Obwohl Estland seit 25 Jahren sowjetisch ist, haben die Esten in mancherlei Hinsicht eine bemerkenswerte Selbständigkeit bewahrt. Ein Beispiel: Von Reval aus wollten Fotoreporter Albert Houpertz, unser russischer Kollege Fedor Redlich und ich ins Land ausschwärmen, um Estland näher kennenzulernen. Visa hatte man uns in Moskau für Reval, Pernau (heute Pärnu) am Rigaer Meerbusen und Dorpat (Tartu) nahe dem Peipussee erteilt. Aber in diese Universitätsstadt Dorpat durften wir nicht: "Für alle Ausländer gesperrt!" lautete die stereotype Antwort des estnischen Regierungsbeamten auf dem Domberg.
"Aber wir haben doch in Moskau ein Visum bekommen", beharrten wir, und auch Fedor aus Moskau schüttelte unwillig den Kopf.
"Jaaa", sprach der Este breit und gewichtig, "was in Moskau gilt, gilt noch lange nicht in Reval."
aus - In Reval rollt der rote Rubel- Bunte Farbbericht 1965
Was sagt uns diese Szene 40 Jahre später? Es ist Tradition, die Sowjetunion zu verstehen (ebenso Russland). Diese Episode bedeutet: Alles halb so schlimm, auch wenn die Universitätsstadt keine ausländischen Gäste empfangen darf. Eigentlich gibt es sowas nur in Diktaturen, oder? Aber Deutsche haben Verständnis.
Heute im Jahr 2005 setzt sich das fort, die FAZ bringt eine Rezension über das Estlandbuch des deutschen Botschafters in Tallinn in den 90ern:
Und nun gibt es die opulenten Erinnerungen Henning von Wistinghausens, des ersten deutschen Botschafters in Estland, dessen Residenz auf dem Domberg in Tallinn (Reval) nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit des Landes zum Symbol der kulturellen und politischen Verbindungen zwischen Deutschland und Estland wurde. Wistinghausen steigt tief hinab in den Alltag dieser Verbindungen und der estnischen Politik - nicht nur in den diplomatischen Alltag, sondern durchaus dorthin, wo die Dinge beim Namen genannt werden. Er verteidigt die deutsche Baltikumpolitik, die nicht erst mit Gerhard Schröder große Vorsicht gegenüber Rußland walten ließ.
Warum stelle ich das gegenüber? Weil diese Haltung Konsequenzen hat und zwar eindeutig negative. Schlaff war die deutsche Unterstützung für die ukrainische Orangene Revolution. Wegen Putin, wegen Rücksichtnahme auf Russland. So haben wir keine Vorstellung über die Erleichterung in der Ukraine, wenn sie dort an die Tatsache denken, nicht mehr zu Russland zu gehören. Veronica in ihrem Weblog dazu:
Sunday, September 25, 2005
I can't write or think too clearly because of the cold, so I read a lot.
The book I'm reading now is about the wars of the early 1990s: Nagorny Karabakh, Chechnya; testimonies of soldiers who had to fight there, testimonies of civilians stuck there. These stories are interesting for the little details you rarely see in newspapers.
Stuff like this: a small group of Russian infantry men is retreating somewhere in Grozny, in 1995, and they stumble over the bodies of two Russian soldiers; they find and take the dead guys' documents and tear off the strings with their personal ID numbers: "The boys have no use for that anymore, but their families have to be notified. Otherwise, the government smartasses aren't going to pay pensions to them, explaining that the soldiers were missing in action or have even deserted." (From Vyacheslav Mironov's I've Been to This War.)
It hurts a lot to read it all, but it also reminds me of how to be very positive about Ukraine's post-1991 history: no matter what, we've been so very lucky.
Der russische Rekrut hat mehr verdient als eine laue Männerfreundschaft zwischen zwei Staatslenkern.
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