In der estnischen Hauptstadt Tallinn wird plötzlich über Aspekte des Wahlsystems bei der Kommunalwahl diskutiert. Es geht um die Frage, ob die gesamte Stadt inskünftig ein einzelner Wahlkreis sein soll.
Zur Zeit gibt es in Tallinn acht Wahlkreise: Kesklinn (das Zentrum), Haabersti, Kristiine, Mustamäe, Nõmme, Põhja-Tallinn (Nordstadt), Pirita und Lasnamäe. Das entspricht der Verwaltungsstruktur der Stadt. Gewählt wird mit Vorzugsstimme für Parteilisten. Die Mandatsverteilung erfolgt nach der d’Hondt Methode.
Exkurs Vorzugsstimme: Der Wähler trägt in dem vorgesehen Feld auf dem Stimmzettel die Nummer des von ihm bevorzugten Kandidaten ein und stimmt damit automatisch für die Liste der Partei, welche diesen Kandidaten aufgestellt hat. Der Wähler entscheidet sich also für eine Partei, auf deren Liste er einen konkreten Kandidaten bevorzugen kann. Das führt zu einer Änderung der Reihenfolge der Kandidaten auf der entsprechenden Liste durch den Wahlvorgang.
Exkurs d’Hondt: Bei diesem Verfahren der Mandatsverteilung, deutsch auch Höchszahlverfahren genannt, wird die für die einzelnen Parteien abgegebe Stimmenzahl der Reihe nach durch 1, 2, 3, 4 usw. geteilt. Auf diese Weise entsteht eine einfache Tabelle aus den Quotienten dieser Divisionen. Anschließend werden die zu vergebenen Mandate der Reihe nach an die jeweils nächst höchste Zahl verteilt. Der belgische Jurist Victor d’Hondt hatte dieses System im 19. Jahrhundert, im Zeitalter vor Computer und Taschenrechner entwickelt, um komplizierte und langwierige Rechnungen zu vermeiden.
Im Tallinner Stadrat gibt es 63 Abgeordnete. Bei den Kommunalwahlen 2005 errang die Zentrumspartei von Edgar Savisaar 32 Sitze und damit die denkbar knappste mögliche absolute Mehrheit. Jüri Ratas wurde Bürgermeister.
Exkurs Edgar Savisaar: Dieser Mann ist das enfent terrible der estnischen Politik, über ihn scheiden sich die Geister, er wird entweder verehrt oder gehaßt. Savisaar erfand in der Gorbatschow-Zeit zusammen mit dem späteren Nationalbankpräsidenten, Gründer der liberalen Reformpartei des heutigen Regierungschefs, zwischenzeitlichen Ministerpräsidenten und derzeitigen EU-Kommissar, Siim Kallas, die Idee des selbstwirtschaftenden Estlands (Isemajandav Eesti), dessen Abkürzung IME als Wort gelesen Wunder bedeutet. Savisaar regte die Gründung der Volksfront an, wurde 1990 deren Ministerpräsident und mußte dann doch 1992 zurücktreten. 1995 schaffte er als Juniorpartner und Innenminister im Kabinett seines Volksfrontnachfolgers, Tiit Vähi, erneut den Weg auf die Regierungsbank. Allerdings nur für Monate, denn er hatte heimlich seine Gespräche der Koalitionsverhandlungen augezeichnet. Der Lindiskandaal zwang ihn zum Rücktritt. 2005 wurde er Wirtschaftsminister unter Ansip, als dieser Res Publica die Partnerschaft kündigte und war demzufolge zum Zeitpunkt des Wahlerfolges 2005 am Bürgermeistersessel nicht interessiert.
Nun sind Bürgermeister normalerweise nicht die einflußreichsten politischen Positionen, die zu vergeben sind. Im kleinen Estland jedoch gibt es unter der nationalen Ebene keine politischen Spielplätze. Gewählte Landräte in den 15 immer noch nicht reformierten Kreisen wurden schon vor Jahren abgeschafft. So sind die Stadträte von Tallinn und Tartu die einzigen vorhandenen Nebenkriegsschauplätze, auch wenn in ihrer Politisiertheit manche andere Kommune dem nicht nachsteht.
Die Frage nach dem Zuschnitt der Wahlkreise ist aus mathematischen Gründen wichtig. Das d’Hondt System sollte einfach sein. Aber es begünstigt auch die Erfolgreicheren. Das heißt, die großen Parteien erhalten bei dieser Methode der Mandatvergabe etwas mehr Sitze, als nach einer reinen Prozentrechnung. Und dieser Effekt kummuliert sich in mehreren Wahlkreisen. Folglich hätte die Zentrumspartei, gäbe es in Tallinn nur einen Wahlkreis, zwei Mandate weniger errungen – und die absolute Mehrheit knapp verpaßt. 2002 etwa erhielt die Vaterlandsunion trotz 6,8% Wahlerfolges überhaupt keine Vertretung im Stadtparlament.
Das Ergebnis eines solchen Ergebnisses wäre vermutlich, daß der Politisierung Tür und Tor geöffnet würde, wie es in vorherigen Wahlperioden auch war. Edgar Savisaar war bereits einmal von 2001 bis 2004 Bürgermeister, bis er durch eine Eingung anderer Parteien gegen ihn gestürzt wurde. Was auf der nationalen Ebene seit 1992 geschah, daß nämlich angesichts von Mißtrauensvoten und Koalitionswechseln noch keine Regierung eine ganze Legislaturperiode regieren konnte, gilt für die Stadt verstärkt, wo im selben Zeitraum mehr Bürgermeister ein- und abgesetzt worden sind.
Es überrascht also wenig, daß Savisaar im März 2007 seinen letzten Faustpfand nutzte. Als sich nach den Parlamentswahlen Ministerpräsident Andrus Antsip trotz des Sieges seiner Koalition mit der Zentrumspartei andere Partner suchte, setzte sich Savisaar entgegen vorherigen Versprechungen doch selbst auf den Chefposten in der Unterstadt, nur wenige hundert Meter vom Domberg entfernt.
Die Frage der Wahlkreiseinteilung in Tallinn ist also nicht unbedeutend, denn vor der bevorstehenden Europawahl streiten sich jüngst die Parteien auch darüber, ob die Listen hier starr oder lose gebunden sein sollen. Ein Umdenken in beiden Punkten würde sofort die Frage nach der nationalen Ebene aufwerfen, wo ebenfalls Vorzugstimmen und d’Hondt zur Anwendung kommen.
Der Leiter der Wahlabteilung in der Staatskanzlei, Mihkel Pilving, hält diese Gedanken für Spekulationen, schließlich würden Parteien und Wähler sich bei einem anderen System anders verhalten. Eine zweifelhafte Stellungnahme. Welcher Wähler beschäftigt sich schon im Detail mit dem Auszählungsverfahren?