Donnerstag, August 03, 2006

Die estnische Grenze - Russlands Schwelle zur Demokratie?

Noch ein Nachtrag zum G8-Gipfel in St.Petersburg. Das hat nichts mit Estland zu tun? Doch - dafür sorgten schon die krassen Sicherheitsmaßnahmen des russischen Militärs und der Polizei. Von deutscher Seite betroffen waren zwei relativ unbefangene Studenten aus Bielefeld: Akribisch Protokoll geführt hat das Bielefelder Campus-Radio "Hertz 87,9" (also quasi "Kolleg/innen" - siehe auch "Baltische Stunde").

Am Anfang war eine lustige Fahrradtour ...
Eike Korfhage und Henning Wallerius, beide Studenten der Journalistik und Fotografie in Bielefeld, hatten sich einer Radtour von G8-Kritikern angeschlossen,
die quer durch die baltischen Staaten nach St.Petersburg radeln wollten, um auf Globalisierungsfragen aufmerksam zu machen. Korfhage und Wallerius selbst wollten aber lediglich dokumentieren und berichten darüber.

Einige Tage lang (Start Anfang Juni in Berlin) war es eine mehr oder weniger stressige Radtour - wie üblich, wenn man eigentlich viel zu wenig Blicke für die Landschaft übrig hat, weil man ja andere Ziele hat ...
Bereits einge Tage vor dem Gipfel "glücklich" in St.Petersburg angekommen, wurden die beiden Deutschen dann Opfer polizeilicher Willkür in Russland - der genaue Ablauf ist bei dem "Heimatsender" der beiden ("Campus-Radio") nachzulesen. Eines Abends erschien dann Miliz in der Wohnung, wo die Deutschen zusammen mit anderen privat untergebracht waren, und verhaftete die beiden unter höchst fadenscheinigen Gründen ("öffentliches Urinieren gegen ein Auto" - wobei aber die beiden Polizeibeamten die einzigen Zeugen gewesen sein wollen..).

Russland von innen
Nachteil für die russichen Behörden, dass die Sache aufgrund des internationalen Medieninteresses nicht "unter der Decke" gehalten werden konnte. Nach der Verhaftung gab es immer wieder Zeiträume, wo die beiden Deutschen per Handy mit ihrem Campusradio in Kontakt treten konnten (alle Telefonate per Podcast abrufbar). Trotz aller Ungewissheit (Befürchtungen für 15 Tage im russischen Knast "zu verschwinden") klang bei allen Gesprächen imm
er wieder die Sorge durch, dass es anderen Verhafteten, die nicht "aus dem Westen" kommen, noch viel schlimmer gehen könnte (da niemand darüber berichtete). Dennoch wurde dieser Fall geradezu zu einem Anschauungsbeispiel, wie es aktuell um die Möglichkeiten der freien Meinungsäusserung bestellt ist in Russland.

"Methoden wie im Lukaschenko-Staat" - so urteilte das sonst immer gut informierte "Russland-Aktuell" - und begründen es mit Fakten: auch dort hatte, vor der Präsidentschaftwahl, die weißrussische Polizei Leute von der Straße weg verhaftet und mit Begründungen wie "Fluchen in der Öffentlichkeit" für 15 Tage im Knast verschwinden lassen. "Reporter ohne Grenzen", die sich weltweit für die Pressefreiheit und die Arbeitsbedingungen von Journalisten einsetzt, bericht auch von Zukunftsplänen der russischen Gesetzgeber: demnächst soll "Beleidigung von Regierungsvertretern" als "extremistisch" gelten. So züchtet man wohl Terroristen ...

Die TAZ zitierte den SPD-Bundestagsabgeordneten Rainer Wend mit der Aussage:
"Es liegt die Vermutung nahe, dass die beiden von der Berichtserstattung über den G8-Gipfel abgehalten werden sollten." BELLONA zitiert Dmitry Makarov, der am Rande des G8-Gipfels bemüht war, inhaftierten Demonstranten von NGO-Seite aus juristischen Beistand zu geben. Makarov sagt: "Es zeigt sich mal wieder, wie schnell repressive Maßnahmen hier plötzlich eingeführt und umgesetzt werden können." Die TAZ zitiert Henning Wallerius mit der Aussage: "wir haben erlebt, dass sich Miliz und Gerichte die Beweise zurechtbiegen können. Das zeugt nicht unbedingt von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.".

Bei den eigentlichen Demonstrationen am Rande des G8-Gipfels sollen, verschiedenen Presseberichten zufolge, dann zwischen 22 und 37 Menschen festgenommen worden sein (siehe auch FAZ-Bericht). Es wurden auch weitere Journalisten verhaftet, wie u.a. BELLONA berichtet. Dort wird der Ukrainer Maxim Butkevich zitiert,
der verhaftet wurde, weil er auf dem Nevsky Prospekt mit einer Kamera filmte.
"Es scheint mir, dass einzig die unter den Verhafteten befindlichen Bürger aus Belarus den Umgang der russischen Polzei okay fanden - denn gegen sie wurde auch kein Verfahren eröffnet," sagt Natalya Zvyagina, die als Juristin die Demomnstranten in St.Petersburg ebenfalls unterstützen wollte (was diese Weißrussen dann wohl zu Hause erwartet?)

Ab nach Estland!
Eike Korfhage und Henning Wallerius kamen am 15.Juli 2006 aus dem russischen Gefängnis wieder frei und wurden - nach Estland abgeschoben! Vielleicht, weil sie von Estland aus in Russland eingereist waren? Oder, weil Estland das erste "sichere" (demokratische?) Land in der Nähe ist? Die estnischen Behörden wollten wohl aus diesem Politikum keinen "Modellfall" machen, und gaben keine Erlaubnis für eine kurzfristig in Tallinn von estnischen G8-Aktivisten beantragten Solidaritätsdemonstration für die übrigen immer noch in St.Petersburg in Haft Sitzenden.

"Wir sind unheimlich froh, da raus zu sein" - so die beiden deutschen Journalisten gegenüber ihren Unterstützern in Bielefeld. Sie waren zunächst in Narwa in einer Schule untergekommen (Podcast des Telefoninterviews aus Narwa, nach der Freilassung). "Das große Presseecho hat uns erstaunt", erklären die beiden den interessierten Medienkollegen. "Aber in Russland sind Leute, die Bahnfahrkarten nach Petersburg gekauft hatten, teilweise direkt danach zu Hause verhaftet worden" erzählt Henning Wallerius im Interview mit dem Campusradio (in Russland sind die Fahrkarten personifiziert und in der EDV gespeichert), "und in den Zügen sind dann nochmal sehr viele festgesetzt worden."

Einblicke in das, was Estland als "demokratische Grenze nach Osten" noch blühen kann? Immerhin konnten Angestellte des deutschen Konsulats in St.Petersburg den Verhafteten im Gefängnis helfen, und waren auch bei den Verhandlungen dabei. Aber in diesem Fall waren immerhin keinerlei Bombendrohungen, nicht einmal Androhung gewaltsamer Aktionen im Spiel. "Wir haben auf jeden Fall eindeutige Erfahrungen gemacht, was Russland von freier Meinungsäusserung oder von Menschenrechten hält", so erzählt Henning Wallerius. Am Tag nach seiner Freilassung vermutete er auch, dass die Freilassung mit dem Start des G8-Gipfels zu tun haben könnte, der gerade zeitgleich in St.Petersburg über die Bühne ging.

Vielleicht wird nun das Zitieren solcher Erfahrungen auch schon als "anti-russische Stimmungsmache" eingestuft? Ich persönlich kenne auch viele nette Russen. Aber was können die für ihre Staatsorgane? Und was können die dafür, wenn uns mal wieder übereifrige Funktionäre einschlägiger sogenannter "Russland-freundlicher" Organisationen in Estland erzählen wollen, wie "diktatorisch" es doch in Estland zugehe?

Weitere Berichte im Netz zum Thema:
Tagebuchseite CARAVAN2006 der Radtour-Organisatoren (mit Bericht Riga - Podcast Soundfile - und Foto der Radler bei der Durchfahrt durch Tartu)
Homepage von HERTZ 87,9, mit vielen Infos und Podcast-Dateien, auch weiteren Presselinks
Freelens (Verband der Fotojournalisten)
Deutschlandfunk - Campus und Karriere
Neue Rheinische Zeitung vom 18.7.06
DER SPIEGEL online
Westdeutscher Rundfunk WDR
WDR "Westzeit" (inklusive Interview mit den Studenten)
TAZ vom 15.7.06
FAZ vom 17.7.06
ZDF "HEUTE" vom 14.7.06
Berliner Morgenpost vom 16.7.06
Krusenstern (Schweizer Newsportal "Zwischen Ost und West")
Weblog "Outwrite"
Portal Russland-Aktuell
Gipfelsoli Infogruppe
Reporter ohne Grenzen (Pressemitteilung vom 14.7.06)
Stellungnahme der Gewerschaft VER.DI / DJU
Amnesty International
BELLONA - russisch-norwegische NGO (Info englisch)
Schweizer Journal "20minuten"
Infos bei "Infoladen Moskito" zu einer weiteren Verhaftung von Mihail Lunkovskij, eines russischen G8-Aktivisten (dort auch gute Berichte zu den näheren Umständen der Ereignisse in St.Petersburg)
St.Petersburg Times (englisch)
MOSNEWS.COM
POLIT.RU (russisch)
Postimees (estnisch)
Pärnu Postimees (estnisch)
Valgamaalane (estnisch, mit großem Foto!)

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