Seit einiger Zeit wird in der estnischen Presse berichtet, wer wohl für welche Partei bei den kommenden Wahlen zum Europaparlament kandidieren wird.
Gegenwärtig sind unter den sechs Abgeordneten in der Heimat ziemlich bekannte Politiker wie der frühere Ministerpräsident Andres Tarand und die frühere Ministerin Katrin Saks von den Sozialdemokraten, die frühere Sozialministerin der Zentrumspartei Siiri Oviir, der vormalige Parlamentspräsident Toomas Savi und der Dissident Tunne Kelam, welcher zu den Mitgründern der estnischen Unabhängigkeitspartei gehörte. Von diesen haben jüngst Andres Tarand und Toomas Savi ihren Rückzug aus der Politik angekündigt.
Im kommenden Jahr werden auf dem Wahlzettel wohl wieder vergleichbar bekannte Namen stehen. Als erster erklärte der Chef der Zentrumspartei, Edgar Savisaar, er werde kandidieren. Savisaar war von 1990 bis 1992 Ministerpräsident der Volksfrontregierung und führte das Land in die Unabhängigkeit. Sein Politikstil machte ihn unter Politikerkollegen jedoch unbeliebt, weshalb er noch vor der ersten Parlamentswahl abgelöst wurde und es seither nur zwei Mal wieder auf die Regierungsbank geschafft hat. Dabei war der erste Erfolg nur von kurzer Dauer und ging unter dem Namen Lindiskandaal (Aufzeichnungsskandal) in die jüngere estnische Geschichte ein. Savisaar hatte heimlich seine Gespräche während der Koalitionsverhandlungen mitgeschnitten.
Savisaar ist seither in der Heimat gleichermaßen gehaßt wie geliebt, seine Partei erzielt regelmäßig gute Wahlergebnisse, nur will eben von den anderen Parteien – wenn es denn rechnerisch eben geht – keine mit ihm zusammenarbeiten. Aber Savisaars Partei wird insbesondere von der nicht estnischen Bevölkerung gewählt, weshalb er derzeit, und nicht zum ersten Mal, wenigstens in der Hauptstadt Tallinn auftrumpfen kann – er ist Bürgermeister.
Angesichts dieses Zugpferdes bei der Zentrumspartei lassen sich auch die Spitzenvertreter der Konkurrenz nicht lumpen. So planen die Sozialdemokraten bereits auch, ihren Vorsitzenden zu portieren. Ivari Padar ist derzeit Finanzminister in einer Koalitionsregierung mit der Vaterlandunion / Res Publica und der Reformpartei. Die Regierung führt deren Parteichef Andrus Ansip, der nach dem letzten Urnengang 2007 die Koalition mit Edgar Savisaar trotz rechnerischer Möglichkeit durch den Dreierbund ablöste. Auch wird angeblich von seiner Partei gedrängt anzutreten.
Aber warum dieser Aktionismus für eine Wahl zu einem Organ, das bekanntlich eher wenig politischen Einfluß hat?
Nun steht es außer Frage, daß Ansip in seiner politischen Karriere im Inland kein einflußreicheres Amt mehr erreichen kann. Angesichts der verbreiteten Kurzlebigkeit von Regierungen in Estland – Mart Laars zweite Regierung von 1999-2002 hält einstweilen den Rekord – ist es nicht unwahrscheinlich, das jedwede innenpolitische Krise oder irgendein Skandal auch vor den nächsten Wahlen seinen Sturz herbeiführen könnte.
Edgar Savisaar wiederum steht zwar als Bürgermeister im Rampenlicht der Medien, langweilt sich aber sicher auf diesem doch eher einflußlosen Posten, den er entgegen vorherigen Versprechungen von Jüri Ratas übernehmen konnte, weil 2005 seine Partei in der Kommunalwahl gut abgeschnitten hatte. Damals war ihm der Posten weniger wichtig, weil er gerade wenige hundert Meter vom Rathaus entfernt auf dem Domberg als Wirtschaftsminister einen offensichtlich interessanteren Job hatte – eben bis zur Aufkündigung der politischen Ehe mit Ansip 2007. Bürgermeister war Savisaar vorher schon einmal gewesen, hatte das Amt aber durch ein Koalitionsrevirement wieder verloren.
Ivari Padar wiederum hat eine Partei im Rücken, die zu klein ist, um ihm nach der Übernahme verschiedener Ministerien in verschiedenen Koalitionen weitere Perspektiven zu eröffnen.
Da in Brüssel und Straßburg dank der Schwierigkeiten rund um den Lissaboner Vertrag und den Diskussionen innerhalb der Union über die Reaktion auf die Krise im Kaukasus diesen Sommer einige gleichermaßen interessante wie schwierige Dossiers zu verhandeln sind, reizt die erwähnten Herren die Aufgabe vielleicht tasächlich.
Über Ansips Kandidatur gibt es allerdings einstweilen nur Spekulationen. Er selbst hat eine Absicht negiert und darauf verwiesen, daß ein amtierender Regierungschef nicht für das Europaparlament oder bei Kommunalwahlen kandidieren könne. Die öffentliche Spekulation freilich begründet sich durch das kategorische Nein des Gründers der Reformpartei, früheren Notenbankchefs und Ministerpräsidenten Siim Kallas, der zur Zeit EU-Kommissar in Brüssel ist.
Es ist jedoch zu bezweifeln, daß einer der genannten Politiker tatsächlich im Falle einer erfolgreichen Wahl nach Brüssel übersiedeln würde. Edgars Savisaar erklärte bereits öffentlich, eine solche Zusage könne einstweilen kein Politiker geben, weil bis zur Wahl noch viel Wasser ins Meer fließe. Er selbst sei außerdem verliebt in Tallinn, wo es noch viel zu tun gebe.
Kern dieser Fragen ist, daß die vergangenen Europawahlen in den baltischen Staaten von den Wählern als Protestwahl genutzt wurden und jene Parteien, die damals an der Regierung waren, abgestraft wurden und auch kleine Parteien Erfolge verbuchen konnten. So kommt es, daß gerade die Reformpartei keinen zugkräftigen Kandidaten hat, der bereits im Europäischen Parlament säße.
Die erst 2007 neu in das nationale Parlament eingezogenen Grünen wollen mit allen ihren Spitzenpolitikern kandidieren. Die Volksunion will sich erst nach ihrem nächsten Parteikongreß entscheiden. Sie hat die Korruptionaaffäre rund um ihren früheren Chef Villu Reiljan zu verkraften.
Da nur sechs Mandate zu vergeben sind, ist die Konkurrenz eng. Es geht für alle Parteien darum, wenigstens ein Mandat zu erringen, für die größeren wäre natürlich nur der Gewinn von zwei Vertretern ein Erfolg.
Hallo Herr Reetz,
AntwortenLöschennicht zu vergessen sind auch die parteilosen Kandidaten, wie z.B. Dimitrij Klenskij (ja genau der Klenskij, der der Organisation der Unruhen waehrend der Bronzenen Naechte beschuldigt wird). Natuerlich hat er nicht die finanzielle Mittel um einen grossangelegten Wahlkampf zu organisieren, aber es handelt sich um die erste Wahl seit den Bronzenen Naechten, mal sehen wie der russisch-staemmige Elektorat reagieren wird. Natuerlich darf man in diesem Zusammenhang diese Initiative (Uebersetzung hier) nicht vergessen, die Unterschriften fuer den Petitionsausschuss des Europaparlaments sammelt mit dem Ziel den staatenlosen Buergern Estlands Wahlrecht fuer die Europawahlen zu gewaehren. Momentane Situation ist so, dass saemtliche russland-staemmigen Minderheiten Europas (geschaetzt 6 Mio) von nur einem Mitglied des Europaparlaments (der lettischen Abgeordneten Tatjana Zhdanoka) vertreten werden. Ausserdem muss beruecksichtigt werden, dass bei der Zuteilung der Parlamentplaetze fuer Estland von der Zahl der Gesamtbevoelkerung ausgegangen wurde und nicht von der Zahl der wahlberechtigten Bevoelkerung, was an sich schon ein Skandaelchen ist.
Was wollen Sie nun damit sagen, Kloty? Urmas Paet hat jungst wieder angeregt, die Einburgerung zu erweitern. Warum wollen so viele Russen die Burgerschaft gar nicht?
AntwortenLöschenSeit einiger Zeit überlege ich, ob man nicht eine Liste der Pros und Kontras einer Staatsbürgerschaft für die Staatenlosen machen sollte. Wie steht es dann mit der Wehrpflicht? Muss ein Endzwanziger noch eingezogen werden. Fragen über Fragen. Jede Menge juristischer Fallstricke.
AntwortenLöschenOft wird ja gesagt, es sei gar nicht bekannt, wieviele Einwohner Estlands eigentlich die russische Staatsbürgerschaft schon haben (denn das wissen nur die russischen Behörden). Meldung der russischen Nachrichtenagentur RIAN vom 31.10.08: in Estland haben 3.700 Menschen allein in diesem Jahr die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Laut RIAN ist diese Zahl damit doppelt so hoch wie dienigen, welche 2008 die estnische Staatsbürgerschaft erhalten haben (RIAN: 1608). Zusammengerechnet gäbe es 110.000 Menschen mit russischem Pass in Estland, demgegenüber nur noch 112.000 Unentschiedene (die bisher weder sich um die russische oder um die estnische Staatsbürgerschaft bemüht haben).
AntwortenLöschenWas ist also das Problem? Wenn denn der russische Pass so beliebt ist: bitte sehr! Aber jedem wird klar sein: einen einfachen Erlass aller Verpflichtungen für diejenigen, die sich wirklich für Estland interessieren, wir es nicht geben!
Ich wundere mich, ob in einer Umfrage schon genau diese Frage jemals gestellt wurde: Warum wollen die russisch-stämmigen Einwohner die estnische Staatsbürgerschaft nicht? Aus den Antworten könnte man dann die weitere Vorgehensweise ableiten.
AntwortenLöschenSollte es auch nicht geben, sonst wurde ebnis eine verbrecherischen Politik nachtraglich legalisiert. Ob nun staatenlos oder russischer Burger hatte in der Vergangenheit bei vielen wohl auch etwas mit praktischen Fragen zu tun, Formalitaten der Grenzuberschreitung mit Destination West oder Ost, Wehrdienst etc. Pikant ist diese Frage durch die Argumentation Russlands im Kaukasus geworden, wo angeblich die Staatsbruger Russlands geschutzt werden sollten!
AntwortenLöschenWas mich aber stort ist, dass dank des erstens Kommentars hier eine Diskussion angestossen wird, die mit dem Referenzpost nicht viel zu tun hat.
Zur Initiative von Urmas Paet, es ist nicht die erste, es wird auch nicht die letzte sein. Sämtliche Initiativen dieser Art sind am Widerstand der national-gesinnten im Parlament gescheitert. Von Initiative zur Gesetzesänderung ist ein langer Weg.
AntwortenLöschenEs ist übrigens eine riesige Illusion, dass Tatjana Zhdanoka 6 Millionen russisch-stämmige Bürger vertreten würde! Was Lettland angeht, so sind nicht nur die Letten von ihr genervt.
AntwortenLöschenUnd diese Illusionen - nämlich die Gleichsetzung nerviger Funktionäre und selbsternannter Lautsprecher mit allen Russisch-Stämmigen - verursacht immer wieder die irrige Annahme, Millionen Menschen würden irgendwelche Rechte verweigert.
Was aber die Europawahlen angeht - um zum Thema zurückzukommen - so müssen Wege gefunden werden, wie aktive Menschen und aktive Initiativen gefördert werden (ich meine hier nicht die Ausschüttung von in Brüssel ausgedachten Geldern zu vorher festgelegten Kritierien). Den eines ist ja klar: nur zur Wahl gehen, und sich dann wieder aufs Sofa setzen, reicht auch nicht!
Nun, es ist auf jeden Fall Verdienst von Zhdanoka, dass die staatenlosen Bürger Estlands und Lettlands kein Visum für Reisen innerhalb der EU benoetigen.
AntwortenLöschenAnsonsten muss ich Albatros Recht geben. Angeblich können die von Brüssel bereitgestellten Gelder gar nicht abgerufen werden, weil es an entsprechenden Initiativen fehlt oder die Formulare gar nicht oder nicht korrekt ausgefühlt werden. Da sollte man auf jeden Fall ansetzen.
Stichwort "lieber reisen nach Europa":
AntwortenLöschengenau, das ist eine der oft gehörten Antworten auf die (ja längst gemachten) Umfragen unter denen, die sich für den Staat Estland nicht interessieren: "ich brauche kein Estnisch, ich will nach Europa. Russisch und Englisch reichen mir." (wäre ja ok, wenn man nicht zufällig in diesem Estland längerfristig lebt - und das freiwillig!)
Über Zdanoka sollten wir lieber im Lettland-Blog diskutieren. Nur zur Einordnung: sie war ähnlich wie der ehemalige Rigaer Bürgermeister Rubiks bis in die letzten Tage der Sowjetunion deren aktiver Anhänger und Apparatschik, daher darf sie auch nach lettischem Wahlrecht in Lettland nicht mehr kandidieren.
Ich habe noch nie erlebt, dass sie für die Interessen Lettlands eingetreten ist. Und so jemand will vermitteln zwischen den Interessen? Werden da solche Figuren nicht eher von "wohlmeinenden" Euro-Fraktionskollegen - denen das Verständnis für estnische oder lettische Perspektiven zu mühsam ist, oder nicht in die Worthülsen der eigenen Parteisprache passt - vor einen ganz anderen Karren gespannt?
Ich mochte noch einmal betonen, dass ich diese Stelle fur die falsche halte fur solche Diskussionen. Meine Beitrag beschaftigte sich nicht mit dem EU-Parlament und seiner Reprasentanz, sondern mit der Strategie der estnischen Parteien!
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