Donnerstag, Mai 30, 2024

Estnischer Sommer: Hungern, Holzski und Skandale?

 Manchmal sind auch touristische Infos irritierend, wenn es um Estland geht. Sagen wir mal so: man sollte sich rechtzeitig orientieren, worum es wirklich geht. Das ist auch bezüglich der Aktivitäten für den Sommer 2024 so, wozu der Estnische Touristikverband nun Informationen zusammengestellt hat (err). Da sind Dinge angekündigt, die näheres Hinsehen verdienen. 

Baltische Skandale?

Da ist zunächst BALTOSCANDAL, in Rakvere im Norden Estlands, vom 3.-7. Juli. Dieses Festival kann immerhin schon sein 30. Jubiläum feiern, dürfte also auch dem entsprechenden Fachpublikum in Europa bereits bekannt sein. Wer trifft sich dort? Die blumenreiche Webseite verrät es nicht auf den ersten Blick.
Ich übernehme hier mal die Erklärung der lettischen Nachbarn von "theatre.lv": "Baltoskandal hat nichts mit einem 'Skandal' zu tun - der Name setzt sich zusammen aus den Wörtern Baltikum und Skandinavien. Es handelt sich um ein zeitgenössisches Theaterfestival in Rakvere, im Norden Estlands. Die Stadt ist nur ein wenig größer als Limbaži. Das Festival wird von etwa 5000 Menschen besucht. Sie kommen aus aus dem ganzen Land und auch aus anderen Ländern. Die Aufführungen beginnen um 14:00 Uhr und enden gegen 1:00 Uhr nachts. Es dauert 4 Tage."

Beim Blick in die Geschichte der bisherigen Festivals zähle ich 14 deutsche Beteiligungen zwischen 1990 und 2022, und nur selten lässt sich gleich am Namen ablesen, wo sie herkamen (einmal "Volksbühne am Rosa-Luxemburg Platz", einmal "Kammertheater Neubrandenburg"). Oft sind es, wie überall im Programm, Aufführungsbeteiligte verschiedener Nationalitäten. 2024 gibts aber gleich zwei deutsche Beiträge. Dabei ist unter anderem Robert Henke, also eigentlich ein Musiker - der Autritt geht wohl eher in Richtung einer Performance (Webseite). Und Florian Malzacher präsentiert im Rakvere Theater ein Buch mit dem Titel "Die Kunst der Montage". 

Holzski im Sommer? 

Bei der Suche danach, was auf dem "Treskifest" geboten wird, ist zu empfehlen besser keine KI zu benutzen - sonst könnte eine künstlich gefütterte Intelligenz noch auf die Idee kommen, das Wort "Treski" aus dem Norwegischen zu übersetzen (Tre = Baum / Holz). Nein, es sind hier keine Loipen für Holzskier gespurt - "Treski" ist einfach der Name eines kleinen Dorfes im äußersten Südosten Estlands, und hier wurde 2021 eine neue Freilichtbühne fertig gestellt. Auch hier ist die Zahl 3 von Bedeutung - es findet nun zum dritten Mal ein Festival statt. Die Veranstalter beschreiben es so: "Treski ist ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, um etwas Besonderes zu erleben. Wir laden Sie ein, Kultur, Musik und friedliche Natur zu genießen und außergewöhnliche Erinnerungen zu schaffen." Vom 9.-11. August 2024 gibts hier vor allem Musik, vorwiegend von Bands aus Estland.

Etwas abgelegen liegt der Ort allerdings schon: wer mit der Bahn kommt, müsste in Orava aussteigen, 8 km entfernt (die Bahnfahrt dauert von Tartu aus etwa 1 Stunde). Autofahrern empfehlen die Veranstalter doch bitte nicht allein zu kommen sondern andere mitzunehmen - um Kosten und nötige Parkplätze zu sparen. Einen Tag vor Beginn, am 8. August, gibt es schon Workshops und Diskussionen - die sogenannte "Treski inspiration conference". Und wer teilgenommen hat, bringt sich vielleicht "Treski"-Shirts oder andere Werbeartikel mit und machen den Ort (der offiziell inzwischen weniger als 100 Einwohner/innen hat) dann auch etwas bekannter in der Welt.  

Freiwillig hungern? 

Auch für das Festival das vom 14.-18. August stattfindet, müssen wir "alle Ecken Estland" erkunden. Es findet in Narva-Jõesuu statt, und auch die Deutschen wissen inzwischen, dass Narva ebenfalls nahe der Grenze zu Russland liegt. Und falls jemand den Festival-Titel HUNGERBURG allzu ernst nehmen sollte: doch, doch, die Lebensmittelversorgung ist dort völlig normal. Die Veranstaltung ist ein Projekt des "Tartu Uus Teater" (Neues Theater Tartu), eine Einrichtung die ihre Arbeitsweisen in einem "'Manifesto" formuliert: "Das Neue Theater Tartu ist eine offene Plattform für neue Ideen."

Benannt ist das Festival nach dem sogenannten "historischen Ortsnamen" von Narva-Jõesuu: ihren heutigen Ortsnamen erhielt die Stadt offiziell erst im Jahr 1890. Ein Ort, der auch als Kurort bekannt ist und mit seinen 2600 Einwohner/innen (nur 13% davon Est/innen) seit 1993 Stadtrechte verliehen bekam. Also müsste ja deutsches Publikum besonders interessiert sein? Kennen Sie denn das alte Hungerburg nicht? (sowie manche immer gern von Dorpat, Reval oder Wesenberg reden?)

Auch hier gilt: bitte keine künstliche Intelligenz oder Google einsetzen. Sonst finden Sie zum Beispiel einen Stadtteil von Innsbruck (auch unter "Quaeldich.de" zu finden), den Gutshof Hungerburg in Bitburg in der Eifel (mit Pferdepension), eine Künstlerkolonie in Berlin oder eine Sandinsel ganz im Norden Deutschlands, an der dänischen Grenze. Alles falsch! möchte man da ausrufen. Aber auch wer nach "Hungerburg in Estland" sucht, findet bisher die Hinweise eher im "Lexikon der Wehrmacht", als Hinweis auf ein KZ-Außenlager der Nazis, oder eben in alten Fotos und Ansichtskarten. Theaterfreunde, bitte verändert Europa!

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