Sonntag, Juli 24, 2022

Erst Karriere, dann Partei

Die zweite Regierungskabinett Kaja Kallas, jetzt mit der Vaterlandspartei (Isamaa) und den Sozialdemokraten (SDE). Es ist eine Übergangsregierung, denn bereits für März 2023 sind Parlamentswahlen turnusgemäß angesetzt.

Mindestens in einem Punkt wirkt die Regierungsbildung in Estland ungewöhnlich: es werden Ministerinnen und Minister ernannt, die erst nach ihrer Ernennung auch derjenigen Partei beitreten, die sie für diesen Posten nominiert haben. 

So zum Beispiel Madis Kallas, der jetzt estnischer Umweltminister ist. Er werde überlegen, jetzt auch den Sozialdemokraten beizutreten, die ihn für das Amt nominiert haben, heißt es in der Presse (err). Müssen in Estland so dicke Brocken vor die Nase des Esels hingehängt werden, bevor jemand einer Partei beitritt? Kallas - offenbar kein Verwandter der Ministerpräsidentin - hat Sport studiert und errang als Zehnkämpfer im Jahr 2006 den 17.Platz bei den Europameisterschaften in Göteborg. Madis Kallas ist geboren in Kuresaare, war auch schon Bürgermeister auf Saaremaa und Muhu, und hatte eigentlich oft schon betont, keiner Partei beitreten zu wollen. Nun klingt es so: "Ich möchte beweisen, dass Estland nicht nur aus Tallinn besteht", meint er. Das klingt eigentlich nach einem Minister für Regionalentwicklung. Ob er also richtig im Amt ist, zumal vielleicht nur für ein paar Monate? Ein "Wahlkampfminister", damit die SDE auch auf Saaremaa noch gewählt wird?
Kallas trat 2020 auf Saaremaa von seinen Ämtern zurück, weil er als Leiter des Krisenstabs sich in der Verantwortung sah für die Vielzahl von Corona-Erkrankungen auf der Insel - aber 2021 trat er doch wieder an und wurde erneut gewählt. 

Es gibt ja gleich mehrere aktuell zur Diskussion stehenden Umweltthemen. Da ist einerseits der estnischen Drang zum übermäßigen Wälderabholzen (siehe "Robin Wood", "DIE ZEIT", "Berliner Zeitung". ). Dann soll, angesichts des Boykotts von russischem Gas, nun auch Ölschiefer zur Wärmegewinnung genutzt werden (die umweltschädliche Gewinnung von Ölschiefer gilt als eine der größten Umweltsünden des Landes). Da gilt nun Schieferöl plötzlich als "Reservebrennstoff" (ERR). Und es gibt die Idee, doch vielleicht auch in Estland ein Atomkraftwerk zu bauen (ERR) - wo nun doch scheinbar schon die EU Atomkraft für "grün" erklärt? Ob der neue Umweltminister dazu eine Meinung hat?

Auch der andere neue Koalitionspartner an der Seite von Ministerpräsidentin Kaja Kallas zeigte seine Vorlieben für Minister außerhalb der eigenen Mitgliedsreihen. Sowohl die neue Justizministerin Lea Danilson-Järg wie auch Kristjan Järvan, nun "Minister für Unternehmertum und Informationstechnologie" waren keine Parteimitglieder. Järvans Qualifikation: er ist Unternehmer und Gründer mehrere Start-ups. Järvan war Marketing-Manager und CEO mehrerer Firmen. Sein Vater, Aare Järvan, ist Vorstandsmitglied der Estnischen Wirtschafts- und Innovationsagentur - und weist Verdächtigungen zurück, dieses Amt könne Interessenkonflikte (oder, im Gegenteil, geheime Absprachen) mit seinem Sohn hervorrufen (ERR). Als Vertreter der Agentur meint Egert Puhm dazu: "Der Vertrag mit Aare Järvan ist ja schon am 11. Juli abgeschlossen worden, also vor der Ernennung seines Sohnes zum Minister. Das zeigt nur wieder mal, wie klein Estland ist."

In Politiker-Sprech übersetzt klingt das so (Zitat Isamaa-Chef Helir Valdor Seeder): "Zwei starke Persönlichkeiten haben sich Isamaa angeschlossen, um bei der Umsetzung des Parteiprogramms zu helfen und dringend benötigtes frisches Blut in die estnische Politik zu bringen." (ERR) Klingt nach dem Drang von Konservativen, unbedingt modern sein zu wollen. 

Lea Danilson-Järg allerdings ist keine Neueinsteigerin, sondern arbeitete bereits seit vielen Jahren in verschiedenen estnischen Instutionen: als Beraterin des Rektors der Estnischen Akademie für Sicherheitswissenschaften, beim Parlaments-Informationssystem in der estnischen Nationalbibliothek, sie war beteiligt an Untersuchungen zur Geburtenentwicklung in Estland, sie leitete die Abteilung für Bevölkerungs- und Familienpolitik im Innenministerium und sie gab bei der Zeitung "Postimees" eine Serie zur Bevölkerungspolitik heraus. Sie hätte also auch Familienministerin werden können. - Vor diesem thematischen Hintergrund sind vielleicht auch die Begründungen zum Parteieintritt zu verstehen: "Isamaa steht seit jeher für Familien mit Kindern und eine national nachhaltige Familienpolitik" (ERR), so die neue Ministerin, die zwischen 1998 und 2004 auch schon mal Mitglied der "Moderaten" (Rahvaerakond Mõõdukad) war. Diese ging später in den Sozialdemokraten auf (und sie hat der jetzigen Ministerin wohl nicht rechtzeitig ein Amt angeboten). "Ich glaube, das Ministeramt wird eine sehr interessante Ergänzung meiner bisherigen Karriere sein", antwortet die neue Amtsinhaberin auf die Frage eines Journalisten (ERR) Auch auf die Frage, welche Weltanschauung sie vertrete, hat die Ministerin eine sehr "kreative" Antwort: "Da ich ein Isamaa-Minister bin, macht es Sinn, dass ich eine konservative Weltanschauung habe."

Eine ungewöhnliche Regierungsbildung also, in schwierigen Zeiten. Es ist zu vermuten, dass bis zum nächsten Wahltermin im Frühjahr 2023 sowieso vor allem zwei Themen auf der Regierungsagende stehen: der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger in Estland.

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