Samstag, Dezember 31, 2022

Rückblick auf Edgar

Nun hat also dieses recht schwierige Jahr 2022 doch noch einen weiteren Grund gefunden, es zu bilanzieren - und diese Bilanz reicht gleich einige Jahrzehnte zurück. Edgar Savisaar ist gestorben. 

Schon die Presseschlagzeilen zeigen Unterschiede: entweder "Ex-Regierungschef" (Spiegel), "Kämpfer für die Unabhängigkeit" (Süddeutsche), "eine Legende" (Estonian World), oder eben seine Selbstbezeichnung: "Ich bin Dissident" (Postimees). Oder so, wie ihn andere sehen: "Edgar Savisaar, das Phänomen." (err)

Man liegt sicher ungefähr richtig, wenn man ihn als "Schlüsselfigur bei der Wiedererringung der Unabhängigkeit Estlands" bezeichnet. Die 72 Jahre seiner Lebenszeit, zwischen 1950 und 2022, sind auch eine für Estland bedeutende Zeitspanne. Ganz besonders brisant wurde es zwischen dem 15. Mai 1990, als Savisaar die Gegenwehr der estnischen Bevölkerung gegen einen kommunistisch-sowjetischen Umsturzversuch organisierte, und dem Putsch in Moskau im August 1990, als Savisaar dann für Estland die Unabhängigkeit erklärte. Dabei war Savisaar im Moment des Putsches noch in Stockholm gewesen und musste dann über Helsinki zusammen mit dem damaligen Außenminister Lennart Meri in einem kleinen Motorboot nach Tallinn zurückkehren.

Das Theater "NO99" widmete Savisaar ein eigenes Theaterstück, unter anderem mit der Begründung, er sei einer der umstrittensten Politiker Estlands. Im Ankündigungstext heißt es: "Seine Karriere hat eine ziemlich unglaubliche Wandlungen durchlaufen, von einem kommunistischen Apparatachik über einen nationalistischen Oppositionsführer während der späten Sowjetunion bis hin zum ersten Ministerpräsidenten des gerade wieder unabhängigen Estlands, dann zum Führer der Opposition, die hauptsächlich von der lokalen russischsprachigen Bevölkerung unterstützt wurde."

Jedenfalls gab es auch Zeiten, wo zumindest das Gefühl aufkam, Savisaar könnte besser auch mal anderen Platz machen, ob als Regierungschef, Parteichef oder Bürgermeister von Tallinn. 2004 blieb Savisaars Haltung zum EU-Beitritt eher im Unklaren, 2007 wollte er offenbar dadurch punkten, in dem er sich gegen die Versetzung des sogenannten "Bronzesoldaten" aussprach. 2010 gab es Anschuldigungen, Savisaar habe Gelder aus Russland für den Wahlkampf seiner Partei angenommen. 2014 fiel er durch merkwürdige Äusserungen zur russischen Besetzung der Krim auf (Baltic Course), die Zentrumspartei kündigte das Kooperationsabkommen mit "Einiges Russland" erst im März 2022. 2015 gab es dann zunächst eine weitere Korruptionsanklage, es folgten die gesundheitlichen Probleme mit einer Streptokokken-Infektion und die Amputation des rechten Beins unterhalb des Knies.

Zusammen mit Siim Kallas, dem Vater der heutigen Regierungschefin Kaja Kallas, gründete Savisaar 1987 die estnische "Volksfront" (Rahavarinne) als Gegengewicht zur Kommunistischen Partei. Zusammen veröffentlichten sie 1987 das Konzept des IME (Isemajandava Eesti / selbstverwaltetes Estland). Intellektuell brillant, charismatisch, fleißig und als guter Organisator galt Savisaar damals. Die estnische Volksfront organisierte auch auf estnischer Seite den "Baltischen Weg" (estnisch "Balti Kett"), die Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn am 23. August 1989, zum Gedenken an den 50. Jahretag des Hitler-Stalin Pakts, der das Schicksal der baltischen Staaten besiegelt hatte.

Aber während Savisaar Führungsfigur in der 1991 gegründeten Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) wurde, aus den verbliebenen Resten der Volksfront gebildet, engagierte sich Siim Kallas in der 1994 gegründeten eher wirtschaftsliberalen "Reformpartei" (Reformierakond). Zuvor war Kallas Chef der Bank von Estland gewesen. Beim Skandal 1995 ging es dann auch darum, ob Savisaar auch Gespräche von Kallas hatte abhören lassen.

Zwischen Zentrumspartei und Reformpartei gibt es auch andere Verbindungen. Edgar Savisaars dritte Ehefrau, Vilja Savisaar Toomast, war zunächst Abgeordnete der Zentrumspartei, wurde ins Europaparlament gewählt, trat aus der Partei aus, wechselte zur Reformpartei und sitzt heute für diese wieder im Parlament. Savisaars Sohn Erki dagegen blieb sozusagen bei "Schusters Leisten" - als Politiker der Zentrumspartei. Die heutige Ministerpräsidentin Kaja Kallas formuliert ihr Gedenken so: "Ja, Edgar Savisaar war eine umstrittene Figur, aber er war dennoch ein Politiker mit brillantem Verstand, eine großartige Persönlichkeit, und er hat einen Platz in der estnischen Geschichte." (ERR)

Sonntag, Dezember 18, 2022

Endstation Narva

Manchmal wird es als "russische Enklave" bezeichnet, oder als "Rand Europas". Für andere wiederum beginnt Europa eben genau hier. Wegen seiner zahlenmäßig starken russischen Miniderheit ist Narva schon länger in der Diskussion - wie sieht die Zukunft dieser Region aus? 

Nun zieht Russland den Schlagbaum herunter; der Grenzübergang Narva soll für ganze zwei Jahre komplett geschlossen werden. Grund: angeblich dringend notwendige Renovierungsarbeiten. Zumindest für Fahrzeuge soll der Übergang zum russischen Ivangorod komplett geschlossen werden. Nur für Fußgänger soll eine Übergangsmöglichkeit offen bleiben. 

Etwa 340.000 Fahrzeuge werden derzeit pro Jahr gezählt, die den Übergang zwischen Narva und Ivangorod passieren. "Wenn das komplett geschlossen werden sollte, wird das auch einen negativen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in Narva haben," äußert sich Narvas Bürgermeisterin Katri Raik besorgt. "Dann werden wir zu einer Art Sackgasse. Die Beschäftigungsmöglichkeiten werden zurückgehen, zum Beispiel im Bereich Logistik". (ERR)

Wie estnische Behörden bekannt gaben, wird auch noch nach Lösungen für die Busverbindungen zwischen Tallinn und St.Petersburg gesucht.Möglicherweise müssten dann Reisende die Grenze zu Fuß passieren, um Verkehrsverbindungen auf estnischer Seite zu erreichen. (ERR)  Heißes Diskussionsthema war in Narva zuletzt die Entfernung eines Sowjetpanzers gewesen, der als Denkmal an den Zweiten Weltkrieg erinnerte - er war demontiert und in ein Museum gebracht worden. (ERR / Deutschlandfunk)

Montag, November 21, 2022

Kommt ein Vogel geflogen

Estlands Natur ist unbestritten ein Anziehungspunkt für viele Gäste und Naturliebhaber. Gerade Menschen aus dicht besiedelten und stärker industrialisierten Ländern kommen gern hierher, auch wenn die meisten von ihnen sicher nicht die Artenkenntnis mitbringen wie Spezialist/innen von Ökologie, Biologie oder Ornithologie.

Seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit kann Estland nun auf 30 Jahre Entwicklung auch unter diesem Aspekt zurückblicken. Marko Mägi, Wissenschaftler an der Universität Tartu, stellt dazu fest, dass die Vogelpopulationen in diesen Jahren leider zurückgegangen seien. Estland habe den Kapitalismus von solcher Art für sich entdeckt der zur Folge habe, dass alles intensiver bewirtschaftet werde, meint er. Dem gleichen Trend sei die Land- und Forstwirtschaft Estlands gefolgt. Als Resultat habe sich die Vielfalt der Vogelarten verringert, und zwar nicht nur der seltenen Arten, sondern auch bei den ganz gewöhnlichen Arten seien die Zahlen heruntergegangen. (ERR)

"Nachdem Estland zur Europäischen Union beigetreten ist, wurden die Agrarsubventionen erhöht, wodurch wir mehr Pestizide und Düngemittel verwendet werden konnten. Die Felder sind auch größer und gleichmäßiger“, ergänzt Kaarel Võhandu, Vorsitzender der "Estnischen Ornithologische Gesellschaft" (Eesti Ornitoloogiaühing EOÜ).  

Außerdem sei der Nutzungsdruck auf die estnischen Wälder erheblich gewachsen: Zwischen 2016 und 2018 stiegen die abgeholzten Waldflächen im Vergleich zum Zeitraum von 2004 bis 2015 um 85%. In 95% dieser Fälle erfolgt der Holzeinschlag durch Kahlschlag. (Birdlife) Etwa 100 verschiedene Brutvögelarten leben allein in den estnischen Wäldern - durch zunehmenden Holzeinschlag seien zum Beispiel Arten wie Birkhuhn, Auerhuhn, Heidelerche oder Baumpieper besonders gefährdet. So verlangt auch "Birdlife Estonia" ein Verbot von Holzeinschlag in der Brutsaison, also vom 15. März bis 31. August, wenigstens aber bis zum 15. Juli. Auch die Schwarzstorchpopulation sei in Estland stark rückläufig - so dass im Frühjahr aus dem Süden zurückkehrende Vögel oft keinen neuen Partner oder Partnerin finden könnten (Estonianworld).

Marko Mägi nimmt dabei auch zum Klimawandel als möglicher Ursache für Veränderungen der Vogelpopulation Stellung. Natürlich könne auch das zum Rückgang der Vogelpopulationen beitragen - aber jedenfalls seien noch keine Vogelarten, die normalerweise weiter südlich leben, nun zusätzlich in Estland beobachtet worden. "Der menschliche Einfluß auf einzelne Regionen vor Ort ist derzeit viel stärker." (ERR)

388 wildlebende Vogelarten wurden als Brutvögel in Estland gezählt (Stand 2018) - wenn wir alles dazuzählen, was je in Estland in der Geschichte der Ornithologie beobachtet worden ist. (EOY) Etwa 225 Vogelarten gelten heute noch als Brutvögel in Estland. Zum Vergleich: in Schleswig-Holstein sind es 216, in Niedersachen / Bremen 208, in Deutschland insgesamt sind es 305 Arten. Tourismusanbieter wie "NaTourEst", "Birding Haapsalu" oder "EcoTours Anytime" versprechen ihren Gästen die Möglichkeit, auf einer mehrtägigen Vogelbeobachtungstour in Estland bis zu 175 Arten sehen zu können.

Ob Estland aber einen Status als - so wie einige es nennen - "birdiest country in Europe" (vogelreichstes Land Europas) halten kann, scheint ungewiss. Bisher werben estnische Gemeinde wie Haapsalu aktiv mit ihrer Vielfalt an Vogelarten. Der estnischen Tourismuswerbung zufolge liegt die Rekordzahl der Vogelarten, die in Estland innerhalb von 24 Stunden beobachtet werden konnte, bei 194 (VisitEstonia)

Montag, Oktober 31, 2022

Denk mal, ach denk doch mal ...

Während internationale Medien zur Zeit vornehmlich über den Abriss von Denkmälern in Estland berichten - vor allem solchen, in denen eine Verherrlichung von Sowjetideologie gesehen wird - werden in Estland auch Denkmäler neu errichtet. Granit aus Schweden und China wurde verarbeitet vom estnischen Künstler Vergo Vernik, der zusammen mit dem Architekt Toivo Tammik für sein Kunstwerk "Kopf des Staates" verantwortlich zeichnet, dass am 21. Oktober 2022, nach mehrfachen Terminverzögerungen, in Tallinn eingeweiht wurde, und das an Ex-Präsident Konstantin Päts erinnern soll.

Offenbar sind auch darüber nicht alle begeistert. "Hier ist so gut wie alles falsch!" - mit diesem drastischen Urteil wird in der estnischen Presse Kunsthistoriker Gregor Taul zitiert. Er habe in seiner Ausbildung gelernt, meint Taul, der Unterschied zwischen einem Denkmal und einer einfachen Skulptur liege darin, dass an der Stelle des Denkmals etwas passiert ist und genau an diese Stelle erinnert wird. Taul erwähnt die ebenfalls neu errichtete Skulptur zu Ehren von Jaan Kross als besseres Beispiel - denn Kross habe ja wirklich in der Nähe des jetzigen Denkmal-Standortes gelebt. Und er weist darauf hin, dass es wohl eine sehr alte Tradition der Menschen sei, mit dem Aufstellen von Denkmälern sozusagen "ihr Territorium zu markieren". 

Zudem sei es gegenwärtig allgemeine Praxis, meist nur Männern durch Denkmäler zu gedenken. Offenbar konkret untersucht hat Gregor Taul das Beispiel Dänemark: dort seien von insgesamt 2500 Skulpturen ganze 2400 Männern gewidmet, dazu noch 50 sogar Tieren. Bezüglich des nun in Tallinn platzierten Riesenkopfes zum Gedenken an Päts hält Taul auch den Ort für fragwürdig: "Vielleicht in Viimsi", meint er, "dort neben dem Kriegsmuseum. Aber direkt neben dem Theater? So ein wuchtiger Kopf?" (ERR) Auch Mart Kalm, Rektor der Estnischen Akademie der Künste, war schon mit einer Äusserung zitiert worden, das Werk stelle "keine große Leistung aus Sicht der estnischen Kunst" dar. Aber es sei eben ein sehr einflussreicher Teil der estnischen Gesellschaft gewesen, der sich für ein Gedenken an Päts eingesetzt habe. Und so, wie das Denkmal jetzt aussähe, sei es eben auch als Kompromiss zwischen verschiedenen Interessengruppen zu sehen (ERR).

Es gibt aber weitere bekannte Persönlichkeiten, die sich zu dem Thema bereits öffentlich äußerten (fast durchweg Männer offenbar). Anders Härm, ebenfalls Kunsthistoriker, meint man habe eigentlich doch das beste aus den Vorschlägen des durchgeführten Wettbewerbs ausgesucht. - Dem entgegnet Erkki Bahovski, Journalist und Herausgeber der Zeitschrift "Diplomaatia": "Mich erinnert dieses Denkmal an faschistische Hauptquartiere, wo immer das Bild von Benito Mussolini hing" (ERR). Kunsthistorikerin Alexandra Murre wiederum prognostiziert, in einigen Jahren werde man sich an den Denkmal-Kopf gewöhnt haben, der heute vielleicht einfach noch recht grob gemeisselt aussähe (ERR).

Am Morgen des 31. Oktober, also "pünktlich zu Halloween", könnte man sagen, versahen dann Unbekannte den Denkmalskopf mit Zorro-Maske und Bandera-Kopftuch - eine Verzierung, die von den Behörden schnell wieder entfernt wurde (ERR)

Das neue Denkmal, auch dem 100.Gründungstag der Republik Estland gewidmet, soll erinnern an Konstantin Päts (1874-1956), der als einer der bedeutensten Politiker der Zwischenkriegszeit, also der ersten Periode der estnischen demokratischen Republik, angesehen wird. Er wurde von den Sowjetbehörden nach Sibirien deportiert und starb dort 1956. Doch manche sehen in der Figur Konstantin Päts auch Wiedersprüche der estnischen Demokratie. "Ich denke, es gibt zu viel Romantik heute bei der Betrachtung der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg" so sagt es Historiker Igor Kopõtin (ERR). "Die Rolle von Päts für die estnische Geschichte ist zumindest kontrovers". Er spielt auch darauf an, dass Päts, bis dahin mehrfach Regierungschef und Minister, am 12. März 1934 ein autoritäres Regime errichtete. 1938 wurde er dann zum Präsidenten gewählt. Manche nennen Päts daher "Diktator von Estland", andere heben eher hervor, dass er im Volk sehr beliebt gewesen sei.

Bereits vor zwei Jahren wurde auch im Toila Oru Park in Ida-Virumaa ebenfalls ein Denkmal für Konstantin Päts eingeweiht. Dort hatte Päts eine Sommerresidenz. (ERR) Auch in der Nähe des Geburtsorts von Päts, heute zur Gemeinde Tahkuranna gehörend (südlich von Pärnu), befindet sich bereits ein Päts-Denkmal - es ist eine Wiederherstellung eines 1940 zerstörten Monuments. Und wer in Rakvere sich befinden sollte, kann ebenfalls "Päts" genießen - ganz kulinarisch, denn hier ist es der Name eines kleinen Restaurants.


Donnerstag, September 15, 2022

Familie zu zweit, oder allein

Mitten in den aktuellen Meldungen aus Estland findet sich dies: es wurden Zahlen aus der Volkszählung in Estland 2021 veröffentlicht. Estland hat die Familien gezählt. Resultat: es gibt 341.995 davon (bei insgesamt 561.655 Haushalten). Auffällig dabei: was sich in Estland Familie nennt, besteht fast zur Häfte (49%) aus zwei Menschen (stat.ee / err.ee / rahvaloendus). 

Als Familie in Estland zusammenleben - statistisch teilt sich das folgendermaßen auf: 55% sind verheiratet, 27% leben unverheiratet zusammen. Weitere 18% stehen für getrennt lebende Alleinerziehende (16% Frauen, 2% Männer - das Statistikamt weist nicht aus, ob diese verheiratet sind oder nicht). 14% der Kinder leben mit nur einem Elternteil zusammen. Die Lebensform, bestehend aus einem verheirateten Ehepaar ohne Kinder, macht in Estland 28% dessen aus, was das Statistikamt als "Familien" bezeichnet (94.554).Damit sei es die häufigste Variante einer Familie, denn Familien mit einem Kind machen nur 25% aus, weitere 19% sind unverheiratete Paare mit Kindern. 

Wenn nun die Anzahl der Haushalte betrachtet werden, so bestehen 37% aller Haushalte in Estland aus nur einer Person (16% der Gesamteinwohnerzahl). Wenn nun noch diejenigen Haushalte dazu gezählt werden, wo entweder Geschwister oder Großeltern mit Enkeln zusammenleben, dann können 40% der Haushalte nicht als Familienhaushalte bezeichnet werden (das sind 24% der Gesamtpersonenzahl). 

Einige regionale Unterschiede: die zahlenmäßig stärksten Haushalte wurden in Tartu (2,5 Personen) und iim Landkreis Harju (2,43 Personen, Gegend rund um Tallinn) lokalisiert. Haushalte mit wenigen Mitgliedern leben vor allem in Hiiu (Insel Hiiumaa, 2,16 Personen) und Ida-Viru (Nordosten Estlands) mit 2,08 Personen. Ebenfalls in Ida-Viru leben statistisch die meisten Menschen in Single-Haushalten: 43%, während im Kreis Tartu zahlenmäßig viele in Haushalten mit fünf oder mehr Personen leben (11%).

Auch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Ethnien wurde statistisch ausgewertet. Danach leben in Estland 88% der Menschen in "monoethnischen" Haushalten - 63% bestehen ausschließlich aus Estinnen und Esten, 21% aus Russinnen und Russen, 4% aus anderen Ethnien. Nur 12% leben also privat mit mehreren Ethnien in einem Haushalt, davon sind 5% estnisch-russische Hauhalte.

Freitag, August 26, 2022

Auswählen und aufräumen

Die Stimme Estlands ist hörbarer geworden in Europa - nein, diesmal nicht durch Digitalisierungsmaßnahmen oder andere Schlagworte mit einem großen E davor. Der ARD-Weltspiegel widmete Estland und der Ministerpräsidentin Kaja Kallas gleich volle 30 Minuten Aufmerksamkeit.  "Kaja Kallas - wer ist die Frau?" wird hier in einem Tonfall gefragt, als ob es gälte Mythen und Geheimnisse aufzuklären. 

Stimme der Eisernen

Und auch die Bezeichnung "Eiserne Lady des Baltikums" scheint ein beliebter Wanderpokal der Deutschen zu sein - galt es 1999 bis 2007 für die Lettin Vaira Vīķe-Freiberga, dann 2009 bis 2019 für die Litauerin Dalia Grybauskaite. Und auch Estland hatte ja eigentlich mit Präsidentin Kersti Kaljulaid schon eine durchaus "eiserne" - indem sie sowohl klar und deutlich wie auch unkonventionell zum Beispiel gegen rechtsradikale Tendenzen in ihrem Lande auftrat. Aber wer im eigenen Lande zu vielen "eisern" auf die Füße tritt, dem wird offenbar in Estland eine zweite Amtszeit verwehrt. - Erst dadurch tritt nun Kaja Kallas viel stärker in den Vordergrund als der estnische Präsident (wie heißt er noch gleich?). Dass "baltische" Präsidentinnen auch mal bei entsprechenden Anlässen Volkstracht tragen, scheint aus deutscher Sicht auch immer noch eine besondere Bemerkung wert zu sein (estnische Politikermänner tun das übrigens auch - aber wer berichtet darüber?). 

Foto aus dem Jahr 1994

 Abneigung gegen Sowjetisches

2007 war das Jahr des "Denkmalstreits" in Tallinn - und deutsche Berichterstattung wurde noch weitgehend von Stockholm, Moskau oder Warschau aus organisiert. Interessant, dass es schon damals um dieselben Vokabeln und Schlagzeilen ging, wie sie auch heute Verwendung finden. Schon 2006 war in Estland das öffentliche Zurschaustellen sowjetischer Symbole unter Strafe gestellt worden - ein Vorgang, der Tomasz Konicz Anlass gab zu bedauerten, das neue Gesetz mache es in Estland unmöglich, am "Siegestag über den Faschismus" ... "sowjetische Fahnen schwenkend durch die Straßen" zu ziehen (Junge Welt). Er sah damals Estland "im antikommunistischen Rausch" (aber gut erkannt - mit Kommunismus hat Estland wirklich wenig am Hut). 

Schon damals war auch der russische Außenminister Sergei Lawrow im Amt und beklagte die Gleichsetzung von UdSSR- und Nazi-Symbolen. Und auch einige deutsche Journalisten waren zu dieser Zeit mit dem "Etiketten-kleben" sehr schnell bei der Hand: Ulrich Heyden meinte feststellen zu müssen, man messe in "Tallin" (sic!) mit "zweierlei Maß" (Eurasisches Magazin). Und Ute Weinmann glaubte für "Jungle World" entdeckt zu haben, es gehe vor allem um die Überwindung des "Schmach der Westmächte, die den Sieg über Deutschland nur mit Hilfe der Sowjetunion erringen konnten". 

Vorwürfe und einfache Urteile

Anfang 2007, als sich eine parlamentarische Mehrheit für eine Versetzung des "Bronzesoldaten" in Tallinn im estnischen Parlament abzuzeichnen begann, versuchte Moskau monatelang mit gezielter Propaganda die Entwicklung aufzuhalten. Man könne ja die sowjetischen Denkmäler alle nach Russland holen, und auch die Transportkosten bezahlen, hieß es. Oder, als Variante, eine Kopie des estnischen Bronzesoldaten in Moskau aufstellen (aktuell.ru). Für die interessierte Öffentlichkeit lag damals eine lange Liste angeblicher estnischer Sünden bereit, und jeder Punkt darauf klang gleichfalls schändlich: Förderung von Faschismus, Ehrung estnischer SS-Kämpfer, Behinderung der russischen Sprache, keine wirkliche Demokratie. Erneut assistiert Ulrich Heyden, indem er Estland als "Schlußlicht bei der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen" bezeichnete. Die Zielorientierung an Idealen der Demokratie allerdings ging in Russland dann schnell verloren und wurde auch Estland gegenüber nur noch dann wiederholt, wenn es für "westliches" Publikum geschrieben wurde. Resultat waren Reaktionen wie die des österreichischen "Standard": "Esten räumen mit Sowjets auf". Das kleine Estland als Bedrohung Russlands? Oder war vielmehr eine Irritation des westlichen Wertegefüges durch Estland gemeint (das damals noch nicht den Ruhm eines E-Estonia hatte), weil das westliche Bild vom "guten Russen" noch zu sehr von Menschen wie Gorbatschow bestimmt war?

Zerstören, umsetzen, demontieren? 

Aber die Kaja Kallas von heute hat offenbar in mindestens einem Punkt vor, etwas anders zu machen als damals. Damals, ja sogar noch im April 2007 gab es sehr unklare Äußerungen von verantwortlichen estnischen Politikern dazu, was nun mit dem "Bronzesoldaten" passieren solle. Das gab den Gerüchten Auftrieb, das Denkmal solle "zerstört" werden. So titelte die "Frankfurter Rundschau" sogar noch bei Beginn der Arbeiten so: "Esten starten Abriss von Soldatendenkmal", und Korrespondent Gamillscheg ergänzt in einem Kommentar: "Der Beschluss, ihn abzubauen, war unsensibel" (beide Beiträge im Archiv der FR nicht mehr verfügbar, daher hier nicht verlinkt). Da kann spekuliert werden, ob es die deutschen Journalisten zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht besser wussten, oder die Lage einfach, von Stockholm aus gesehen, zu unübersichtlich war?

Kaja Kallas sagt heute (Aussage ARD-Weltspiegel): "Wir wollen die Denkmäler dahin versetzen, wo sie hingerhören: ins Museum." Das, was aktuell in der Ukraine passiere, erinnere die Esten daran, was sie selbst durchgemacht haben. In deutschen Medien wird die estnische Position dennoch auch heute unterschiedlich wiedergegeben. Während einige von "Verlegung" sprechen (ZEIT, Deutschlandfunk), ist bei anderen von "Demontage" die Rede (Tagesspiegel, FAZ), und es gibt auch Versuche den ganzen Vorgang zu verurteilen ("Bildersturm ist schlechte Geschichtspolitik", NZZ). 

Ein Plakat aus dem Jahr 2003, als
die Volksabstimmung zum EU-Beitritt
bevorstand. - Während Estland heute
gleichfalls deutlich die Unterschiede
zu Russland betont, erzeugt die
estnische Abgrenzung gegenüber
Russland anderswo in Europa nicht
überall Begeisterung

Begrenzte Einreise

Da ist es doch gut, dass Estland gleich noch mit einem anderen Thema Diskussionen ausgelöst hat: der Begrenzung von Visazuteilungen für Russinnen und Russen. Vom "Aufräumen" zum "Auswählen" sozusagen. Nach wie vor wird der direkte Zusammenhang mit Putins Angriffskrieg betont. Seit dem 24. Februar seien etwa eine Million Bürger/innen der Russischen Föderation in Länder der EU eingereist, bilanzieren die estnischen Behörden unter Berufung auf Daten von Frontex (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache). Davon seien allein 28% über Estland gekommen (ERR). Estland und Finnland zusammengenommen machen sogar 61% dieser Einreisen aus. Unmittelbar nach Kriegsbeginn hatte die EU ja bereits weitgehende Flugbeschränkungen ausgesprochen, also bleibt vielen nun die Reise über Land als einzige Möglichkeit. Und auch Drittstaaten wie Georgien, die Türkei, Serbien oder Dubai seien als Einreiseweg in die EU genutzt worden. 

Die Vorstellung erzeugt klare Bilder: Russinnen und Russen machen Urlaub in Europa, während die Armee ihres Landes das Nachbarland versucht in Schutt und Asche zu legen. Derweil hatte in Tallinn Außenminister Reinsalu seinen Amtkollegen aus Ungarn Peter Szijjartozu Gast. Der Ungar berief sich dabei aufs deutsche Vorbild: "Wir stimmen mit dem deutschen Kanzler Scholz überein und planen keinerlei Einschränkungen." (ERR) Für stärkere Unerstützung der Ukraine, also für striktere Sanktionen gegen Russland, sprachen sich am 25. August in einer gemeinsamen Entschließung sieben Länder aus: Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Polen. (ERR)

Wir werden sehen, wo die Entwicklung noch hingeht - hoffentlich bald Richtung Frieden und Gerechtigkeit. Aber das die estnische Stimme - so unterschiedliche Reaktionen sie auch nach wie vor im deutschsprachigen Raum hervorruft - gegenwärtig deutlicher gehört wird, das ist wohl unbestritten.

Freitag, Juli 29, 2022

Preissteigerungen machen sich bemerkbar

Der Umsatz im estnischen Einzelhandel belief sich im Juni auf 915 Millionen Euro, so meldet es das estnische Statistikamt. Das bedeutet einen Rückgang um 1%. Was zunächst marginal aussieht, wird beim näheren Blick deutlicher: wenn nur Kraftstoffe und Lebensmittel getrennt gerechnet werden, war der Rückgang stärker (2%), was Analytikerin Johanna Linda Pihlak auf die besonders in diesen Bereichen gestiegenen Preise zurückführt. Beim Verkauf von Secon-Hand-Waren gab es dagegen ein Umsatzplus von 19%, im Gegensatz dazu wies der Bereich Haushaltswaren und Haushaltsgeräte einen Rückgang von 7% auf. 

Die Inflationsrate, so weisen es ebenfalls Daten des Statistikamtes aus, stieg im Juni gegenüber Mai 2022 um 2,7%, aber um ganze 21,9% im Vergleich zum Juni des Vorjahres. Dabei stiegen die Preise für Strom um ganze 129,6%, für Heizung um 62,7%, für Gas um 228,3%, für Festbrennstoffe um 77,3% (aufs Jahr gerechnet, siehe stat.ee). Bei Lebensmitteln gab es den höchsten (durchschnittlichen) Preisanstieg bei Kartoffeln (111,5%), dann folgten Eier (61.9%), Frischfisch (57.6%), Mehl und Getreide (54.8%) und Gewürzen (53.4%).

Sonntag, Juli 24, 2022

Erst Karriere, dann Partei

Die zweite Regierungskabinett Kaja Kallas, jetzt mit der Vaterlandspartei (Isamaa) und den Sozialdemokraten (SDE). Es ist eine Übergangsregierung, denn bereits für März 2023 sind Parlamentswahlen turnusgemäß angesetzt.

Mindestens in einem Punkt wirkt die Regierungsbildung in Estland ungewöhnlich: es werden Ministerinnen und Minister ernannt, die erst nach ihrer Ernennung auch derjenigen Partei beitreten, die sie für diesen Posten nominiert haben. 

So zum Beispiel Madis Kallas, der jetzt estnischer Umweltminister ist. Er werde überlegen, jetzt auch den Sozialdemokraten beizutreten, die ihn für das Amt nominiert haben, heißt es in der Presse (err). Müssen in Estland so dicke Brocken vor die Nase des Esels hingehängt werden, bevor jemand einer Partei beitritt? Kallas - offenbar kein Verwandter der Ministerpräsidentin - hat Sport studiert und errang als Zehnkämpfer im Jahr 2006 den 17.Platz bei den Europameisterschaften in Göteborg. Madis Kallas ist geboren in Kuresaare, war auch schon Bürgermeister auf Saaremaa und Muhu, und hatte eigentlich oft schon betont, keiner Partei beitreten zu wollen. Nun klingt es so: "Ich möchte beweisen, dass Estland nicht nur aus Tallinn besteht", meint er. Das klingt eigentlich nach einem Minister für Regionalentwicklung. Ob er also richtig im Amt ist, zumal vielleicht nur für ein paar Monate? Ein "Wahlkampfminister", damit die SDE auch auf Saaremaa noch gewählt wird?
Kallas trat 2020 auf Saaremaa von seinen Ämtern zurück, weil er als Leiter des Krisenstabs sich in der Verantwortung sah für die Vielzahl von Corona-Erkrankungen auf der Insel - aber 2021 trat er doch wieder an und wurde erneut gewählt. 

Es gibt ja gleich mehrere aktuell zur Diskussion stehenden Umweltthemen. Da ist einerseits der estnischen Drang zum übermäßigen Wälderabholzen (siehe "Robin Wood", "DIE ZEIT", "Berliner Zeitung". ). Dann soll, angesichts des Boykotts von russischem Gas, nun auch Ölschiefer zur Wärmegewinnung genutzt werden (die umweltschädliche Gewinnung von Ölschiefer gilt als eine der größten Umweltsünden des Landes). Da gilt nun Schieferöl plötzlich als "Reservebrennstoff" (ERR). Und es gibt die Idee, doch vielleicht auch in Estland ein Atomkraftwerk zu bauen (ERR) - wo nun doch scheinbar schon die EU Atomkraft für "grün" erklärt? Ob der neue Umweltminister dazu eine Meinung hat?

Auch der andere neue Koalitionspartner an der Seite von Ministerpräsidentin Kaja Kallas zeigte seine Vorlieben für Minister außerhalb der eigenen Mitgliedsreihen. Sowohl die neue Justizministerin Lea Danilson-Järg wie auch Kristjan Järvan, nun "Minister für Unternehmertum und Informationstechnologie" waren keine Parteimitglieder. Järvans Qualifikation: er ist Unternehmer und Gründer mehrere Start-ups. Järvan war Marketing-Manager und CEO mehrerer Firmen. Sein Vater, Aare Järvan, ist Vorstandsmitglied der Estnischen Wirtschafts- und Innovationsagentur - und weist Verdächtigungen zurück, dieses Amt könne Interessenkonflikte (oder, im Gegenteil, geheime Absprachen) mit seinem Sohn hervorrufen (ERR). Als Vertreter der Agentur meint Egert Puhm dazu: "Der Vertrag mit Aare Järvan ist ja schon am 11. Juli abgeschlossen worden, also vor der Ernennung seines Sohnes zum Minister. Das zeigt nur wieder mal, wie klein Estland ist."

In Politiker-Sprech übersetzt klingt das so (Zitat Isamaa-Chef Helir Valdor Seeder): "Zwei starke Persönlichkeiten haben sich Isamaa angeschlossen, um bei der Umsetzung des Parteiprogramms zu helfen und dringend benötigtes frisches Blut in die estnische Politik zu bringen." (ERR) Klingt nach dem Drang von Konservativen, unbedingt modern sein zu wollen. 

Lea Danilson-Järg allerdings ist keine Neueinsteigerin, sondern arbeitete bereits seit vielen Jahren in verschiedenen estnischen Instutionen: als Beraterin des Rektors der Estnischen Akademie für Sicherheitswissenschaften, beim Parlaments-Informationssystem in der estnischen Nationalbibliothek, sie war beteiligt an Untersuchungen zur Geburtenentwicklung in Estland, sie leitete die Abteilung für Bevölkerungs- und Familienpolitik im Innenministerium und sie gab bei der Zeitung "Postimees" eine Serie zur Bevölkerungspolitik heraus. Sie hätte also auch Familienministerin werden können. - Vor diesem thematischen Hintergrund sind vielleicht auch die Begründungen zum Parteieintritt zu verstehen: "Isamaa steht seit jeher für Familien mit Kindern und eine national nachhaltige Familienpolitik" (ERR), so die neue Ministerin, die zwischen 1998 und 2004 auch schon mal Mitglied der "Moderaten" (Rahvaerakond Mõõdukad) war. Diese ging später in den Sozialdemokraten auf (und sie hat der jetzigen Ministerin wohl nicht rechtzeitig ein Amt angeboten). "Ich glaube, das Ministeramt wird eine sehr interessante Ergänzung meiner bisherigen Karriere sein", antwortet die neue Amtsinhaberin auf die Frage eines Journalisten (ERR) Auch auf die Frage, welche Weltanschauung sie vertrete, hat die Ministerin eine sehr "kreative" Antwort: "Da ich ein Isamaa-Minister bin, macht es Sinn, dass ich eine konservative Weltanschauung habe."

Eine ungewöhnliche Regierungsbildung also, in schwierigen Zeiten. Es ist zu vermuten, dass bis zum nächsten Wahltermin im Frühjahr 2023 sowieso vor allem zwei Themen auf der Regierungsagende stehen: der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger in Estland.

Sonntag, Juli 10, 2022

Estnischer Sommer 2022 - mit oder ohne Touristen?

Die estnische Tourismuswerbung versucht
die Deutschen zu erinnern:
Brot, Natur, Adelsspuren, estnische Sprache
und ... - alles schöner als Berlin!

In früheren Jahren, als die erneute Selbstständigkeit der baltischen Staaten für manche Deutsche vielleicht eher eine Überraschung darstellte, war ein Land wie "Estland" kein Urlaubziel (Island? Ästland?). Auch noch nach dem Beitritt zur Europäischen Union war es sicher nicht leicht, touristische Vorzüge dem deutschen Publikum nahe zu bringen. Nun aber muss offenbar vieles von neuem beginnen: nach drei Jahren mit Corona-Einschränkungen nun ein Sommer in direktem Kontakt zu unkalkulierbarem Kriegsgeschehen in den Nachbarländern im Osten. 

"Im Baltikum bleiben die Urlauber weg" - so diagnostiziert es Markus Nowak für den MDR, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt auf Litauen. Evely Baum-Helmis von der estnischen Tourismusagentur "Visit Estonia" versucht es zumindest nicht negativ auszudrücken, wenn es hier heißt, man könne derzeit nicht sagen, wo "die Auswirkungen der Erholung von der Pandemie enden und wo die aktuellen Auswirkungen des Krieges beginnen." 

Derweil heißt es in Estland, besonders der Inlandstourimus erreiche Rekordwachstum (err). 249.000 Touristen seien im Mai gezählt worden, 176% mehr als im Jahr zuvor (stat.ee). Allerdings läge das gegenwärtige Niveau immer noch 50% unter den Zahlen vor der Pandemie 2019, und im Mai 2021 sei die Gästezahl eben auch besonders niedrig gewesen. 

Da wirken neueste Nachrichten aus der Hotelbranche sicher ermutigend, die von einer "Rückkehr der deutschen Touristen" berichten - viele Gruppen aus Deutschland, die nach Kriegsbeginn zunächst ihre Reise abgesagt hätten, kehrten nun langsam doch wieder nach Estland zurück. (err) Allerdings lohnt auch ein Blick auf die absoluten Zahlen: gegenwärtig ist von 922 Beherberungsbetrieben in Estland die Rede (err) - vorherige Statistiken wiesen noch über 1300 aus (entspr. 20.000 Gästezimmern / bisher 24.500, und 40.000 Betten / bisher 59.000 (stat.ee)

In der deutschsprachigen Presse macht Estland im Moment andere Schlagzeilen: "die Bedrohung ist real" (ZDF), "Frauen bereiten sich auf den Krieg vor" (heute.at), "keine Angst vor Eskalation" (ZDF), und zuletzt "überall werden Sirenen installiert" (Berliner Zeitung). 

Andererseits gibt es Berichte wie in der ARD, dem zufolge in vielen anderen Ländern ein Urlaub sehr viel teurer geworden ist (tagesschau). Zwar heißt es dort "Abseits der Touristenzentren locken Schnäppchen" - doch letztendlich geht der Blick der allermeisten Deutschen doch wohl nur Richtung Südeuropa. "Da wir weniger Touristen hatten, mussten wir die Preise leicht anheben," sagt Ain Käpp, Chef einiger Hotels in Estland (err). "Auch die 50%ige Erhöhung bei den Fährtickets wirkt da nach. Viele Hotels müssen momentan erst mal die Verluste aus der Corona-Zeit wieder aufholen. Aber das Preisniveau ist immer noch niedriger als in Skandinavien oder dem übrigen Europa."

Samstag, Juli 02, 2022

Im Wald und bei den Pilzen: introvertiert allein

Ein guter Titel ist immer ein guter Grund, ein Buch zumindest mal zur Hand zu nehmen. So ist es vielleicht auch mit "Die Kunst, Pfifferlingen zuzuhören" des estnischen Schriftstellers Valdur Mikita - das allerdings bisher noch auf eine Übersetzung ins Deutsche wartet, ebenso wie "Lingvistiline mets” (Linguistischer Wald), ein anderer bekannter Titel des Autors. In einem Beitrag für das deutsche Goethe-Institut war auch schon seine These zu lesen, das Waldvolk der Esten verkomme im 21. Jahrhundert allmählich zu einem Sumpfvolk. - Mikita kommt vielleicht zu Gute, dass er auch schon als Dozent im Marketing gearbeitet hat. Um einprägsame Sprüche war Mikita noch nie verlegen: Du kannst den Esten aus der Wildnis nehmen, aber Du kannst nicht die Wildnis aus dem Esten nehmen (engl.= You can take the Estonian out of the wild, but you can't take the wild out of the Estonian).

Ein estnischer Blogautor fasst die Erzählweise von Mikita etwa so zusammen: "Warum sollte ein Este kein Buch mögen, in dem steht, wie besonders er ist! Ein introvertierter Schamane aus dem Norden, aufgewachsen mit dem Wald, fast eins mit den Tieren, schaut in den Himmel und stellt fest, wie das Wetter an Mittsommer im nächsten Jahr sein wird. Dann fährt er vom Wald nach Hause, mäht mit seiner Husqvarna das Gras im Hinterhof, schickt neben einem Baum sitzend einige E-Mails nach Brüssel und Singapur, püriert mit der Hand die Blaubeeren, die er aus dem Wald mitgebracht hat in einem Mixer, verwandelt den im Garten wachsenden Spinat zu einem schönen Smoothie und geht abends in die Rauchsauna. Ein echter Waldeste!"

Valdur Mikita stammt aus der Region bei Viljandi, genauer gesagt steht sein Haus am Flüsschen Õhne bei Suislepa, nahe des Võrtsjärv-Sees. Der kleine Ort ist stolz auf eine alte Apfelsorte, die hier mal gezüchtet wurde (siehe auch: "das Apfelrätsel"). Mikita ist studierter Biologe, mag also sicher einschätzen können, welche Naturwerte seine Heimatregion bietet. 

Mikita hat aber offenbar nicht nur Bewunderer. Ein Zeitungsbericht berichtete über illegale Baumfällarbeiten auf dem Familiengrundstück, inklusive katastrophaler Folgen für die Vogelbrut mitten im Juni - Mikita klagte gegen die Behauptung, er habe mit dem Vorgang etwas zu tun. 

Sehr viel mehr Aufsehen erregte jetzt die Ausrufung eines "Reservats für Introvertierte" (Introvertide kaitseala) durch den Schriftsteller und Wortkünstler (RP-online / FR), entsprechend einem Buchtitel von Anneli Lamp. Mikita bietet auch Selbstanalyse an: "Haben Sie Ihren eigenen Ort zum Sammeln von Pilzen geheim gehalten oder kennen jemanden, der einen geheimhält? Oder haben Sie sich mit Leuten darüber gestritten, wie man Holz lagert? Kennen Sie eine Person namens Luule oder Elmar? Oder kennen Sie jemanden, der überhaupt nicht spricht? Wenn ja, sind Sie wahrscheinlich Este", sagte er.

Estland sei an vielen Orten inzwischen viel zu laut geworden, konstatiert Mikita - überall Musikfestivals, Sportwettbewerbe und Ähnliches. Bedingung für das neue "Reservat": Höchstteilnehmerzahl eine Person. Schon einige Jahre zuvor war Mikita beteiligt an einem Projekt zur Installation riesiger Holz-Magaphone mitten im estnischen Wald - um "im Buch der Natur zu stöbern", wie der Autor damals erläuterte (err)

Das erste "Event für eine Person", das nun durchgeführt wurde, war gleich mal die Präsentation von Mikita's neuestem Buch ("Mõtterändur"). Perfekte Selbstvermarktung - oder eine gute Methode, um die Gedanken der Estinnen und Esten von den gegenwärtigen Sorgen abzulenken? Vielleicht. Mit 22% ist die Inflation in Estland momentan eine der höchsten innerhalb der Euroopäischen Union (eer).

Donnerstag, Juni 16, 2022

Zeichen setzen

Es erinnert vielleicht an die Straßenschilder, die auf frei zugängliches internet hinweisen: damals war Estland das erste EU-Land mit einem genormten Standardschild dazu. 

Während allerdings Interetzugang auch Freizeitvergnügen bieten kann, sind diese neuen estnischen Beschilderungen eher wie eine Mahnung an die momentane Lage in Europa: ausgeschildert wird hier der Weg zu öffentlichen Notunterkünften, die für die Einwohner/innen im Gefahrenfall zur Verfügung stehen und Schutz bieten sollen. (err)

Die erste derartige Unterkunft wurde jetzt unter dem Platz der Freiheit im Zentrum der Hauptstadt Tallinn gekennzeichnet. (ERR / youtube) Bis Ende Juni sollen zunächst 23 solcher Orte ausgeschildert sein. Kalle Lānets, estnischer Verteidigungsminister, wies allerdings darauf hin, dass die Beschilderungsaktion kein Anzeichen einer aktuellen erhöhten Gefahrenlage darstelle. Dennoch heißt nun die Parole: Ole valmis!" (Sei bereit) Und, Estland-typisch: natürlich sind die entsprechenden Informationen auch als App erhältlich (auch in Englisch und Russisch), sogar schon seit 2019, geschaffen von der Frauenorganisation des estnischen Heimatschutzes (Naiskodukaitse). 

Das Thema verbreitete sich auch schnell bei den lettischen Nachbarn. Auf Twitter wird schon gefragt, warum es das nicht auch in Riga gibt. Aber nein, einen Antrag auf Standardisierung dieser Zeichen für ganz Europa (wie es das bei den Internetschildern gab) wurde bisher nicht gestellt. Und bis entsprechende Orte auch in anderen estnischen Städten identifiziert und ausgeschildert werden, kann es wohl noch bis 2023 dauern.


 

Sonntag, Juni 12, 2022

Alles verhandelbar

Die Regierungskoalition in Estland ist zerbrochen. Nachdem die Zentrumspartei schon bei einigen Gesetzesvorhaben nicht mehr mitstimmen mochte, sagt Regierungschefin Kaja Kallas nun: die Sicherheitslage in Europa erlaubt es nicht mehr, mit der Zentrumspartei zusammenzuarbeiten. Im Ergebnis wird nun offenbar die estnische Parteienlandschaft noch mal neu durchgemischt.

Eigentlich schien es ja ein Vorteil zu sein, dass in Zeiten des bedrohlichen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nicht auch noch Wahlkampf geführt werden muss. Die nächsten regulären Parlamentswahlen würden in Estland im März 2023 stattfinden - dieser Termin bleibt auch dann bestehen, wenn es Kaja Kallas gelingen sollte bis dahin eine neue Koalitionsregierung zusammenzuschmieden.

Und pötzlich hat offenbar der Vorwahlkampf eingesetzt - dem nach zu urteilen, was einzelne Parteien jetzt veranstalten. "Bürgern eines ganz anderen Landes, eines feindlichen Landes, das Wahlrecht bei Kommunalwahlen zu geben – das könnte abgeschafft werden“. So läßt sich jetzt Mart Laar zitieren, zweimal (zuletzt 2002) estnischer Ministerpräsident, Ehrenvorsitzender der Vaterlandspartei "Isamaa". Liegt der "Schlüssel zu einer neuen Regierung", wie "Postimees" meint, wirklich bei seiner Partei?

Ein Block von Zentrum und EKRE würde doch ein wenig zu sehr russlandfreundich daherkommen, gibt Laar zu. (FT) Aber Urmas Reinsalu, stellvertretender Isamaa-Parteichef, bekräftigt: "Estnische Staatsbürger und Bürger der Europäischen Union sollten das Wahlrecht bei Kommunalwahlen haben. Bürger anderer Staaten nicht." (ERR)

Einige Jahre schon scheint die "Isamaa" gewissermaßen im Schatten des Rechtsauslegers EKRE (Estnische Konservative Volkspartei) zu stehen. Mehrfach mussten die Vaterländer schon um den Wiedereinzug ins Parlament zittern, und als Partner von EKRE und Zentrum in einer Koalitionsregierung (2019-2021) machten sie auch keine Punkte. Tanel Kiik jedenfalls, stellvertretender Vorsitzender der Zentrumspartei, bezeichnete es als "unfair, einem alten Mann das Wahlrecht wegzunehmen, nur weil er eine Sprachprüfung nicht bestanden habe". (err) Laut Zentrums-Vorsitzendem und Ex-Regierungschef Ratas würde seine Partei eine Neuauflage des Bündnisses zwischen Isamaa und EKRE, die auf europäischer Ebene mit Marine Le Pen in Frankreich und der FPÖ in Österreich zusammenarbeiten (ID-Party), befürworten.

Inzwischen ist Regierungschefin Kallas, die von der Zeitung "Postimees" schon als "neue eiserne Lady Estlands" ausgerufen wurde nun offenbar soweit, Koalitionsverhandlungen mit der sozialdemokratischen SDE und auch der Vaterlandspartei (Isamaa) aufnehmen zu können. Estland hat gegenwärtig eine der höchsten Inflationsraten der gesamten Eurozone vorzuweisen (euronews) - mal sehen, welche Argumente von den einzelnen Parteien da noch hervorgeholt werden, um sich - für ein paar Monate, danach gibts erneut Wahlkampf - ins eine oder ins andere Boot schwingen zu können.

Samstag, Mai 14, 2022

Baltisches im Norden

Wer Tallinn jemals besucht hat, hat bestimmt auch einmal auf dem "Islandi väljak", dem Island-Platz gestanden. Seit dem Jahr 2000 trägt dieser Platz diesen Namen und ist die offizielle Adresse des estnischen Außenministeriums. Es erinnert vor allem daran, dass Island schon am 22. August 1991, nur zwei Tage nachdem Estland seine Unabhängigkeit erklärt hatte, diese bereits bestätigt und anerkannt hatte. "Andere Länder folgten dann langsam", so formulieren es estnische Geschichtsbücher heute gern. Denn bereits am 19. Dezember 1990 und am 11. Februar 1991 hatte das Parlament Islands, das Althing, zwei Resolutionen zur Unterstützung der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens verabschiedet. Dies schloss auch die Bereitschaft Islands ein, als Vermittler zwischen den baltischen Staaten und der Sowjetunion zu wirken, falls dies gewünscht sei.

Manche nehmen das ja heute sogar zum Anlass jährlich einen "Islandtag" in Estland zu feiern. Nur wenige Tage nachdem der Putsch gegen Gorbatschow gescheitert war, trafen sich am 26. August 1991 bereits der estnische Außenminister Lennart Meri und sein isländischer Kollege Jón Baldvin Hannibalsson in Reykjavik, um eine gemeinsame Erklärung zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu unterzeichnen. "Island first" - gegen diesen Ausruf hat in Estland niemand etwas einzuwenden. 

Nun werden zum ersten Mal auch in Rejkjavik, der Hauptstadt Islands, drei Straßen nach Ländernamen benannt: Eistlandsbryggja, Lettlandsbryggja und Lithaenbryggja. Die Straßen liegen im Norden der Stadt, wo der Stadtteil Artunshöfdi noch bis 2026 weiter ausgebaut und entwickelt werden soll. Die Bezeichnung "bryggja" könnte Deutsch mit "Pier" übersetzt werden, also ein Schiffsanleger oder Bootsliegeplatz - ein Platz am Wasser also. 

Pawel Bartoszek, Stadtrat in Rejkjavik, teilte gegenüber estnischen Medien mit, dass die "Estland-Pier" eine verkehrsberuhigte Straße mit eingeschränktem Autoverkehr sein wird (ERR / vidreisn.is / dv.is)

Montag, April 18, 2022

Lieber flüssig

Kalt muss es sein: bei Temperaturen um –162 °C wird Ergas "verflüssigt", und dieses "Flüssiggas" ("Liquified Natural Gas" LNG) hat dann im Verhältnis zum gasförmigen Zustand ein Expansionsverhältnis von 1:600, daher können große Mengen an Energie effizient gelagert und transportiert werden.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Diskussion um die Energieversorgung völlig verändert. Auch Estland plant nun mit einem Flüssiggasgterminal. Angeblich kann schon das LNG-Terminal im litauischen Klaipeda die Hälfte des Gasbedarfs der baltischen Staaten decken - die entstandene Lücke, bei Wegfall des Bezugs aus Russland, soll nun ein estnisch-finnisches Projekt in Paldiski schließen.

Vorteil: die Pläne für den Standort in Paldiski lagen schon fertig in der Schublade.Schon seit einigen Jahren wird über ein Flüssiggas-Terminal an diesem Standort nachgedacht - aber bisher schien es zu teuer (siehe "Baltic Course"). Bauen soll es nun die estnische "Alexela"-Gruppe, bei der die Brüder Heiti und Marti Hääl eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Unternehmer Heiti Hääl ließ sich gleich mal zu der Aussage hinreißen: "Das sieht unglücklich aus, wenn erst ein Krieg die Notwendigkeit eines LNG-Terminals nachweisen muss." Und er behauptet gleichzeitig: "Das neue Terminal wird noch in diesem Herbst fertig sein." (err

Diese Planungen bestätigte auch der estnische Wirtschaftsminister Taavi Aas. Estland wolle bezüglich des erforderlichen LNG-Spezialschiffes auch mit Finnland und Lettland zusammenarbeiten. (err / IR). Auch Litauen hatte sich vor Jahren zunächst gemeinsamen Planungen angeschlossen, dann aber, als es kaum konkrete Fortschritte gab, sich für ein eigenes LNG-Terminal entschieden (das 2014 fertiggestellt wurde). 2020 wurde auch das Projekt "Balticconnector" abgeschlossen - eine Gaspipeline zwischen Paldiski in Estland und Inkoo (Ingå) in Finnland.

Estland verbraucht gegenwärtig etwa 5 Terrawattstunden Gas, zwei Drittel davon für Energieversorgung und Industrie. Am 7. April hatte die estnische Regierung beschlossen, bis Ende 2022 völlig auf den Bezug russischen Gases zu verzichten (valitsus.ee). Partner für den Bau des LNG-Terminals in Paldiski werden auch die Investmentgesellschaft "Infotar" und "Eesti Gaas" sein. In einem ersten Bauabschnitt soll zunächst eine Verbindung zwischen dem Schiffsliegplatz und der "Balticconnector"-Pipeline geschaffen werden. Die Pipeline-Infrastruktur wird vom staatlichen estnischen Gasbetreiber Elering bereitgestellt.

Zunächst soll - als finnisch-estnisches Gemeinschaftsprojekt - ein schwimmendes Terminal angemietet werden, bevor in der zweiten Phase eine dauerhafte Lösung für das Terminal gebaut wird (mkm). Die Kosten für die Terminal-Infrastruktur, die im Herbst fertig gestellt werden soll, werden auf 40 Millionen Euro geschätzt. Ain Hanschmidt (Infotar) forderte aber auch eine staatliche Garantie zur Absicherung der Preisdifferenz zu russischem Gas, um das Projekt gegen eine (politisch mögliche) Rückkehr zur Versorgung mit russischem Gas abzusichern. (err) Die estnische Finanzministerin hatte bereits Pläne zu einem Ergänzungshaushalt in Höhe von 170-230 Millionen Euro vorgestellt (err)

Schon im November 2021 hatte das LNG-Bunkerschiff «Optimus» der estnischen Energiegesellschaft Elenger seinen Betrieb aufgenommen - es dient der Betankung von LNG-getriebenen Fähren zwischen Tallinn und Helsinki und ist Teil einer wachsenden LNG-Infrastruktur. (Schiffundhafen / elenger)

Sorgen um die Umwelt jedenfalls scheinen bei dieser Diskussion keine Rolle zu spielen. In Deutschland wird ja viel über das umstrittene "Fracking"-Verfahren diskutiert (BUND / Umwelthilfe), wobei davon ausgegangen wird, dass ein LNG-Gas-Import eben auch das durch Fracking-Verfahren in den USA gewonnene Gas einbeziehen würde. Kritisiert wird unter anderem, dass schon die Verflüssigung von Gas 10-25% des Energiegehalts verbrauchen würde. Von dieser Seite wird auch bestritten, dass Deutschland einen LNG-Importbedarf habe - es wird darauf verwiesen, dass Deutschland die viertgrößte Gasspeicherkapazität der Welt habe. Allerdings ging diese Einschätzung noch von einem Bau der Nordstream-2-Pipeline aus. In der deutschen Diskussion wird "LNG-Gas" oft mit "Fracking-Gas" gleichgesetzt - so wie die Deutsche Welle am 29. März titelte: "Freiheit oder Klima-Selbstmord?"

Aber Estland muss sich wohl kaum Sorgen um mögliche größere Proteste in Paldiski machen. "In Estland bestimmen immer noch weitgehend die Industrie und die großen Unternehmen die Tagesordnung", meinte Züleyxa Izmailova, die bis vor wenigen Wochen noch Vorsitzende der Grünen Partei Estlands ("Erakond Eestimaa Rohelised", die in Umfragen aktuell bei 1,7% liegen) war. "Und manche Leute glauben, wärmere Winter würden eben einfach ihre Heizungsrechnung verringern. ... Radikale Umweltschützer wie in Westeuropa gibt es in Estland so gut wie nicht." (err)

Donnerstag, April 07, 2022

Brückendiskussion

Die "Võidu sild" ist eine in den Jahren 1952 bis 1957 gebaute Stahlbetonbrücke über den Fluss Emajõgi, im Zentrum von Estlands zweitgrößter Stadt Tartu gelegen. Ihren Namen erhielt die Brücke im Jahr 1965, auf Beschluss des Stadtrats, zum 20. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. Denn "Võidu sild" heißt übersetzt "Brücke des Sieges". 

Die Diskussion im Stadtrat von Tartu, die Brücke anders zu benennen, geht schon einige Jahre. Aber als Tourist/in könnten wir uns zunächst fragen: Was für eine Brücke ist das? Reiseinfoseiten wie "Estland-com" erwähnen eine Reihe von Brücken: Bogenbrücke (Kaarsild), Steinbrücke (Kilvisild), Marktbrücke (Turusild), Engelsbrücke (Ingisild), Teufelsbrücke (Kuradisild). Aber "Siegesbrücke"? "Visittartu" beschreibt ausführlich die Bogenbrücke. Aus touristischer Sicht wird die Brücke der Durchfahrtsstraße, die einfach die Riga-Straße mit der Narva-Straße verbindet, am wenigsten hervorgehoben.

Seit 1926 gab es auch schon eine "Freiheitsbrücke" in Tartu: nach der sowjetischen Besetzung 1940 schon einmal kurzzeitig in "Siegesbrücke" umbenannt, überstand sie den Krieg nicht (von den abziehenden Deutschen zerstört). Am Ende des 2.Weltkriegs waren in Tartu alle Brücken zerstört. Die heutige "Freiheitsbrücke" wurde 2009 eröffnet.

Nun sucht Tartu einen neuen Namen für die bisherige "Siegesbrücke" (tartu.ee / err) "Wir können einen solche Sieg nicht weiter feiern", heißt es (tartu.ee). Bis zum 10. April sollen nun Namensvorschläge gesammelt werden. Ein witziger (wohl nicht ernst gemeinter) Vorschlag war auf dem Portal "Lugejakiri" (Eigenwerbung: "die seriöseste Nachrichtenquelle in Estland") zu lesen: um Geld und Mühe zu sparen, solle nur der erste Buchstabe ausgetauscht werden - statt "Võidu sild" (Siegesstraße) nun "Sõidu sild" (Fahrstraße). 

Ein Thema, dass vielleicht aber nur symbolisch die andauernde Diskussion um die russische Haltung zu Putins Angriffskrieg wiederspiegelt. Nikolai Põdramägi, Arzt und Mitglied der Zentrumspartei in Tartu, sprach sich nicht nur gegen die Umbenennung der Brücke aus, sondern bezeichnete auch die gegenwärtigen Vorgänge in der Ukraine als "Bürgerkrieg" (err). Als Reaktion distanzierte sich nicht nur die Zentrumspartei von ihm, sondern auch die Ärztekammer (Postimees / delfi)

Samstag, März 12, 2022

Es war doch unser Tag ... !

Nun weiß die Welt, was am 24. Februar passiert ist. Eigentlich war ja für Estland viel wichtiger, was am 23. Februar 1918 vom Balkon des Endla-Theaters in Pärnu, und dann am 24. Februar in Tallinn verkündet wurde: die Erklärung der Unabhängigkeit des Landes, das sich selbst Eesti nennt. "Die Geburt einer Nation", wie es "Visit Estonia" ausdrückt. Aber seit kurzem ist dieser Tag auch mit etwas verbunden, das tatsächlich aktuell eher einer Loslösung vom russischen Bahnstrahl entgegen steht. Oder vielleicht lesen wir bei den Autor/innen der Kinderseite von "Hanisauland" nach: demzufolge ist in Estland der Höhepunkt dieses Tages immer eine "prachtvolle Militärparade".

Nein, niemand wollte es zunächst wirklich glauben: Putin befiehlt einen militärischen Einmarsch in einem Nachbarland - und auch Estland ist Nachbarland.

Das deutsche Fernsehen berichtete am 11. März vom Biathlon-Weltcuprennen im estnischen Otepää. ARD Moderator Michael Antwerpes entschuldigt sich, dass hier aus einem "sicheren" Studio in Deutschland moderiert wird, und begründet das mit einem Blick auf die Landkarte. Zur Einstimmung wird dann der Wintersportort Otepää vorgestellt, und der estnische Sportreporter Alvar Tiisler mit der Aussage zitiert: "Nein, wir haben keine Angst. Wir haben in den 90iger Jahren kluge Entscheidungen getroffen." 

Aber auch Estland übt sich in Solidarität mit der Ukraine. Die Universität Tartu will den Zugang für russische und belarussische Studierende beschränken. (err) Die gegenwärtig schon in Tartu 257 Studierenden aus Russland und 25 aus Belarus dürfen aber bleiben, so Aune Valk, Vize-Rektor der Universität. Allerdings gibt es auch ein Unterschriftensammlung gegen die Restriktionen der Universität.

Der Zoo Tallinn sammelt Spenden für Zoos in der Ukraine und meldet, in Kiew seien etwa 50 Angestellte mit Familien in den Zoo umgezogen, um dort die Tiere zu beruhigen und ihnen im Krieg beizustehen. 

Eine der größten Tageszeitungen Estlands, die "Postimees", erscheint nun auch mit einer ukrainischsprachigen Ausgabe. "Russland benimmt sich wie Nazideutschland" ist dort zu lesen - so sieht es die Jüdische Gemeinde in Odessa

Der 9. März war dabei für Tallinn noch ein ganz besonderer Gedenktag: an diesem Tag vor 78 Jahren (1944) bombardierte die Rote Armee die estnische Hauptstadt. Allein an diesem Tag sollen damals 3000 Bomben über Tallinn abgeworfen worden sein, 30% des städtischen Wohngebiets wurde zerstört, es gab mehrere Hundert Tote. Für die Stadt ein ganz besonderer Grund, an die aktuellen Ereignisse in der Ukraine zu denken. 

Bis zum 11. März waren bereits über 14.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Estland angekommen, davon seien etwa 3500 weiter in andere Länder gereist, und etwa 5000 seien Kinder (err) Mehrere estnische Gemeinden wandten sich bereits mit der Bitte um Unterstützung an die estnische Regierung, denn ihre Aufnahmekapazitäten seien überlastet.