Samstag, Januar 27, 2007

Erinnerungskulturen VII Die Estlandschweden


Fast täglich finden sich jetzt russische Agenturberichte zum neuen Denkmalgesetz in Estland. Das Ganze verschärft durch die Debatte um ein weiteres Gesetzvorhaben in Tallinn, das auch die Benutzung von Nazi - und Sowjetsymbolen betrifft.
russland.RU:
"Nur das Engagement der gesunden Kräfte der estnischen Gesellschaft", so wird in der Erklärung unterstrichen, "kann das unwürdige Schauspiel um die Massengräber und das Mahnmal für die Befreier Tallinns von den deutschen Faschisten ein Ende bereiten."
... und weiter
Jedem vernünftig denkenden Menschen ist klar, dass der Krieg gegen Soldaten, die vor einem halben Jahrhundert ihr Leben für Eure Hauptstadt geopfert haben, der estnischen Gesellschaft keine Eintracht bringt", so der Appell.

Itar-Tass:
BRUSSELS, January 27 (Itar-Tass) -- The actions of the Estonian authorities around the monument to the Liberator Soldier have triggered strong protests of the European veterans of the Resistance Movement, Michel Vanderborgt, President of the International Federation of Members of the Resistance Movement (FIR), told Itar-Tass.
“When I heard about the resolution adopted by the Estonian parliament, I though it was just impossible,” he said. According to his information, FIR receives dozens of phone calls every day both from war veterans and from the ordinary people, who are indignant over the actions leading to the support for neo-fascism.

Darauf läuft es hinaus. Sollte das Monument der "Bronzene Soldat" aus dem Stadtkern Tallinns an eine andere Stelle, eventuell Friedhof verlegt werden, so erleben wir angeblich das Erstarken des "Neo-Faschismus".
Wer in einer politischen Debatte über "gesunde" Menschen redet oder schreibt, sollte sich an die eigene Nase fassen. Also weiter in der Reihe Erinnerungskulturen. Menschen, die vom Sowjetsystem nicht befreit wurden, sondern gleich als Minderheitengruppe ganz verwschwunden sind. Ausgelöscht als Kultur: die Estlandschweden. Ihr Fehler: sie lebten an der Küste. Und weil Hitler und Stalin sich Europa teilten, waren sie gleich an der Reihe. Denn die Sowjetunion verlangte Militärstützpunkte an Estlands Küste 1939/1940. Schlecht für die Fischer, denn Militärbasen sind Sperrgebiete. Also Entzug der Lebensgrundlagen. Sie wurden "evakuiert", aber ohne entsprechende Kompensation. 1940 hatten tausende Schweden Ausreiseanträge gestellt "aber nur 110 Einwohner von Rogö erhielten die Möglichkeit nach Schweden überzusiedeln." (Herbert Petersen, Die Estlandschweden und ihre Umsiedlung ins schwedische Mutterland während des Zweiten Weltkrieges). Beim deutschen Einmarsch im Sommer 1941 hielten sich Sowjetverbände besonders lange in der Küstenregion. Wer wurde dabei gleich miteingezogen von der Roten Armee? Natürlich die Estlandschweden. Und da man schon beim Aufräumen und sortieren war, wurden gleich wichtige Repräsentanten der Estlandschweden beseitigt, ermordet oder sonstwie "entfernt". Zum Beispiel der Chef des schwedischen Schulbüros im estnischen Kulturministerium oder der Volksgruppensekretär Nils Blees. Seit diesen Vorgängen waren die schwedischen Behörden westlich der Ostsee alamiert. Während der deutschen Besetzung wurden Pläne für die Umsiedlung erarbeitet. 1943 wurde deutlich, dass die Front zurückweichen würde und es zu einer Wiederbesetzung durch die Sowjetunion kommen könnte. Zum Teil chaotisch liefen die letzten Flüchtlingstransporte über die Ostsee in überfüllten Booten und Schiffen ab. Wissenschaftlich formuliert (H.Petersen): "Neben diesen "legalen" Transporten waren in den Jahren 1943 und 1944 etwa 2800 Estlandschweden in Schweden eingetroffen, die auf eigene Faust via Finnland oder direkt über die Ostsee mit eigenen, größeren oder kleineren Fischereibooten unter zuweilen sehr schwierigen und mißlich Verhältnissen geflohen waren".
Damit war die mehrhundertjährige Geschichte der "Küstenschweden" in Estland zu Ende.
Oben das Wappen von Noarootsi, aus Wikipedia.

2 Kommentare:

  1. Ich verstehe zwar nicht ganz was die Estlandschweden mit dem Bronzenen Sodaten zu tun haben, wenn jemand ihnen gedenken will, soll er ruhig auch ein Denkmal aufstellen. Soweit ich weiss, haben die Estlandschweden sogar eine Kulturautonomie in Estland, so ganz ausgelöscht sind sie also nicht.
    @knut: Die Esten draengen sich selbst in eine Ecke. Stell Dir mal vor in Deutschland gibt es eine Diskussion ueber den Abriss von dem Monument in Treptow-Park in Berlin. Da werden noch ganz andere Moralkeulen aufgefahren und zwar nicht nur von der russischen Seite. Und die russische Propaganda ist in diesem Fall selbst fuer die Russen in Estland schaedlich, denn wenn man schon anbietet das Denkmal nach Russland zu nehmen, warum im naechsten Schritt nicht anzubieten auch die Russen mitzunehmen, ohne sie gefragt zu haben?

    Ich weiss auch nicht von welchem Denkverbot Du eigentlich sprichst. Was wir hier haben ist ein sehr gefaehrliches Unterfangen der nationalistischen Parteien zusaetzliche Stimmen im Wahlkampf zu gewinnen. Leider hat Russland das nicht verstanden und hat mitgespielt.

    AntwortenLöschen
  2. Heute bin ich zum Augustaschacht gefahren. Jetzt ein Denkmal für die Opfer der Arbeitserziehungslager in Deutschland. Eher eine späterforschte Gruppe von Opfern dieser vor 1945 existierenden Lager in Deutschland. Weil meine Stadt nahe der niederländischen Grenze liegt, sind die meisten Umgekommenen, Hingerichteten, Niederländer, aber auch Ukrainer und Russen. Kinder waren auch darunter. Das hat lange gedauert bis WIR dieses Thema aufgreifen konnten. Estland war bis 1939 ein neutraler Staat. Das haben die Esten bitter bezahlt. Bereits als der Hitler-Stalin Pakt unterzeichnet wurde, hat einer der obersten Befehlshaber meinem Großvater dringend angeraten, SEIN Land zu verlassen. Bei Giustino (Weblog "Itching for Eestimaa") habe ich das den Verrat eines Staates an sich selber genannt. Laidoner empfiehlt einem seiner Reserveoffiziere (meinem Großvater) seine Heimat zu verraten und abzuhauen. Die Übriggebliebenen Offiziere sind im GULAG gelandet und die Höherrangigen wurden erschossen oder sind sonstwie verschwunden. Wer zu Hause blieb wurde im schlimmsten Fall Kollaborateur der dann folgenden deutschen Besetzung, und deswegen erlauben sich jetzt postsowjetische Medien ganz Estland als neofaschistisch zu bezeichen. Ich wünschte die verantwortlichen Esten hätten 1939 weniger Geheimniskrämerei betrieben. Die Finnen haben sich gewehrt. Und haben keinen Streit um diese Denkmäler heutzutage. Ob der Bronzene Soldat in Tallinn bleiben sollte oder nicht, ist eine andere Frage. Aber dass der Sieg über den Nationalsozialismus hier gleichgesetzt wird mit dem Befreiungsmythos, deswegen habe ich diese Reihe Erinnerungskulturen angefangen.

    AntwortenLöschen