28.September. Wieder geistert das Stichwort "Estonia", verbunden mit einem Fährunglück in der Ostsee, durch die Schlagzeilen: Auf den Tag genau 11 Jahre nach dem Untergang der ESTONIA, der im Jahre 1994 852 Opfer kostete und viele Rätsel hinterließ, passierte wieder ein Fährunglück in der Ostsee. Es war ausgerechnet das Nachfolgeschiff Kristina Baltica, das in dieser Nacht zum 28.September 2005 in den engen Schären vor Stockholm auf Grund lief. Es war gerade zur Überfahrt nach Tallinn gestartet.
Glücklicherweise kamen die 373 Passagiere und 169 Besatzungsmitglieder mit dem Schrecken davon - doch Kritik gab es trotzdem. Nachdem das Unglück passiert war, sei den Passagieren in der Bordbar gratis Alkohol ausgeschenkt worden - in einem Ausmaß, dass viele viele der betrunkenen LKW-Fahrer Probleme beim Ausschiffen gehabt haben sollen.
Die Informationen der Betreibergesellschaft TALLINK hatten harmlos geklungen: Keine Verletzten, nach ein paar Stunden habe sich das Schiff selbst befreien können und sei in den schwedischen Hafen Kapellskär eingelaufen. Von dort aus habe man denjenigen Passagieren, die ihre Reise nach Estland fortsetzen wollten, die Überfahrt auf der Fähre VANA TALLINN nach Palsdiski angeboten.
Auch in den deutschen Medien erschienen bisher nur knappe Kurzmeldungen. Interessant wird es erst, wenn man im Netz die vielen Interviews mit Passagieren liest, die in den vergangenen Tagen in estnischen, lettischen, schwedischen und norwegischen Zeitungen erschienen sind. So fand die NEATKARIGA RITA AVIZE (Ausgabe 1.10.05) in Lettland einen prominenten "Kronzeugen": Ex-Weltmeister im Motokross Artis Rasmanis befand sich mit mehreren Kollegen auf der Unglücksfähre. "Es gab zwar keine bedeutenden Schäden, aber drei Stunden lang wurden wir vollkommen im Unklaren gelassen, was passiert ist", erzählte Rasmanis der lettischen Tageszeitung.
"Ich habe mit dem Handy meine Mamma angerufen, und die wusste mehr als wir, aus dem schwedischen Fernsehen," so erzählte es die 18-jährige Clara Fondberg dem SVENSK DAGBLADET. Den schnellsten und ausführlichsten Bericht über die plötzlich angebotenen Alkoholgelage brachte die norwegische Boulevardzeitung VG (Verdens Gang). "Man konnte nicht alle harten Sachen bekommen, aber Bier, Wein und Gin Tonic schon," zitiert VG den Passagier Jarle Berg. "Ich habe Leute gesehen, die gleich vier, füng Gläser weggetragen haben!"
Auch beim Auschiffen in Kapellskär soll es zu Problemen gekommen sein. Zwei Stunden lang hätten die Passagiere unter Deck warten müssen, wo durch Dieselabgase erheblich schlechte Luft vorgeherrscht habe, so berichtet Rasmanis. Als Rennfahrer Rasmanis mit seinem Materialbus endlich vom Schiff gekommen sei und zur versprochenen Überfahrt mit der VANA TALLINN gelangt sei, da sei das Schiff schon weg gewesen. Mehr freie Plätze habe man nicht gehabt, so die simple Auskunft am Hafen. Etwa 30 Passagiere seien mit ihrem Gepäck an der Hand zu einem 20km entfernten Hotel geschickt worden, wo sie die Nacht verbringen mussten. Man habe versprochen, am nächsten Tag Fährtickets von Stockholm nach Tallinn zu besorgen. Tatsächlich aber habe diese Lösuing am folgenden Morgen aber große Überraschung bei der Fährgesellschaft TALLINK ausgelöst: dort dachte man wohl, alle Passagiere seinen mit der VANA TALLINN am Abend vorher bereits abgereist. Nur nach langen Verhandlungen habe man neue Tickets herausgerückt, so Rasmanis. Er berichtet auch von einigen Vertretern einer Firma aus dem lettischen Valmiera, denen das ganze Theater zu viel geworden sei, und die demzufolge sich neue Fährtickets für die Fähre Stockholm-Riga gekauft hätten.
DAGENS NYHETER in Schweden titelte am 28.September: "Nur schönes Wetter verhinderte eine größere Katastrophe," und zitiert dabei Göran Rosvall von der schwedischen Behörde für Schiffssicherheit. Das Unglück soll nach Angaben der schwedischen Seefahrtsinspektion zwischen zwei kleinen Inseln passiert sein, die nur etwa 300m voneinander entfernt seien. Offensichtlich habe es einen Schaden der Elektronik gegeben, und das Schiff habe kurzfristig einen Ausfall in der Navigation gehabt. Laut Angaben der BALTIC TIMES sei der estnische Kapitän Aivo Palm das Unglücksschiff gesteuert.
"Wir werden den Unfall in einer gemeinsamen schwedisch-estnischen Kommission untersuchen", zitiert die schwedische DAGENS NYHETER Sten Anderson von der schwedischen Seefahrtsbehörde.
Der Zeitung SVENSKA DAGBLADET gegenüber bestätigt auch TALLINNK-Marketingchef Tapani Kauhanen die Ausgabe des kostenlosen Alkohols an Bord. "Offensichtlich ist die Besatzung davon ausgegangen, dass es keine Gefahr für die Passagiere gäbe," erklärt er. "Wir werden die Sache intern klären."
Mehrere Experten für Schiffssicherheit, die von der schwedischen Presse dazu befragt wurden, erklärten inzwischen ihre Besorgnis über ein solches Vorgehen. DAGENS NYHETER zitiert Göran Rosvall: "Wenn es dann doch plötzlich ernster würde, und die Fähre evakuiert werden müsste, dann weiß man ja nicht, was man mit all den besoffenen Leuten machen soll", so die Stellungnahme von Rosvall.
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