Das Erscheinen der deutschen Piratenpartei auf der politischen Bildfläche hat offenbar manche festgefahrene Strukturen durcheinandergebracht. Wer wie Ex-Szenen-Ikone und Berlin-Bärchen Wowereit noch hoch zu Ross verkündet: "Parlamentarismus muss man lernen!" (bei Markus Lanz, 31.5.12) aber selbst Riesenpleiten wie beim Berliner Flughafenneubau hinlegt, der darf sich wohl über Popularitätsverlust nicht wundern.
Noch mehr beunruhigt sind aber diejenigen, die sich gern als politisches "Zünglein an der Waage" sähen, wenn denn endlich die Regierung Merkel ernsthaft ins Wanken gerät (oder Neuwahlen anstehen). "Linke" wie "Grüne" sehen es teilweise ähnlich wie Wowereits öffentliche Äußerungen klingen - und andererseits versucht man doch mit Argumenten nachzurüsten. Und da auch bei der einst streng staatssozialistischen Linken inzwischen nicht nur das personelle Chaos eingetreten ist (weder Oskar noch Sarah wollen die Einheitspartei führen), manche gar Schlimmeres befürchten (DDR-Anwalt Gysi befürchtet die Spaltung -siehe FOCUS), versuchen andere die von den Piraten aufgeworfenen Themen zu bearbeiten und selbst für sich zu nutzen.
NRW-Oberpirat Joachim Paul argumentierte selbst sogar noch während der "Elefantenrunde" der NRW-Spitzenkandidaten schon mit einem "Modell Tallinn", dass dort auch erst in der Planung ist (gemeint ist der fahrscheinlose Zugang zu Bus und Straßenbahn). Andere denken sich aber offenbar: na, wenn die (Piraten) trotzdem gewählt werden, versuche ich mal auf derselben Welle zu surfen.
So argumentiert neuerdings die Fraktion "Die Linke" im hessischen Landtag mit dem Vorbild Estland. Ihr dort in dieser Woche eingebrachter Antrag formuliert es so: "Ein freies WLAN für alle, das einen schnellen Internetzugang jederzeit und an jedem Ort ermöglicht, stellt einen wichtigen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge dar." Und weiter, als Begründung dafür: "Beispielsweise in Estland haben Einwohnerinnen und Einwohner einen gesetzlich garantierten Anspruch auf kostenlosen Zugang ins Internet. Im ganzen Land sind dort fast 2.000 Drahtlos-Zugangspunkte und 700 öffentliche Terminals installiert. Die Folge sind hervorragende Ansiedlungsbedingungen für Unternehmen – nicht nur der Informations- und Kommunikationselektronik. Im Vergleich dazu ist Deutschland, ist Hessen ein Entwicklungsland." (siehe auch: ausführliche Begründung)
Bahnbrechende Erkenntnisse! Ob sich die Vertreter der LINKEN denn schon bei der estnischen Regierung für diese vorausschauende Politik bedankt haben? Oder den Nutzen für die Bevölkerung Estlands im Vergleich zu den trost- und perspektivlosen Sowjetzeiten gelobt haben?
Vielleicht mag man sich mit weiteren Wlan-Fans verbünden. Buchautor Markus Albers schrieb schon 2008 in seinem Blog von "Tallinn, der modernsten Stadt der Welt." Soweit möchten wir heute noch nicht gehen - aber schon geht die Diskussion einen Schritt weiter. Die hessischen GRÜNEN schalten sich per Presseerklärung in die Diskussion ein (siehe auch: Hessen-Tageblatt) und möchten sich gerne als die besseren "Estland-Versteher" gewürdigt sehen. Nicht das Wlan sei umsonst, sondern nur der Internet-Zugang, wollen die Hessengrünen wissen.
Also, Estland-Urlauber, aufgepasst: wenn sie demnächst gemütlich in einem Café in der Tallinner Altstadt sitzen, und neben ihnen wird ein Laptop aufgeklappt, bitte nicht wundern wenn diese Wlan-Probierer dann vielleicht vermehrt auch die roten Flaggen oder die Sonnenblume tragen. Sowas nennt sich dann "berufliche Weiterbildung", jahreszeitlich angepaßt.
Sehr schön geschrieben, gefällt mir +1.
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