Der Umsatz im estnischen Einzelhandel belief sich im Juni auf 915 Millionen Euro, so meldet es das estnische Statistikamt. Das bedeutet einen Rückgang um 1%. Was zunächst marginal aussieht, wird beim näheren Blick deutlicher: wenn nur Kraftstoffe und Lebensmittel getrennt gerechnet werden, war der Rückgang stärker (2%), was Analytikerin Johanna Linda Pihlak auf die besonders in diesen Bereichen gestiegenen Preise zurückführt. Beim Verkauf von Secon-Hand-Waren gab es dagegen ein Umsatzplus von 19%, im Gegensatz dazu wies der Bereich Haushaltswaren und Haushaltsgeräte einen Rückgang von 7% auf.
Die Inflationsrate, so weisen es ebenfalls Daten des Statistikamtes aus, stieg im Juni gegenüber Mai 2022 um 2,7%, aber um ganze 21,9% im Vergleich zum Juni des Vorjahres. Dabei stiegen die Preise für Strom um ganze 129,6%, für Heizung um 62,7%, für Gas um 228,3%, für Festbrennstoffe um 77,3% (aufs Jahr gerechnet, siehe stat.ee). Bei Lebensmitteln gab es den höchsten (durchschnittlichen) Preisanstieg bei Kartoffeln (111,5%), dann folgten Eier (61.9%), Frischfisch (57.6%), Mehl und Getreide (54.8%) und Gewürzen (53.4%).Ist Estland eigentlich "baltisch"? Die estnische Sprache ist ja dem Finnischen ähnlich (finno-ugrisch), und das sogenannte "Baltikum" ist sowieso ein Behelfsbegriff ohne Grundlage. Noch viel zu wenig ist in Deutschland bekannt über Kultur und Geschichte, über Politik und Gesellschaft in Estland. Die jungen Europäer in Deutschland und Estland werden die Zukunft prägen! Wir rufen auf zur Diskussion.
Freitag, Juli 29, 2022
Preissteigerungen machen sich bemerkbar
Sonntag, Juli 24, 2022
Erst Karriere, dann Partei
Die zweite Regierungskabinett Kaja Kallas, jetzt mit der Vaterlandspartei (Isamaa) und den Sozialdemokraten (SDE). Es ist eine Übergangsregierung, denn bereits für März 2023 sind Parlamentswahlen turnusgemäß angesetzt.
Mindestens in einem Punkt wirkt die Regierungsbildung in Estland ungewöhnlich: es werden Ministerinnen und Minister ernannt, die erst nach ihrer Ernennung auch derjenigen Partei beitreten, die sie für diesen Posten nominiert haben.So zum Beispiel Madis Kallas, der jetzt estnischer Umweltminister ist. Er werde überlegen, jetzt auch den Sozialdemokraten beizutreten, die ihn für das Amt nominiert haben, heißt es in der Presse (err). Müssen in Estland so dicke Brocken vor die Nase des Esels hingehängt werden, bevor jemand einer Partei beitritt? Kallas - offenbar kein Verwandter der Ministerpräsidentin - hat Sport studiert und errang als Zehnkämpfer im Jahr 2006 den 17.Platz bei den Europameisterschaften in Göteborg. Madis Kallas ist geboren in Kuresaare, war auch schon Bürgermeister auf Saaremaa und Muhu, und hatte eigentlich oft schon betont, keiner Partei beitreten zu wollen. Nun klingt es so: "Ich möchte beweisen, dass Estland nicht nur aus Tallinn besteht", meint er. Das klingt eigentlich nach einem Minister für Regionalentwicklung. Ob er also richtig im Amt ist, zumal vielleicht nur für ein paar Monate? Ein "Wahlkampfminister", damit die SDE auch auf Saaremaa noch gewählt wird?
Kallas trat 2020 auf Saaremaa von seinen Ämtern zurück, weil er als Leiter des Krisenstabs sich in der Verantwortung sah für die Vielzahl von Corona-Erkrankungen auf der Insel - aber 2021 trat er doch wieder an und wurde erneut gewählt.
Es gibt ja gleich mehrere aktuell zur Diskussion stehenden Umweltthemen. Da ist einerseits der estnischen Drang zum übermäßigen Wälderabholzen (siehe "Robin Wood", "DIE ZEIT", "Berliner Zeitung". ). Dann soll, angesichts des Boykotts von russischem Gas, nun auch Ölschiefer zur Wärmegewinnung genutzt werden (die umweltschädliche Gewinnung von Ölschiefer gilt als eine der größten Umweltsünden des Landes). Da gilt nun Schieferöl plötzlich als "Reservebrennstoff" (ERR). Und es gibt die Idee, doch vielleicht auch in Estland ein Atomkraftwerk zu bauen (ERR) - wo nun doch scheinbar schon die EU Atomkraft für "grün" erklärt? Ob der neue Umweltminister dazu eine Meinung hat?
In Politiker-Sprech übersetzt klingt das so (Zitat Isamaa-Chef Helir Valdor Seeder): "Zwei starke Persönlichkeiten haben sich Isamaa angeschlossen, um bei der Umsetzung des Parteiprogramms zu helfen und dringend benötigtes frisches Blut in die estnische Politik zu bringen." (ERR) Klingt nach dem Drang von Konservativen, unbedingt modern sein zu wollen.
Lea Danilson-Järg allerdings ist keine Neueinsteigerin, sondern arbeitete bereits seit vielen Jahren in verschiedenen estnischen Instutionen: als Beraterin des Rektors der Estnischen Akademie für Sicherheitswissenschaften, beim Parlaments-Informationssystem in der estnischen Nationalbibliothek, sie war beteiligt an Untersuchungen zur Geburtenentwicklung in Estland, sie leitete die Abteilung für Bevölkerungs- und Familienpolitik im Innenministerium und sie gab bei der Zeitung "Postimees" eine Serie zur Bevölkerungspolitik heraus. Sie hätte also auch Familienministerin werden können. - Vor diesem thematischen Hintergrund sind vielleicht auch die Begründungen zum Parteieintritt zu verstehen: "Isamaa steht seit jeher für Familien mit Kindern und eine national nachhaltige Familienpolitik" (ERR), so die neue Ministerin, die zwischen 1998 und 2004 auch schon mal Mitglied der "Moderaten" (Rahvaerakond Mõõdukad) war. Diese ging später in den Sozialdemokraten auf (und sie hat der jetzigen Ministerin wohl nicht rechtzeitig ein Amt angeboten). "Ich glaube, das Ministeramt wird eine sehr interessante Ergänzung meiner bisherigen Karriere sein", antwortet die neue Amtsinhaberin auf die Frage eines Journalisten (ERR) Auch auf die Frage, welche Weltanschauung sie vertrete, hat die Ministerin eine sehr "kreative" Antwort: "Da ich ein Isamaa-Minister bin, macht es Sinn, dass ich eine konservative Weltanschauung habe."
Eine ungewöhnliche Regierungsbildung also, in schwierigen Zeiten. Es ist zu vermuten, dass bis zum nächsten Wahltermin im Frühjahr 2023 sowieso vor allem zwei Themen auf der Regierungsagende stehen: der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger in Estland.
Sonntag, Juli 10, 2022
Estnischer Sommer 2022 - mit oder ohne Touristen?
Die estnische Tourismuswerbung versucht die Deutschen zu erinnern: Brot, Natur, Adelsspuren, estnische Sprache und ... - alles schöner als Berlin! |
"Im Baltikum bleiben die Urlauber weg" - so diagnostiziert es Markus Nowak für den MDR, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt auf Litauen. Evely Baum-Helmis von der estnischen Tourismusagentur "Visit Estonia" versucht es zumindest nicht negativ auszudrücken, wenn es hier heißt, man könne derzeit nicht sagen, wo "die Auswirkungen der Erholung von der Pandemie enden und wo die aktuellen Auswirkungen des Krieges beginnen."
Derweil heißt es in Estland, besonders der Inlandstourimus erreiche Rekordwachstum (err). 249.000 Touristen seien im Mai gezählt worden, 176% mehr als im Jahr zuvor (stat.ee). Allerdings läge das gegenwärtige Niveau immer noch 50% unter den Zahlen vor der Pandemie 2019, und im Mai 2021 sei die Gästezahl eben auch besonders niedrig gewesen.
Da wirken neueste Nachrichten aus der Hotelbranche sicher ermutigend, die von einer "Rückkehr der deutschen Touristen" berichten - viele Gruppen aus Deutschland, die nach Kriegsbeginn zunächst ihre Reise abgesagt hätten, kehrten nun langsam doch wieder nach Estland zurück. (err) Allerdings lohnt auch ein Blick auf die absoluten Zahlen: gegenwärtig ist von 922 Beherberungsbetrieben in Estland die Rede (err) - vorherige Statistiken wiesen noch über 1300 aus (entspr. 20.000 Gästezimmern / bisher 24.500, und 40.000 Betten / bisher 59.000 (stat.ee)
In der deutschsprachigen Presse macht Estland im Moment andere Schlagzeilen: "die Bedrohung ist real" (ZDF), "Frauen bereiten sich auf den Krieg vor" (heute.at), "keine Angst vor Eskalation" (ZDF), und zuletzt "überall werden Sirenen installiert" (Berliner Zeitung).
Andererseits gibt es Berichte wie in der ARD, dem zufolge in vielen anderen Ländern ein Urlaub sehr viel teurer geworden ist (tagesschau). Zwar heißt es dort "Abseits der Touristenzentren locken Schnäppchen" - doch letztendlich geht der Blick der allermeisten Deutschen doch wohl nur Richtung Südeuropa. "Da wir weniger Touristen hatten, mussten wir die Preise leicht anheben," sagt Ain Käpp, Chef einiger Hotels in Estland (err). "Auch die 50%ige Erhöhung bei den Fährtickets wirkt da nach. Viele Hotels müssen momentan erst mal die Verluste aus der Corona-Zeit wieder aufholen. Aber das Preisniveau ist immer noch niedriger als in Skandinavien oder dem übrigen Europa."
Samstag, Juli 02, 2022
Im Wald und bei den Pilzen: introvertiert allein
Ein guter Titel ist immer ein guter Grund, ein Buch zumindest mal zur Hand zu nehmen. So ist es vielleicht auch mit "Die Kunst, Pfifferlingen zuzuhören" des estnischen Schriftstellers Valdur Mikita - das allerdings bisher noch auf eine Übersetzung ins Deutsche wartet, ebenso wie "Lingvistiline mets” (Linguistischer Wald), ein anderer bekannter Titel des Autors. In einem Beitrag für das deutsche Goethe-Institut war auch schon seine These zu lesen, das Waldvolk der Esten verkomme im 21. Jahrhundert allmählich zu einem Sumpfvolk. - Mikita kommt vielleicht zu Gute, dass er auch schon als Dozent im Marketing gearbeitet hat. Um einprägsame Sprüche war Mikita noch nie verlegen: Du kannst den Esten aus der Wildnis nehmen, aber Du kannst nicht die Wildnis aus dem Esten nehmen (engl.= You can take the Estonian out of the wild, but you can't take the wild out of the Estonian).
Ein estnischer Blogautor fasst die Erzählweise von Mikita etwa so zusammen: "Warum sollte ein Este kein Buch mögen, in dem steht, wie besonders er ist! Ein introvertierter Schamane aus dem Norden, aufgewachsen mit dem Wald, fast eins mit den Tieren, schaut in den Himmel und stellt fest, wie das Wetter an Mittsommer im nächsten Jahr sein wird. Dann fährt er vom Wald nach Hause, mäht mit seiner Husqvarna das Gras im Hinterhof, schickt neben einem Baum sitzend einige E-Mails nach Brüssel und Singapur, püriert mit der Hand die Blaubeeren, die er aus dem Wald mitgebracht hat in einem Mixer, verwandelt den im Garten wachsenden Spinat zu einem schönen Smoothie und geht abends in die Rauchsauna. Ein echter Waldeste!"
Valdur Mikita stammt aus der Region bei Viljandi, genauer gesagt steht sein Haus am Flüsschen Õhne bei Suislepa, nahe des Võrtsjärv-Sees. Der kleine Ort ist stolz auf eine alte Apfelsorte, die hier mal gezüchtet wurde (siehe auch: "das Apfelrätsel"). Mikita ist studierter Biologe, mag also sicher einschätzen können, welche Naturwerte seine Heimatregion bietet.Mikita hat aber offenbar nicht nur Bewunderer. Ein Zeitungsbericht berichtete über illegale Baumfällarbeiten auf dem Familiengrundstück, inklusive katastrophaler Folgen für die Vogelbrut mitten im Juni - Mikita klagte gegen die Behauptung, er habe mit dem Vorgang etwas zu tun.
Sehr viel mehr Aufsehen erregte jetzt die Ausrufung eines "Reservats für Introvertierte" (Introvertide kaitseala) durch den Schriftsteller und Wortkünstler (RP-online / FR), entsprechend einem Buchtitel von Anneli Lamp. Mikita bietet auch Selbstanalyse an: "Haben Sie Ihren eigenen Ort zum Sammeln von Pilzen geheim gehalten oder kennen jemanden, der einen geheimhält? Oder haben Sie sich mit Leuten darüber gestritten, wie man Holz lagert? Kennen Sie eine Person namens Luule oder Elmar? Oder kennen Sie jemanden, der überhaupt nicht spricht? Wenn ja, sind Sie wahrscheinlich Este", sagte er.
Estland sei an vielen Orten inzwischen viel zu laut geworden, konstatiert Mikita - überall Musikfestivals, Sportwettbewerbe und Ähnliches. Bedingung für das neue "Reservat": Höchstteilnehmerzahl eine Person. Schon einige Jahre zuvor war Mikita beteiligt an einem Projekt zur Installation riesiger Holz-Magaphone mitten im estnischen Wald - um "im Buch der Natur zu stöbern", wie der Autor damals erläuterte (err)
Das erste "Event für eine Person", das nun durchgeführt wurde, war gleich mal die Präsentation von Mikita's neuestem Buch ("Mõtterändur"). Perfekte Selbstvermarktung - oder eine gute Methode, um die Gedanken der Estinnen und Esten von den gegenwärtigen Sorgen abzulenken? Vielleicht. Mit 22% ist die Inflation in Estland momentan eine der höchsten innerhalb der Euroopäischen Union (eer).