Musikalische Lehrstunde
"Es ist sooo gail!" Die estnische Musikerin Kadri Voorand sitzt am Piano und hält Zweige in die Luft, die aussehen wir dürre Nadelhölzer. Das Konzert wird unterbrochen, es werden Zweige im Publikum verteilt. Kadri Voorand singt von der estnischen Natur, von Vater und Mutter, von der Liebe. Auch von estnischen Traditionen und wundervollen Gerüchen, die gerade diese Zweige - frisch entnommen der estnischen Natur - verströmen sollen. Ein ganz besonderes Musikerlebnis - die Konzertgäste zeigen sich bewegt bis irritiert. Schon an vielen Orten in Deutschland ist die estnische Musikerin zusammen mit dem Bassisten Mihkel Mälgand aufgetreten, aber "Musik durch die Nase" wurde wohl noch nie geboten. Wir befinden uns auf der "Baltic Night" im "Zentrum für Kunst" in Bremen, ein Ereignis, aus dessen Anlass erstmals im Rahmen der Messe "Jazzahead" an einem Abend nacheinander estnische, dann lettische und schließlich litauische Musikerinnen und Musiker ihren Auftritt hatten.
Naturkalender am Kräuterpiano
Kadri Voorand erzeugt Nachwirkungen. Natürlich lassen uns die dargebotenen wohlriechenden "Zauberpflanzen" keine Ruhe. Nein, wie man vielleicht denken könnte, Wacholder (estn.= "kadakas") ist es diesmal nicht. Kadakas wäre ja auch zum Beispiel auf Hiiumaa in Geschenkpackungen als Seife oder Duschgel erhältlich. Oder als Wacholdersirup aus Saaremaa, nicht zu vergessen die alkoholische Variante, die heutzutage meist nur noch "Gin" (džinn) genannt wird.
Diesmal geht es aber um etwas anderes. Kadri Voorands Ausruf "sooo gail" war nicht einfach als Anbiederung an das deutschsprachige Publikum gemeint, sondern bezieht sich auf den estnischen Pflanzennamen: Sookail (ledum palustre). Der estnische "Looduskalender" (Naturkalender) verknüpft die Informationen zu dieser Pflanze gleich mit einer Warnung: "Wenn man draußen in einem Zelt übernachtet kann man davon ziemliche Kopfschmerzen bekommen und sogar krank werden", so die Warnung. Dem gegenüber steht als Empfehlung: "nur für den Schutz vor Motten geeignet". Der "Sookail" ströme ätherische Öle aus von "schwindelerregenden atemberaubenden Geruch" (maakodu).
Wahnsinnig berauschend, oder was?
Wer hat in Deutschland schon einmal "Sumpfporst" gesehen oder gerochen? Die Pflanze wächst bevorzugt in Hochmooren, auf nassen und kalkfreien Torfböden, und wurde früher zur Heilkunde verwendet, heißt es - nun aber wegen giftiger Bestandteile nicht mehr. Ein Relikt der Eiszeit. In Deutschland inzwischen, vor allem im Süden und Westen, nahezu ausgerottet (meint Wikipedia). "Der Inhaltsstoff Ledol hat oral eingenommen eine stark berauschende und narkotische Wirkung mit agressivem Charakter" (similasan). Ist das etwa der Grund, warum es so viele gruselige Geschichten von Menschen gibt, die orientierungslos im Moor herumgeirrt sind – vielleicht haben sie alle Sumpfporst gerochen …?
In Estland wie in Lettland kommt Sumpfporst aber noch derartig häufig vor, dass überall Warnungen zu lesen sind: Die Anwendung in der Naturheilkunde sollte mit ihrem Arzt oder Apotheker abgesprochen werden! Gleichzeitig wird online Abhilfe versprochen: "hierzu beraten Sie unsere Apotheker gerne" (meine-teemischung - 100g Sumpfporst kosten hier 20 Euro). An anderer Stelle kann Ähnliches mit dem englischen Begriff 'Labradortee' erworben werden. In Estland oder Lettland ist "Sumpfporst-Tee" (lettisch:"Purva vaivariņš") bei den verfügbaren Teemischungen relativ leicht zu finden und frei verkäuflich: Rezept: 5 Gramm Blüten und Blätter, in einem Glas mit heißem Wasser aufgießen und 15 bis 20 Minuten ziehen lassen (mammauntetim). So verschreibt es der lettische Arzt Artūrs Tereško als "Phytotherapie" (Kräutermedizin). Das "Estnisches Etymologie-Wörterbuch" (ETY) weist darauf hin, dass Estinnen und Esten in früherer Zeit die Kenntnisse zu dieser Pflanze und der estnischen Bezeichnung dafür eher nicht von den Deutschen, sondern von den Schweden übernommen hätten.
Wie wir in der "Livländischen Gourvernementszeitung", Ausgabe 2.7.1858 bereits nachlesen können, wurde Sumpfporst zur Herstellung von Bier verwendet, bevor im 13. Jahrhundert sich der Gebrauch von Hopfen immer mehr durchsetzte. "Im nördlichen Europa und Schweden war es früher in Gebrauch, dem Malztrank durch Ledum palustre (Sumpfporst, wilder Rosmarin), eine dort gewöhnliche Haidepflanze, Bitterkeit und eine Art von Stärke mitzutheilen." Auch die Wirkung wird beschrieben: das Bier "steige ungewöhnlich nach dem Kopfe", und auch Kopfschmerz, Ekel, und "bei übermäßigem Trinken sogar Wahnsinn" könne auftreten.
Nun ja, in Deutschland wird nur sehr selten jemand einen Strauch "Sumpfporst" von einer Wanderung mitbringen - er wäre wohl auch verboten, da es sich um eine in Deutschland streng geschützte Art handelt. Sogar Portale wie "Mein schöner Garten" geben zu, dass die Pflanze wohl unter dem Torfabbau stark zu leiden hatte. Ist das Biotop erst mal weg, kommt auch der Porst nicht wieder (nur beim Kauf im Gartencenter).

Porst ins Bier, das rat ich Dir
Es wäre in diesem Zusammenhang aber noch ein weiteres Fachgebiet zu entdecken: die Herstellung von "Grutbier". Die "Brauwelt" berichtet: "Am 1. Februar 2025 feierten Craft Bier-Fans auf der ganzen Welt den 13. International Gruitday. Dieser Tag ist der Feiertag des Grutbieres, eines Bieres gebraut mit Würzkräutern anstelle oder in Ergänzung des Hopfens, so wie es im Mittelalter Brauch war." Bezug genommen wird hier auf lateinische Quellen des Mittelalters, in denen "Grut" gleichbedeutend gewesen sei mit "fermentum, materia, levarentur und pigmentum" - also: Substanzen zur Herstellung von Bier. (Brauwelt) Genauer gesagt: als häufigste Zutaten zum Bier galten damals "Gagel und Porst" (Gagelstrauch und Sumpfporst). Gleichzeitig wird zugegeben: wer damals noch über "Gagel und Porst" hinausgehen wollte, griff auch zu Fliegenpilz, schwarzem Bilsenkraut, Tollkirsche und Stechapfel - alle mit (mindestens) halluzinogenen Eigenschaften. Wir ahnen die Bedeutung eines "Reinheitsgebots", auf dessen verschiedene Traditionen ja besonders das bayrische Bier besonders stolz ist.
Bei "Hopfenhelden" wird nicht ohne Stolz auf heutige Hersteller von "Grutbier" verwiesen, so ungefähr nach dem Motto: hast Du eine Kräuterwiese, kannst Du auch Grutbier brauen. "Porst" wird dabei allerdings nicht erwähnt, denn, wie gesagt: in Deutschland gibt es ihn beinahe nicht mehr, und er steht unter Artenschutz. Dennoch, wer's kräuterhaltig mag: Wohl bekommt's!
Eine Erkenntnis: beim Genuss von estnischer Musik können wir einiges lernen - wenn wir nur richtig hinriechen. Vielleicht nicht "super-geil", aber irgendwie gut.