Samstag, Dezember 31, 2022

Rückblick auf Edgar

Nun hat also dieses recht schwierige Jahr 2022 doch noch einen weiteren Grund gefunden, es zu bilanzieren - und diese Bilanz reicht gleich einige Jahrzehnte zurück. Edgar Savisaar ist gestorben. 

Schon die Presseschlagzeilen zeigen Unterschiede: entweder "Ex-Regierungschef" (Spiegel), "Kämpfer für die Unabhängigkeit" (Süddeutsche), "eine Legende" (Estonian World), oder eben seine Selbstbezeichnung: "Ich bin Dissident" (Postimees). Oder so, wie ihn andere sehen: "Edgar Savisaar, das Phänomen." (err)

Man liegt sicher ungefähr richtig, wenn man ihn als "Schlüsselfigur bei der Wiedererringung der Unabhängigkeit Estlands" bezeichnet. Die 72 Jahre seiner Lebenszeit, zwischen 1950 und 2022, sind auch eine für Estland bedeutende Zeitspanne. Ganz besonders brisant wurde es zwischen dem 15. Mai 1990, als Savisaar die Gegenwehr der estnischen Bevölkerung gegen einen kommunistisch-sowjetischen Umsturzversuch organisierte, und dem Putsch in Moskau im August 1990, als Savisaar dann für Estland die Unabhängigkeit erklärte. Dabei war Savisaar im Moment des Putsches noch in Stockholm gewesen und musste dann über Helsinki zusammen mit dem damaligen Außenminister Lennart Meri in einem kleinen Motorboot nach Tallinn zurückkehren.

Das Theater "NO99" widmete Savisaar ein eigenes Theaterstück, unter anderem mit der Begründung, er sei einer der umstrittensten Politiker Estlands. Im Ankündigungstext heißt es: "Seine Karriere hat eine ziemlich unglaubliche Wandlungen durchlaufen, von einem kommunistischen Apparatachik über einen nationalistischen Oppositionsführer während der späten Sowjetunion bis hin zum ersten Ministerpräsidenten des gerade wieder unabhängigen Estlands, dann zum Führer der Opposition, die hauptsächlich von der lokalen russischsprachigen Bevölkerung unterstützt wurde."

Jedenfalls gab es auch Zeiten, wo zumindest das Gefühl aufkam, Savisaar könnte besser auch mal anderen Platz machen, ob als Regierungschef, Parteichef oder Bürgermeister von Tallinn. 2004 blieb Savisaars Haltung zum EU-Beitritt eher im Unklaren, 2007 wollte er offenbar dadurch punkten, in dem er sich gegen die Versetzung des sogenannten "Bronzesoldaten" aussprach. 2010 gab es Anschuldigungen, Savisaar habe Gelder aus Russland für den Wahlkampf seiner Partei angenommen. 2014 fiel er durch merkwürdige Äusserungen zur russischen Besetzung der Krim auf (Baltic Course), die Zentrumspartei kündigte das Kooperationsabkommen mit "Einiges Russland" erst im März 2022. 2015 gab es dann zunächst eine weitere Korruptionsanklage, es folgten die gesundheitlichen Probleme mit einer Streptokokken-Infektion und die Amputation des rechten Beins unterhalb des Knies.

Zusammen mit Siim Kallas, dem Vater der heutigen Regierungschefin Kaja Kallas, gründete Savisaar 1987 die estnische "Volksfront" (Rahavarinne) als Gegengewicht zur Kommunistischen Partei. Zusammen veröffentlichten sie 1987 das Konzept des IME (Isemajandava Eesti / selbstverwaltetes Estland). Intellektuell brillant, charismatisch, fleißig und als guter Organisator galt Savisaar damals. Die estnische Volksfront organisierte auch auf estnischer Seite den "Baltischen Weg" (estnisch "Balti Kett"), die Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn am 23. August 1989, zum Gedenken an den 50. Jahretag des Hitler-Stalin Pakts, der das Schicksal der baltischen Staaten besiegelt hatte.

Aber während Savisaar Führungsfigur in der 1991 gegründeten Zentrumspartei (Eesti Keskerakond) wurde, aus den verbliebenen Resten der Volksfront gebildet, engagierte sich Siim Kallas in der 1994 gegründeten eher wirtschaftsliberalen "Reformpartei" (Reformierakond). Zuvor war Kallas Chef der Bank von Estland gewesen. Beim Skandal 1995 ging es dann auch darum, ob Savisaar auch Gespräche von Kallas hatte abhören lassen.

Zwischen Zentrumspartei und Reformpartei gibt es auch andere Verbindungen. Edgar Savisaars dritte Ehefrau, Vilja Savisaar Toomast, war zunächst Abgeordnete der Zentrumspartei, wurde ins Europaparlament gewählt, trat aus der Partei aus, wechselte zur Reformpartei und sitzt heute für diese wieder im Parlament. Savisaars Sohn Erki dagegen blieb sozusagen bei "Schusters Leisten" - als Politiker der Zentrumspartei. Die heutige Ministerpräsidentin Kaja Kallas formuliert ihr Gedenken so: "Ja, Edgar Savisaar war eine umstrittene Figur, aber er war dennoch ein Politiker mit brillantem Verstand, eine großartige Persönlichkeit, und er hat einen Platz in der estnischen Geschichte." (ERR)

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