Montag, März 12, 2007

Vor der Wahl - nach der Wahl

Wahlvorhersagen gleichen manchmal dem Lesen im Kaffeesatz. Aber auch das Interpretieren von Wahlergebnissen ist offensichtlich nicht so einfach. Zumindest fallen einige Beiträge und Kommentare zu den Ergebnissen der estnischen Parlamentswahlen sehr unterschiedlich aus.

Noch ist kein Koalitionspapier unterzeichnet. Mit einem Zugewinn von 12 Sitzen auf nunmehr 31 Abgeordnete sehen aber die meisten Medien die Reformpartei von Ministerpräsident Andrus Ansip auch als Wahlsieger. Einige Medienberichte stellen dabei auch die Unterschiede zu den Wahlprognosen heraus, nach denen der Zentrumspartei von Edgar Savisaar klar die meisten Stimmen vorhergesagt worden waren (Postimees /TNS-Emor, zitiert in Baltic Times).

Große Unterschiede hingegen in einigen Schlagzeilen: "Beispielhaftes Estland" titelt die FAZ am 6.März, und meint damit konsequent umgesetzte marktwirtschaftliche Grundsätze. Das "Esten bestätigen Kurs der Regierung" der Aargauer Zeitung ist da schon weniger deutlich, denn bisher bildeten ja Reformpartei und Zentrumspartei gemeinsam die Regierung. Das "Koalition nach Parlamentswahl in Führung" der Berliner Umschau liegt da in einer ähnlichen Richtung. Spiegel online macht es mit "Regierungschef Ansip gewinnt Parlamentswahl" etwas persönlicher. "Ministerpräsident im Amt bestätigt", so resümiert die Tagesschau. Ähnliches konstatiert auch "Baltic Times", und listet dabei die Liste der Kandidaten mit den meisten persönlichen Stimmen auf. Laut Wahlkommission führt hier Ansip mit 22.540 Stimmen vor Savisaar mit 18.003 Stimmen. Danach folgt die Bürgermeisterin von Tartu Laine Jänes mit 9303 und Ex-Regierungschef Mart Laar mit 9237. (nachzulesen HIER)

Auch unter Vorschützen angeblicher "russischer Interessen" wird berichtet - auch wenn sich manches davon "Estland- Berichterstattung" nennt. Im Vordergrund liegt dabei lediglich der "Denkmalstreit" um den "bronzenen Soldaten", dessen geplante Verlegung von einigen Medien auch schlicht mit "Abriß" und mit einem angeblichen Vorgehen der estnischen Regierung gegen alle russischen Kriegsdenkmäler gleichgesetzt wird. In diesem Lager wurde offensichtlich ganz auf einen Sieg der Zentrumspartei und auf eine Zuspitzung dieser heiß diskutierten Frage des Wahlkampfs gesetzt. "Denkmalgegner liegen in Führung" trauert denn auch "Russland-Aktuell" und interpretiert, dass nun "Kräfte" in Estland sich durchsetzen würden, die "sich für eine Beseitigung sowjetischer Kriegsdenkmäler" einsetzen würden (womit ja immerhin schon einmal klargestellt wäre, dass es sich um sowjetische Denkmäler handelt). Die staatliche russische Nachrichtenagentur Novosti hat da wohl schon etwas im Sinne von "der Kampf geht weiter" im Sinn, wenn geschlußfolgert wird: "Wahlen in Estland zeigen Spaltung der Gesellschaft auf". Als einzige Quelle wird hier Konstantin Kossatschow, Chef des Auswärtigen Ausschusses in der russischen Staatsduma, mit seinem Bedauern zitiert, dass "Parteien, die die russischsprachige Bevölkerung Estlands vertreten, den Einzug ins Parlament verfehlt" hätten. Worin dann aber die angebliche "Spaltung" bestehen soll, wird an dieser Stelle nicht verraten.
In einer weiteren NOVOSTI- Meldung - bezeichnenderweise "aus dem postsowjetischen Raum" - klingt das schon anders: „Wir haben es nicht geschafft, uns die Unterstützung der Regionen zu sichern, die traditionell für die russischsprachigen Kandidaten stimmen, wir hatten nicht genug Kraft, um denjenigen wirklich zu helfen, die diese Hilfe brauchten, weshalb die Menschen unserer Partei auch nicht glauben wollten.“ So wird Andrej Sarenkow, Chef der Verfassungspartei in Estland, zitiert.

Einen "Rechtsruck in Estland" meint die ausgewiesen sozialistische "Junge Welt" erkannt zu haben. Was nur wird es die vergangenen 16 Jahre wohl gewesen sein, wenn erst jetzt angeblich derartiges festzustellen ist? Bei der "Jungen Welt" finden sich auch Sätze wie dieser: "Nur 61 Prozent aller Esten nahmen überhaupt an dem Urnengang teil." Kein Wort davon, dass die Wahlbeteiligung in Estland von 55 auf 61% anstieg. Manche solcher Berichte scheinen, den Informationsgehalt betreffend, eher direkt aus staatlichen russischen Quellen übersetzt als auf eigenen Recherchen (oder gar Estlandkenntnis!) beruhend. So wird man eine Partei "Republik", wie sie "Russland Aktuell" identifiziert zu haben meint, doch auf estnischen Wahllisten vergeblich suchen müssen (gemeint ist wohl die gemeinsame Liste von "Res Publika" und "Pro Patria").
Und eine ganz besondere Rechnung macht am 12.3. erneut Novosti auf: "Estland: Mehrheit der Bürger gegen Abriss sowjetischer Denkmäler." Zitiert wird eine Umfrage von "Faktum & Ariko", der zufolge 44% der insgesamt 500 Befragten die Meinung geäussert haben sollen, der "Bronzesoldat" solle auf seinem Platz bleiben. Unter den befragten russischsprachigen Einwohnern sollen es 77% gewesen sein - doch das macht noch keine Mehrheit. Vielleicht gelten für Novosti "Russischsprachige" doppelt?

Den weitaus größten Teil der Berichterstattung in den Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde von der erstmals angebotenen Möglichkeit der "Wahl per Internet" ausgelöst. Mehrere Medien des Nachbarlands Lettland veranlaßte das bei den eigenen Behörden nachzufragen. Diese sagten angeblich die Umsetzung einer ähnlichen Möglichkeit bereits bis zu den nächsten Europawahlen in Lettland zu (LETA, TVNET).

Fakten zur Parlamentswahl in Estland 2007
- gewählte Abgeordnete
- Stimmverteilung pro Kandidat/in
- Ergebnisse einzelner Wahlkreise
- vorläufige Mandatsverteilung

Berichte zur Parlamentswahl in Estland:
- Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)
- Österreichischer Rundfunk (ORF)
- Baltic Times (+ Kommentar)
- Spiegel online
- Tagesschau / SWR
- Die Welt
- Berliner Umschau
- N-TV
- EuroNews
- Aargauer Zeitung
- Kurier
- Wiener Zeitung
- Junge Welt
- Net-Tribune
- Russland-Aktuell
- Novosti
- NRA (Lettisch)
- LETA (Lettisch)

Vorwahlberichte:
- Die Welt
- Wirtschaftswoche
- LifeDate
- Deutsche Welle
- Baltic Times
- e-Governmentplattform
- LifeDate ("Internet-Voting macht Estland 'sexy'")
- Gulli.com
- Focus
- businessportal24
- Heise-Online
- Computerhilfen.de
- Future Zone
- CIO.de
- inside-it.ch
- Der Standard
- Computerwoche
- DIENA (lettisch)
- Cafe Babel

1 Kommentar:

  1. Sehr nette (und bestimmt sehr aufwendige) Zusammenfasssung der estnischen Wahlen. Wie es aussieht, trifft tatsaechlich die Vorhersage ein, dass es eine 4-er Koalition bestehend aus der Reformpartei, der Res publica, den Sozialdemokraten und den Gruenen geben wird, also ein Gebilde, das saemtlichen politologischen Theorien widerspricht, nach denen die Zahl der Koalitionsparteien so klein wie moeglich sein muss, um eine handlungsfaehige Regierung bilden zu koennen (siehe Deutschland). In Estland wird sogar eine Partei extra mit ins Koalitionsboot genommen, obwohl gar keine Notwendigkeit dafuer da ist. Bin mal gespannt, wer Aussenminister werden wird. Nach den normalen Gepfogenheiten sollte es ja der Parteivorsitzende der zweitstaerksten Koalitionspartei werden, also Mart Laar. Da wird sich das russische Aussenministerium sehr freuen.

    AntwortenLöschen