Am 16.Oktober 2005 findet in Estland, einem der sicherlich immer noch unbekanntesten Mitgliedsländer der Europäischen Union, eine Kommunalwahl statt. Aber nicht auf den Politik-Seiten erzeugt diese Wahl schon jetzt Aufsehen: es sind die Internet-Freaks und E-Government-Fans, die gespannt nach Estland blicken. In Estland können Wählerinnen und Wähler erstmals per Mausklick im Internet ihre Wahlentscheidung treffen.
Die Chat-Gemeinde im Internet ist sich unsicher: die einen sehen "Betrugsmöglichkeiten" durch die neue Technik, die keine Wahlkontrollkommission mehr verhindern könne, andere meinen - ganz deutsche Erfahrungsmuster mit neuer Technologie - eher eine technologische Panne a la Mauteinführung in Deutschland voraussehen zu müssen. Natürlich gibt es auch diejenigen "faulen" Mitmenschen, welche sich "herrliche Zeiten" erträumen und in Zukunft am Wahltag das Haus nicht mehr verlassen zu müssen glauben.
In Estland selbst scheint sich die Regierung und auch die meisten Parteien völlig sicher. Sogar den eigenen Präsidenten hat man überstimmt, der zunächst unter das entsprechende Gesetz seine Unterschrift verweigerte. Auf der Homepage des estnischen Aussenministeriums findet sich denn auch ein Foto, das die Sitzungen des Regierungskabinetts Ansip symbolisieren soll: Minister vor Laptops, die sich Gesetzentwürfe und Beschlussvorlagen per Datei zugänglich machen und mit elektronischer Signatur "unterschreiben". Nahezu 200.000 Euro an Papier- und Kopiekosten habe man dadurch gespart, wird eifrig vorgerechnet.
Was die deutschsprachige Presse angeht, so hat diese Wahl nicht durch die Demoskopen, auch nicht durch die Wahlergebnisse, sondern durch die Art ihrer Durchführung bereits im voraus genügend Schlagzeilen gemacht. Die Aufmerksamkeit kommt vorwiegend aus der Computerbranche. "Weltpremiere!" jubeln die RESELLER-NEWS (schreiben ihren Text allerdings weitgehend von den estnischen Regierungsseiten im Internet ab). Der Autor Martin Fryba hebt vor allem den Altersunterschied deutscher und estnischer Parlamentsabgeordneter (35 Jahre in Estland, 55 im deutschen Bundestag) hervor als Grund hervor, warum Fans der elektronischen Technik neidvoll nach Estland blicken müssen.
Die estnische Regierung selbst nennt noch andere Gründe für den wahltechnischen Vorstoß: 54% der Esten zwischen 6-74 Jahren, und sogar 90% der Menschen zwischen 6-24 nutzen in Estland das Internet. Allerdings haben diesen Angaben zufolge nur 34% einen Computer mit Internet-Anschluß zu Hause stehen, viele nutzen einen der kostenlosen öffentlichen Internet-Zugänge in Bibliotheken, Hotels oder sogar Kneipen. Über 500 dieser Zugänge sind in Estland inzwischen in Betrieb - auch Touristen bekannt geworden durch die streng nach EU-Norm entworfenen eigenen Verkehrszeichen, die darauf hinweisen. Alva Gehrmann weist in einem Beitrag für die Zeitung DAS PARLAMENT darauf hin, dass es umfangreiche Trainingskurse gibt, damit auch wirklich mehr und mehr Esten den Umgang mit Computer und Internet lernen. So sind seit 2000 alle Schulen des Landes vernetzt, am Fortbildungsprogramm "Look @ the World" haben bisher 100.000 Esten teilgenommen - von insgesamt 1,4 Millionen Einwohnern. Gehrmann weist auch darauf hin, dass 2004 bereits 76 Prozent der Esten ihre Steuererklärung online abgegeben haben.
Ein weiterer Grund für die Einführung des E-Voting ist die landesweite Einführung von IC-Cards (elektronische Identitätsnachweise), die bis Ende 2006 in Estland abgeschlossen sein soll. Erläuterungen von DPA-Korrespondent Jacob Lemke dazu zitieren ZDF HEUTE, ZD-NET, aber auch Fach-Foren wie X-DIAL: ID-Ausweis am PC durch ein Lesegerät ziehen, eine spezielle Internet-Wahlseite aufrufen, noch eine PIN-Nummer eingeben, und schon ist der Wahlvorgang passiert.
Kompliziert klingen die Varianten, die bei diesem System ebenfalls möglich sind: Der wichtigste Unterschied zu den herkömmlichen Verfahren ist, dass der Wähler seine Entscheidung überdenken und bis Wahlschluss beliebig oft ändern kann. Oder er kann auch in ein herkömmliches Wahllokal gehen und dort sein Kreuz machen - dann wird die "e-Stimme" annulliert.
Um die Sicherheit zu verbessern, hatte man in Tallinn während der Probeläufe Computer-Hacker eingestellt. Nun sind wichtige Teile des Systems nicht mehr miteinander vernetzt, die Server stehen unter Polizeischutz und der Computer, an dem schließlich die "e-Stimmen" gezählt werden, ist nicht ans Internet angeschlossen - so berichtet es DER KURIER in Österreich. Gleichzeitig werden Aussagen des estnischen Wahlleiters Mikhel Pilving zitiert, nach denen 30 Länder die estnischen Wahlen beobachten wollen. Noch wenige Jahre zuvor hatten internationale Beobachter bei solchen Gelegenheiten zunächst mal prüfen wollen, ob in Estland denn alles demokratisch zugehe. Heute gelten Wahlen im nördlichen der drei baltischen Staaten als technologische Bildungsreise.
Auch Beobachter aus Österreich und der Schweiz haben sich in Estland angesagt, so ist zu vernehmen. Bisher aber niemand aus Deutschland. Aber liebe deutschen Politikerinnen und Politiker: bitte dann nachher aber nicht etwas als "Weltneuheit" in Erfurt, Düsseldorf oder Kiel einführen, was in Estland seit 2005 funktioniert!
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AntwortenLöschenVor Jahren, ich glaube 1998, startete ein wissenschaftliches Projekt in Osnabrück zur Online-Wahl an der Hochschule. Ich erinnere mich an Zwischenergebnisse und Berichte, dass es für die Praxis zu früh und nicht umsetzbar sei. Was ist aus den Ergebnissen geworden, geht nichts Neues mehr wegen deutscher Grundsätzlichkeit?
AntwortenLöschenDie ganze öffentliche Online-Wirklichkeit ist weiterhin nur der alte Ausdruck hierachischer Behördentätigkeit, der Dienstwege, Warten auf den Administratoren. Haben die noch nie was von "social software" gehört. Geschweige denn von Online-Wahlen. Armes Deutschland.