Kunst provoziert
Das mediale Aufsehen der vergangenen Woche um das in Brüssel präsentierte Kunstwerk des Tschechen David Černý könnte auch für die verschiedenen Eindrücke im schnellen Wandel der Zeiten stehen: hier sind immer noch Hammer und Sichel die Symbolik. Eine hämische Replik auf das sich so bewußt modernisierend gebende Estland? (nicht weniger ironisch kommt der südliche Nachbar Lettland scheinbar besser weg, indem der Länderumriss als bloßes Gebirgsrelief dargestellt wird). Eine "Humorprobe", schreibt das ART-MAGAZIN zurecht.
Auch andere Schlagzeilen dieser Woche spiegeln Themen des schnellen gesellschaftlichem Umbruchs. Was es doch ausmacht, wenn eigentlich bereits seit Jahren bekannte Fakten mal im Internet an bevorzugter Stelle neu gepostet werden, zeigt die Untersuchung von David Stuckler und Lawrence P. King von den Universitäten Yale und Cambridge. Die Studie wurde bereits 2007 veröffentlicht, erschien im "Social Science Research Network" im Januar 2008. Aber erst jetzt, als das Thema der Studie - "soziale Kosten der Massenprivatisierung" - in Zeiten der weltweiten Finanzkrise ausschlachtbar erscheint, greifen die Medien zu: Spiegel online, der österreichische Rundfunk ORF, der Bayrische Rundfunk, die WELT - um nur einige zu nennen. Auffällig: alle genau mit demselben Veröffentlichungsdatum, dem 15.Januar 2009. Alle genannten Beiträge berufen sich auf das englischsprachige Online-Fachblatt "The Lancenet", und siehe da: hier steht es tatsächlich mit dem gleichen Datum (15.1.09) als Veröffentlichung verzeichnet. Dazu eine weitere Veröffentlichung der Universität Oxford: oh Wunder, ebenfalls gleiches Datum!
Schnelle Arbeit
Arbeiten Journalisten wirklich so schnell? Innerhalb weniger Stunden aus dem "Netz" gefischt, überarbeitet, recherchiert und Quellen geprüft, eventuell die Studie möglichst noch in Langfassung gelesen und auf wissenschaftliche Qualität getestet?
Kein Wunder, die zentralen Aussagen sind hervorragend zu illustrieren. "Massenprivatisierung löst Sterbewelle aus" - so noch die harmlosesten Schlagzeilen. Die schlimmeren: "Marktwirtschaft brachte Männern den Tod" (angeblicher Grund: massiver Alkoholkonsum - so z.B. der Bayrische Rundfunk). In der im Intenet zugänglichen Zusammenfassung der Studie steht aber nur, dass die Untersuchung die Sterblichkeitsraten auf eine nationale Ebene hochgerechnet und als sozialer Indikator verwendet haben. In den Presseveröffentlichungen werden teilweise die Länder Russland, Estland, Lettland, Litauen und Kasachstan über einen Kamm geschoren, und dazu noch die drei Jahre 1991 bis 94 zusammengefasst (Spon).
Spätestens an dieser Stelle müssten doch eigentlich denjenigen, die sich einigermaßen mit den baltischen Staaten auskennen, die Ohren klingeln (oder die Augen beim Lesen brennen?). Fakt ist wohl, dass erstens ja die baltischen Staaten einen völlig anderen Weg gingen als Russland oder Kasachstan, dass aber 1994 die Erfolge der radikalen Hinwendung zur Marktwirtschaft ja gerade erst losgingen. Nicht umsonst verwenden Studien zur Wirtschaftsentwicklung gern 1994 als Referenzjahr - die neoliberalen Optimisten lassen die Zahlen davor einfach gerne völlig weg. Schlußfolgerung: eigentlich ist 1991 bis 1994 in den baltischen Staaten der Umbruch zu beobachten, die Schwierigkeit, sich von Mangel- und Mißwirtschaft wieder zu erholen, und Staatsbetriebe nicht nur zur Privatisierung freizugeben, sondern entweder lieber ganz zu schließen (wenn sie absolut unwirtschaftlich arbeiten), oder daraus zukunftfähige, effektive und moderne Betriebe zu machen. Dies alles war 1994 erst im Umbruch, aber noch längst nicht geschafft. Die eigenen Währungen wurden in dieser Zeit erst gerade wieder eingeführt, die stabilisierenden Wirkungen griffen aber erst nach einiger Zeit. Wer 1994 mit seiner Untersuchung einfach aufhört, der macht denselben Fehler wie die Wirtschaftsoptimisten, die von der Zeit vor 1994 nichts mehr wissen wollen.
Sind Sie auch betroffen?
Was lernen wir daraus, wenn wir noch nicht am Alkohol-Saufen gestorben sind? (Alkoholismus IST ein Problem, das mal ganz nebenbei bemerkt). Aber plötzliche Schlagzeilen mit überraschend drastischen Inhalten garantieren noch keine Seriosität. Etwas variiert wird das Thema tatsächlich von der englischen BBC. Der dortige Beitrag - zum gleichen Thema, vom selben Tag natürlich - differenziert überraschend die baltischen Staaten, und zählt Estland in eine Gruppe zusammen mit Albanien, Azerbaidschan, Turkmenistan, Polen, Belarus, Kroatien, Ungarn, Macedonien, Slowakei, Slowenien, Tajikistan, Bulgarien und Uzbekistan: denjenigen, die es angeblich besser gemacht haben. Also, vergleichen Sie selbst: in diesen Ländern müsste dann also auch weniger Alkohol getrunken werden, oder?
Im BBC-Beitrag ist dann plötzlich auch von einem Untersuchungszeitraum zwischen 1989 und 2002 die Rede, allerdings weitgehend bezogen auf Russland. Sollte dieses stimmen, dann wäre aber stark zu bezweifeln, dass hier wirklich "Privatisierung" untersucht worden ist - oder wer wollte etwa behaupten, Russland sei heute marktwirtschaftlich umgestaltet?
Interessant ist hier das interaktive Element von BBC-online: in einem Fragebogen an die Leser kann der Beitrag kommentiert werden. "Leben Sie selbst in einem früher kommunistisch geprägten Land?" fragt die BBC die vorbeizappenden Leser. "Dann schreiben Sie uns Ihre Kommentare. Waren Sie oder Ihre Familie betroffen vom Zusammenbruch der Sowjetunion oder schneller Firmen-Privatisierung?"
Also, nur zu, liebe Sowjet-Romantiker und Stammtisch-Wissenschaftler, hier ist die Chance, vom Alkohol loszukommen!
Nachtrag:
Es gibt auch Beiträge, die sich mit den Studien von David Stuckler auch unabhängig vom 15.Januar 2009 beschäftigt haben.
Beispiele: der Beitrag bei Homosoziologicus vom August 2008 (Dort werden auch Zweifel an den Ergebnissen der Studie erwähnt: "wurde von den Autoren die Tatsache ausser Acht gelassen, dass die Implementierung von Krediten mit ökonomisch schwierigen Zeiten zusammenfiel und diese selbst der Grund für den Rückgang der Ausgaben gewesen sein könnten"), oder
Pressetext Austria vom Februar 2008, welche eine andere Studie von Stuckler vorstellt ("Bankenkrisen gefährden die Gesundheit"). Wichtige Schlußfolgerung, die sicherlich allgemeine Gültigkeit hat - auch für das nachträgliche Instrumentalisieren von wissenschaftlichen Studien: "Verhindern von Hysterie und Panik!"
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