vom Slogan "alle Esten sind Faschisten" überzeugt scheinen. Das kann es ja wohl nicht sein! Aber Putin und seine Gefolgsleute tun wenig, um die angeblich beabsichtigte Menschenliebe, Verständnis und Frieden zu fördern. Heute wütete eine offizielle Delegation der Duma durch Estland, ignorierte alle von den estnischen Gastgebern vorbereiteten Gesprächsangebote, düpierte selbst die versammelte Weltpresse, und führte sich als Möchtegern-Retter von inhaftierten Randalierern auf. Sowas gibt allen, die selbst genügend Freunde in Russland (oder eben Russen in Estland) haben, schmerzliche Stiche. Erschreckende Dümmlichkeit.
Wer nicht wütet, ist Schirinowski. Schon öfter traute er sich öffentlich von einer "Rückeroberung des Baltikums" zu träumen, nun reagiert er anders. In einem Vorort von Moskau (Chimki) wurde nämlich ein sowjetisches Denkmal stillschweigend abgeräumt, und wenn man Presseberichten glauben kann (wiederum Russland-Aktuell), dann gingen bei dieser Umbettung sogar die sterblichen Überreste der Soldaten verloren. Nun will der bekannt impulsive Schirinowski lieber erst mal im eigenen Lande kümmern - führte aber dennoch die Domonstrationen vor der estnischen Botschaft in Moskau an.
Unter den Bloggern - auch unter denen, die sonst wenig mit Estland zu tun haben - wird kommentiert. Auch hier erstaunlich besonnen, und im Wissen um Zusammenhänge (Beispiele: schonleben.de, Readers Edition, Zettels Raum, Frisch gebloggt, Zurpolitik). Das läßt den Schluß zu: Estland ist in Europa nicht so unbekannt mehr. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage sowieso nicht.
Und Heise.de meldet, unbekannte Hacker haben die Webseite des estnischen Außenministeriums gestern zum Zusammenbruch gebracht. Inzwischen steht sie wieder.
Nun kommt der Mai. Hoffentlich ein friedlicher.