Mittwoch, November 10, 2010

Dallas - In der Sowjetrepublik Estland


Wieder gibt es einen Dokumentarfilm über Estlands jüngste Geschichte, im Schweizer Fernsehen lief er schon, auch in Deutschland vereinzelt, jetzt auch in den USA. Eigentlich schon seit fast zwei Jahren bekannt. Aber im Internet finden sich immer mehr Spuren, Rezensionen.

Worum geht es: Um die Installation von Antennen in Tallinn auf den Dächern der Stadt in den 70ern. Die, als einzige Großstadt in der Sowjetunion, finnisches Fernsehen empfangen konnte. Und dort lief in den 80ern Dallas, die Serie mit J.R. Ewing. Und das wurde sogar von Enthusiasten ins Estnische übersetzt. Alle weiteren Komplikationen hier im englischsprachigen Treiler:


Der estnische ist länger und besser:
Disko ja tuumasõda (2009)

Und die damaligen Behörden waren alamiert. Untersuchungen wurden angestellt.

Wie Sue Ellen und JR zu CIA-Agenten wurden: Dallas und das Discofieber erreichten den Ostblock im Kalten Krieg über die Sendemasten des finnischen Fernsehens.

Auf der anderen Seite des Baltischen Meeres wurden die Verheissungen des westlichen Lebensstils von estnischen Familien in der Küstenregion 1000-fach illegal empfangen und begierig konsumiert.

Die Neuigkeiten über einen Tanz namens Disco und Familiendramen in Dallas verbreiteten sich zunächst als Mund-zu-Mund-Propaganda und später per Videokassette in der ganzen Sowjetunion. Kein Eiserner Vorhang konnte sie aufhalten. Für die CIA war die sogenannte Soft Power der finnischen Fernsehsignale der direkteste Weg ins Bewusstsein der Sowjetbürger.


Fernsehen Schweiz

Und babylonberlin vom 6. Baltic Film Festival im Oktober:

Disko ja tuumasõda (Disco and Atomic War)
Estland 2009; R:Jaak Kilmi 80min
Der Dokumentarfilm Disco and Atomic War erzählt temporeich und amüsant die Geschichte eines absurden Informationskrieges. Zu Zeiten des Kalten Krieges war im sowjetischen Estland das finnische Fernsehen eine interessante Alternative zur offiziellen Unterhaltungs- und Informationspolitik. Während weite Teile des Warschauer Pakts sozusagen im Tal der Ahnungslosen lagen, konnte man in Tallinn die Fernsehwellen des Klassenfeindes empfangen. Bald richtete sich ein ganzer Antennenwald Richtung Helsinki: Sowjetische Unterhaltungs-Nomenklatura versus Popkultur und Dallas. Während Regisseur Kilmi als Achtjähriger wöchentlich Sue Ellen’s und JR’s neueste Episoden per Brief an seinen Cousin in Südestland verschickte, arbeiteten offizielle Stellen fieberhaft an der Erfindung eines Schutzwalls im Äther.


Film-Tipp von Epp Petrone.

Update
Bei Rooftop Films gibt es ein Interview mit dem Filmemacher Jaak Kilmi,
und der beschreibt, welch großen Einfluß westliche Produktionen auf ihn hatten.
Filmmaker Interview Disco and Atomic War

2 Kommentare:

  1. Ein ganz interessanter Beitrag. Nur verstehe ich, die die Besonderheit der Situation nicht so ganz. Im Prinzip ist das doch auch nichts anderes, als die Situation in Ostdeutschland mit dem Empfang des Westfernsehens. Nur das dass für die Ostdeutschen eben noch einfacher war. (vom sogenannen "Tal der Ahnungslosen" um Dresden und gewissen Gegenden in MV mal abgesehen). Und das die Ostdeutschen es von der Sprache natürlich wesentlich einfacher hatten. Im Film "Sonnenallee" gibt´s ne Szene wo gezeigt wird wo sächsische Berlin- Besucher aus dem Tal der Ahnungslosen andächtig ´ner Rudi-Carell Show im Fernsehen folgen. Auch die SED hat massiv versucht das zu unterbinden, hatte aber keine Chance. Interessant ist aber, dass für Ostdeutschland einige Sozialwissenschaftler die Auffassung vertreten, Ostdeutsche hätten da durch einen wesentlich realistischeren Blick auf den "Golden Westen" bekommen als Bürger in anderen Ostblockstaaten. Weil man im Westfernsehen eben nicht nur Show, Serien und Unterhaltung sondern auch ernsthafte Themen, wie soziale Probleme, die Entstehung der Grünen Partei, den Kampf um Nachrüstung in den 1980ern usw. beobachten konnte. Eben nicht nur Dallas.

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  2. Der realistischere Blick auf Westdeutschland, das ist vielleicht die größte Wirkung des Westfernsehens gewesen. Ob es viel zur "Friedlichen Revolution" (Wende) beigetragen hat, bin ich mir nicht. Denn große Teile des "Ostblocks" waren ohne diesen Medienzugang, und es kam zum gleichen Ergebnis.
    In Nordestland konnte man, soweit ich weiss, das ganze öffentliche finnische Fernsehen empfangen. Sie hatten dadurch ein gutes Hörverständnis für Finnisch.
    Karl Vaino sollte das Empfangen auf Moskauer Anweisung verhindern, aber irgendwie haben sie es nie gebacken gekriegt.

    In Movie Line ist zu lesen, dass aber selbst Vaino dem finnschen Fernsehen eine große Rolle beimisst.

    Halfway into the film’s 80 minutes and two decades into its story’s recursive telling, we know not much more than that the Estonian people want to watch television to learn about the world, and that their government will do anything to stop that from happening. That said, we know it very well: Kilmi details the techy ingenuity — his own father began secretly manufacturing adapters that would allow Estonian TVs to pick up Finnish programming — and vigorous black market economy that sprang up to support not a revolutionary spirit but simple human curiosity.

    Of course the two are not mutually exclusive, and over time the desire to keep up with television narratives and à la mode dance styles became more and more closely associated with the desire for freedom. In the only interview former Communist party leader Karl Vaino has given since his ousting in 1988, he draws a direct connection between Estonia’s liberation and the availability of Finnish TV, saying it “made people think,” and offered a direct contradiction to the portrait of corrupt, dehumanizing capitalism he and his party had worked so hard to paint.

    Movie Line

    Also die Logik sagt, dass dann in Tschechgien zum Beiüiel, Radio Free Europe eine entsprechende Rolle gespielt haben müsste. Und wie ist es mit dem Sonderfall der Berichterstattung aus dem Westen bei Senioren in der DDR, die auf Familienbesuch im Westen waren.(Bis zu vier Wochen im Jahr).

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